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POLITIK/450: Lebenshilfe im Bundestagswahlkampf (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2 - Juni 2009

Lebenshilfe im Bundestagswahlkampf


Am 27. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Die Lebenshilfe will vorher von den Politikerinnen und Politikern wissen, was sie nach der Wahl für Menschen mit geistiger Behinderung tun wollen. Mit den Wahlprüfsteinen auf dieser Seite können Sie bei den Bewerbern in Ihrem Wahlkreis nachfragen. Die Lebenshilfe-Zeitung wird diese Fragen den Parteien im Bundestag stellen und die Antworten in der nächsten Ausgabe veröffentlichen.


Seit dem 26. März 2009 ist die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen deutsches Recht. Selbstbestimmung und Teilhabe (Inklusion) am gesellschaftlichen Leben sind die herausragenden Ziele des Übereinkommens. Menschen mit Behinderungen sollen nicht länger in besonderen Einrichtungen beschult werden, wohnen und arbeiten müssen, sondern mitten unter uns leben und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Werden Sie sich dafür einsetzen, dass in der nächsten Legislaturperiode eine Enquete-Kommission oder ein nationaler Teilhabe-Rat berufen wird, die (der) den Auftrag erhält, Vorschläge zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) in allen Lebensbereichen behinderter Menschen zu erarbeiten?


Leichte Sprache

Die Vereinten Nationen beschreiben "Behinderung" nicht als individuelles Defizit eines Menschen, sondern als ein gesellschaftliches Hindernis, das auf "einstellungs- und umweltbedingten Barrieren" beruht. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Grundsatz der Barrierefreiheit den Inhalt der UN-Konvention dominiert.

Welche konkreten Vorschläge werden Sie unterbreiten, um dem Ziel einer möglichst barrierefrei gestalteten Gesellschaft näher zu kommen? Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um durchzusetzen, dass Menschen mit geistiger Behinderung im Lebensalltag, insbesondere im Umgang mit Behörden, Gerichten, Ärzten usw. in leichter Sprache kommunizieren können?


Eingliederungshilfe

Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen hat bisher dazu beitragen können, dass Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung verstärkt in das gesellschaftliche Leben integriert werden konnten. Doch die Eingliederungshilfe ist in der Sozialhilfe verankert und damit an den Nachweis der Bedürftigkeit geknüpft. Dies ist ein struktureller Nachteil, der die behinderten Menschen daran hindert, unter gleichwertigen Bedingungen Einkommen und Vermögen zu bilden.

Werden Sie sich dafür aussprechen, dass die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen unter Beachtung der Zielvorgaben der UN-Konvention reformiert wird? Wie wollen Sie gewährleisten, dass mit der Reform der Eingliederungshilfe die Weichen dafür gestellt werden, mittelfristig ein eigenes Teilhabegesetz für behinderte Menschen zu schaffen, das auf dem Grundprinzip des Nachteilsausgleichs gestützt und nicht mehr von der Bedürftigkeit eines behinderten Menschen abhängig gemacht wird? Wie wollen Sie sicherstellen, dass behinderte Menschen auch in Zeiten der Wirtschaftskrise den in Artikel 28 der UN-Konvention geforderten "angemessenen Lebensstandard für sich selbst und ihre Familie" erreichen können?


Wohnen und arbeiten

Die Bundesregierung arbeitet gemeinsam mit den Fachministerien der Bundesländer und den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe an Vorschlägen, wie behinderte Menschen selbst darüber entscheiden können, wo und mit wem sie wohnen und arbeiten möchten. Vollstationäre Einrichtungen sollen deshalb nach und nach durch ambulante Wohnformen ersetzt werden. Menschen mit geistiger Behinderung soll die Möglichkeit eröffnet werden, nicht nur in Werkstätten, sondern auch am allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt zu werden.

Welche Maßnahmen werden Sie vorschlagen, um zu erreichen, dass auch Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung in privaten Wohnungen, Wohngruppen und Wohngemeinschaften leben können und alle zur Deckung ihres Bedarfs erforderlichen Leistungen erhalten? Welche Vorschläge werden Sie unterbreiten, um sicherzustellen, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht in Isolation geraten, sondern aktiv am Gemeindeleben teilnehmen können? Unterstützen Sie die Forderung der Lebenshilfe, dass Arbeitgebern, die sich bereit erklären, Menschen mit geistiger Behinderung zu beschäftigen, Assistenzdienste zur Seite gestellt und Lohnkostenzuschüsse zum Ausgleich des behinderungsbedingten Mehraufwandes gezahlt werden?

Werden Sie dafür eintreten, dass die sozialversicherungsrechtliche Absicherung, die in Werkstätten etabliert worden ist, auch zum Tragen kommt, wenn ein behinderter Mensch aus der Werkstatt in eine Beschäftigung am freien Arbeitsmarkt überwechseln möchte?


Persönliches Budget

Die Praxis zeigt, dass das Persönliche Budget ein geeignetes Instrument ist, damit behinderte Menschen zwischen unterschiedlichen Angeboten beim Wohnen und Arbeiten wählen können. Allerdings benötigen dabei die meisten Menschen mit geistiger Behinderung Unterstützung (Budgetassistenz) - beim Verhandeln von Dienstleistungsverträgen zum Beispiel.

Werden Sie sich dafür einsetzen, dass dieser Mehraufwand bei der Berechnung eines Bedarf deckenden Persönlichen Budgets berücksichtigt und von den zuständigen Rehabilitationsträgern übernommen wird?


Pflegebedürftigkeit

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe begrüßt es, dass ein von der Bundesministerin für Gesundheit eingesetzter Beirat zur Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorgeschlagen hat, die Regelungen der sozialen Pflegeversicherung (Sozialgesetzbuch XI) so zu verändern, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die wegen Orientierungsproblemen häufig eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung benötigen, mehr als bisher von den Leistungen der Pflegeversicherung profitieren können. Sie warnt aber davor, Verbesserungen im Bereich der Pflege dazu zu nutzen, Leistungen der Eingliederungshilfe einzuschränken!

Auch Menschen mit schwerer geistiger oder mehrfacher Behinderung können sich auf Artikel 26 der Behindertenrechtskonvention berufen, der die Vertragsstaaten verpflichtet, "Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren".

Werden Sie den Vorschlag des Beirats unterstützen, den Pflegebedürftigkeitsbegriff so zu verändern, dass auch Menschen,die auf Hilfen bei der Orientierung und Kommunikation angewiesen sind, an den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung partizipieren können? Werden Sie sich in Anlehnung an den Grundsatz "Rehabilitation vor Pflege" dafür einsetzen, dass Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Pflegebedarf weiterhin einen Rechtsanspruch auf umfassende Teilhabe am Leben der Gesellschaft haben?


Gesundheit

Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung bereitet in der Praxis Probleme. Es gibt zu wenig Ärzte, die dafür fachlich qualifiziert und in der Lage sind, ihre Behandlung und Beratung so zu organisieren und auszurichten, dass sie Menschen, die auf Diagnose und Erklärungen in leichter Sprache angewiesen sind und Zeit benötigen, um eine Vertrauensbeziehung aufzubauen, angemessen versorgen können. Insbesondere fehlen die Kenntnisse zu spezifischen Krankheitsrisiken, -zeichen und -verläufen bei Menschen mit geistiger Behinderung.

Probleme bereitet zudem die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung in Krankenhäusern. Hier fehlt es an ausreichender Begleitung und Unterstützung durch geschultes Personal. Häufig müssen deshalb Angehörige oder hauptamtliche Mitarbeiter der Lebenshilfe einspringen. Dies ist unvereinbar mit Artikel 25 der Behindertenrechtskonvention, der die Vertragsstaaten verpflichtet, "das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung anzuerkennen".

Welche gesundheitspolitischen Forderungen werden Sie in den Bundestag einbringen, um eine Bedarf deckende medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung sicherzustellen?


Barbetrag

Viele Menschen mit geistiger Behinderung, die in Wohnheimen leben, müssen von ihrem Barbetrag (Taschengeld) neben Rezeptzuzahlungen auch nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, Brillen usw. bezahlen. Sie können sich deshalb häufig nur noch in sehr begrenztem Maß "Dinge des täglichen Lebens" leisten (Shampoo, Lippenstift, den Friseur- oder Kinobesuch).

Werden Sie sich dafür einsetzen, dass dieser Zustand, der mit der Achtung der Menschenwürde nicht zu vereinbaren ist, beseitigt wird?


Geschäftsfähigkeit

Die Verhandlungen der Behindertenrechtskonvention in New York haben gezeigt, dass im weltweiten Vergleich noch immer viele Menschen mit geistiger Behinderung und psychosozialen Problemen, aber auch blinde, gehörlose und taubblinde Menschen entmündigt, für geschäftsunfähig erklärt und teilweise ohne ihre persönliche Einwilligung medizinischen Versuchen ausgesetzt werden. Die Vereinten Nationen wollen dies nicht länger tolerieren und haben die Notbremse gezogen: In Artikel 12 BRK steht, dass jeder behinderte Mensch unabhängig von Ursache und Ausmaß seiner Behinderung in allen Lebensbereichen rechts- und handlungsfähig ist.

Deutschland verfügt aus internationaler Sicht über ein modernes Betreuungsgesetz, das behinderte Menschen nur in Ausnahmefällen in ihrer Geschäftsfähigkeit einschränkt. Doch seit mehr als 100 Jahren gilt die zivilrechtliche Regelung, dass Menschen, die ihren Willen nicht frei bestimmen können, geschäftsunfähig sind und keine rechtswirksamen Erklärungen abgeben können.

Werden Sie sich dafür aussprechen, dass auf der Grundlage von Modellen, die wissenschaftlich begleitet werden, neue Formen der Unterstützung betreuungsbedürftiger behinderter Menschen erprobt werden, die den Anforderungen des Artikel 12 BRK genügen und die Anordnung von rechtlicher Betreuung überflüssig machen?


Wirtschaftskrise

Die Zahl von Menschen mit geistiger Behinderung steigt an. Dies hat seine Ursache vor allem darin, dass durch die Ermordung von mehr als 100 000 Menschen mit geistiger Behinderung während der Herrschaft der Nationalsozialisten erst jetzt eine Generation von Menschen mit geistiger Behinderung heranwächst, die das Ruhestandsalter erreicht und auf altengerechte Hilfen angewiesen ist. Experten der öffentlichen und der freien Wohlfahrtspflege erwarten deshalb in den nächsten Jahren einen Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe. Zugleich hat die Wirtschaftskrise dazu geführt, dass die Steuereinnahmen der für die Finanzierung der Eingliederungshilfe verantwortlichen Städte und Gemeinden eingebrochen sind.

Welche Maßnahmen werden Sie der zukünftigen Bundesregierung empfehlen, um die Kommunen finanziell zu entlasten? Werden Sie sich dafür aussprechen, dass der Bund sich an den Kosten der Eingliederungshilfe beteiligt, beispielsweise in der Form eines Bundesteilhabegeldes?


Ethik in der Forschung

In den vergangenen Jahrzehnten ist in Deutschland sehr viel getan worden, um die Gräueltaten der Nationalsozialisten aufzuarbeiten. Gerade setzte sich die Bundesvereinigung Lebenshilfe mit Erfolg für die Verabschiedung eines Gendiagnostikgesetzes und für neue Regelungen bei Spätabtreibungen ein. Doch immer wieder werfen neue biomedizinische Erkenntnisse und Forschungsvorhaben einen Schatten auf das Lebensrecht von Menschen. Manche Wissenschaftler wollen Methoden entwickelt, mit denen die Geburt von Kindern mit Behinderung und schweren Krankheiten verhindert werden kann. Andere streben danach, "geschädigte" Embryonen zu Forschungszwecken selektieren und nutzen zu dürfen.

Welche Forderungen werden Sie erheben, um sicherzustellen, dass in Deutschland behindertes Leben umfassend geschützt wird? Wie wollen Sie verhindern, dass im Bereich der Biomedizin und der Humangenetik Verfahren zugelassen werden, die im Ergebnis darauf hinauslaufen, zwischen lebenswertem und -unwertem Leben zu unterscheiden, und dass medizinische Eingriffe ohne Einwilligung der betroffenen Menschen mit geistiger Behinderung im Drittinteresse vorgenommen werden dürfen (fremdnützige Eingriffe bzw. Forschung)?
lhz


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2/2009, 30. Jg., Juni 2009, S. 11
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Raiffeisenstr. 18, 35043 Marburg
Telefon: 06421/491-0, Fax: 06421/491-167
E-Mail: LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de
Internet: www.lebenshilfe.de

Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2009