Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

POLITIK/488: Parlamentarierabend 2010 (2. Teil) - Patientenorientierung (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 2/2010

PARLAMENTARIERABEND 2010 (2. Teil)
Patientenorientierung im Gesundheitswesen
Weiterentwicklung von Patientenrechten und Patientenberatung

Von Dr. Martin Danner


Neben behindertenpolitischen Themen wurde natürlich auch die aktuelle Gesundheitspolitik beim parlamentarischen Abend der BAG SELBSTHILFE intensiv diskutiert.
Die auch in der allgemeinen Öffentlichkeit geführte Grundsatzdebatte zur künftigen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung war selbstverständlich auch Gegenstand der Diskussionen beim diesjährigen Parlamentarierabend der BAG SELBSTHILFE.


Dr. Siiri Doka, Referentin für Gesundheitspolitik der BAG SELBSTHILFE stellte zu Beginn der Diskussion klar, dass die Gesetzliche Krankenversicherung auch künftig sämtliche Leistungen gewähren muss, die im Einzelfall medizinisch notwendig sind.

Nachdem in den letzten Jahren vor allem chronisch Kranke und Behinderte unter hohen Mehrkosten zu leiden hatten, sind weitere finanzielle Einschnitte - wie etwa durch Zusatzbeiträge und Mehrkostenregelungen - nicht mehr zumutbar. Die BAG SELBSTHILFE appelliert daher an die Politik, die bisherigen Belastungen sowie die Möglichkeit einer Erhebung von Zusatzbeiträgen zurückzunehmen und weiteren Mehrbelastungen für chronisch kranke und behinderte Menschen entgegenzutreten. Insbesondere der Ansatz, über die Zusatzbeiträge einen Krankenkassenwechsel der Versicherten eine Wettbewerbsorientierung des Gesundheitswesens zu erreichen, ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE verhängnisvoll: Gerade ältere und hilfebedürftige Menschen sind mit der hierzu erforderlichen Marktbeobachtung und Analyse der Versicherungsangebote in der Regel überfordert, chronisch kranke und behinderte Menschen bleiben bei einem derartigen "Gesundheitsmarkt" gänzlich auf der Strecke: Diese Menschen sind nämlich unter dem Regime zunehmender Einzelverträge zwischen Kassen und Leistungserbringern in der Regel gehindert, einfach zu einer Kasse mit einem geringeren Zusatzbeitrag zu wechseln. Mit einem solchen Kassenwechsel wird dann nämlich auch der aufzahlungsfreie Zugang zu den Leistungserbringern, mit denen nur die bisherige Kasse Einzelverträge geschlossen hat, verloren gehen.

Die BAG SELBSTHILFE fordert ferner zeitnah gesetzliche Regelungen zur Stärkung der Transparenz im Gesundheitssystem. Für Patientinnen und Patienten ist inzwischen das Gesundheitssystem kaum noch durchschaubar; dies gilt im besonderen Maße für den Arznei- und Hilfsmittelmarkt. Es wird daher gefordert, ein entsprechendes Portal für Patientinnen und Patienten zu schaffen, in welchem die Verträge zwischen Leistungserbringern und Kassen, Qualität, Kosten, Nutzen, Risiken von Leistungen transparent gemacht werden. Insbesondere Rabattverträge und Selektivverträge müssen dort im Einzelnen dargestellt und transparent gemacht werden.

Ein weiteres Schwerpunktthema der gesundheitspolitischen Diskussion waren die Gesetzesvorhaben der Bundesregierung zur Erarbeitung eines Patientenrechtegesetzes und zur Weiterentwicklung der unabhängigen Patientenberatung. Einig waren sich alle Diskutanten darin, dass ein Patientenrechtegesetz auf den Weg gebracht werden muss.

Auch die BAG SELBSTHILFE fordert, den Schutz der Patientinnen und Patienten durch eine Kodifizierung der Patientenrechte sicherzustellen. Für Patientinnen und Patienten ist nicht absehbar, wie der individuelle Sorgfaltsmaßstab des Arztes zu bestimmen ist, ob der Patient oder die Patientin einen Anspruch auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen hat und welche Verfahrenserleichterungen der Patient oder die Patientin im Prozess hat; hier fehlt es nach wie vor an Rechtsverbindlichkeit, welche für die Bürgerinnen und Bürger Rechtssicherheit schaffen würde. Aus diesem Grunde wird seitens der BAG SELBSTHILFE gefordert, hier durch entsprechende Kodifikation der Patientenrecht Abhilfe zu schaffen.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE sind die individuellen Patientenrechte umfassend zu kodifizieren. Besondere Bedeutung kommt dabei folgenden Punkten zu:

die ärztliche Pflicht zur Dokumentation der Behandlung bzw. Beweiserleichterung bei Dokumentationspflichtverträgen
das Recht des Patienten zur Akteneinsicht bzw. Zur-Verfügung-Stellung von Kopien gegen ein angemessenes Entgelt bei gleichzeitiger Versicherung der Vollständigkeit der Behandlungsunterlagen
Erleichterung in der Beweislast
Fristen für die Erstellung von Sachverständigengutachten

Ohne eine ausreichende Besetzung der Gerichte werden sich jedoch Ansprüche der Patientinnen und Patienten auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nicht in der gebotenen zügigen Weise durchsetzen lassen. Deshalb fordert die BAG SELBSTHILFE dazu auf, die Spezialisierung der Richter durch Einrichtung von entsprechenden Kammern zu fördern und diese ausreichend zu besetzen.

Auch die kollektiven Patientenrechte gilt es zu stärken: So haben die nach § 140 f maßgeblichen Patientenorganisationen seit dem Jahr 2004 ein Mitberatungsrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss, jedoch kein Recht zur Mitentscheidung. Das Beratungsrecht allein kann jedoch nicht gewährleisten, dass die im Gemeinsamen Bundesausschuss von Patientenvertretern vorgebrachten Positionen auch durchsetzbar sind. Im Rahmen des Mitberatungsrechts sind die Patientenvertreter vielmehr darauf angewiesen, dass die Kraft ihrer Argumente im Streit der Interessen ausreicht, um eine patientenorientierte Lösung bei den verschiedenen Sachfragen zu finden. Als einen weiteren Schritt zur Fortentwicklung der Patientenbeteiligung fordert die BAG SELBSTHILFE daher nunmehr zumindest die gesetzliche Festlegung eines Stimmrechts der maßgeblichen Patientenorganisationen in Verfahrensfragen.

Erheblicher Weiterentwicklungsbedarf im Bereich der kollektiven Patientenrechte besteht bei den Verfahren, in denen den maßgeblichen Patientenorganisationen bislang nur die Möglichkeit zur Abgabe schriftlicher Stellungnahmen eingeräumt wird. Dies betrifft insbesondere den Hilfsmittelbereich und die Patientenbeteiligung nach dem SGB IX. Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE müssen die in den verschiedensten Gesetzen festgeschriebenen Möglichkeiten der Verfahrensbeteiligung sukzessive zumindest in Mitberatungsrechte umgewandelt werden. Nur über ein echtes Mitberatungsrecht ist nämlich gewährleistet, dass die jeweiligen Entscheidungsgremien sich auch tatsächlich inhaltlich mit den Argumenten der Patientenorganisationen im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung auseinandersetzen. Die Stärkung der Patientenrechte von den Rechten auf Verfahrensbeteiligung hin zu den Rechten auf Beratungs- und Entscheidungsbeteiligung ist daher ein notwendiger Bestandteil einer größeren Patientenorientierung im Gesundheitswesen.

Zum Ausbau der unabhängigen Patientenberatung vertritt die BAG SELBSTHILFE die Auffassung, dass die Beratungsangebote der Selbsthilfe das Herzstück der unabhängigen Patientenberatung in Deutschland darstellen. Diese Angebote gilt es zu fördern und zu unterstützen.

Es konnte den anwesenden Parlamentariern verdeutlicht werden, dass eine Verbesserung der Beratungsmöglichkeiten nicht dadurch erreicht wird, dass eine Lotsenstruktur der unabhängigen Patientenberatung finanziert wird, die die Ratsuchenden dann doch nur an die Selbsthilfe verweist.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE sollte dann doch unmittelbar die Selbsthilfe verstärkt gefördert werden.


*


Quelle:
Selbsthilfe 2/2010, S. 14-15
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010