Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

POLITIK/506: Mit der Gesundheitsreform droht künftig eine Zwei-Klassen-Medizin (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4 - Dezember 2010

Mit der Gesundheitsreform droht künftig eine Zwei-Klassen-Medizin

Von Norbert Schumacher


Mit der Regierungsmehrheit von CDU/CSU und FDP hat der Deutsche Bundestag im November ein Gesetz beschlossen, das die Gesetzliche Krankenversicherung auf ein solides finanzielles Fundament stellen soll (GKV-Finanzierungsgesetz). Aus Sicht der Lebenshilfe sind die Neuerungen, insbesondere die Entkoppelung der Gesundheitsausgaben von den Arbeitskosten sowie die Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge zur künftig wichtigsten Finanzierungssäule nicht geeignet, die GKV langfristig als solidarische Gesundheitsversorgung abzusichern.


Lebenshilfe setzt sich für Erhalt des Solidarprinzips ein

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat sich bereits frühzeitig nach Bekanntwerden des Referentenentwurfs mit einer Stellungnahme an das Bundesministerium für Gesundheit gewandt. Nach Vorlage des Gesetzesentwurfs hat die Lebenshilfe gemeinsam mit anderen Verbänden ein Schreiben an den Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler gerichtet, in dem sie ihre großen Sorgen um den Erhalt einer guten Gesundheitsversorgung vorgetragen hat. Alle Menschen in Deutschland müssten weiter am medizinischen Fortschritt teilhaben können, so die Lebenshilfe-Forderung. In zahlreichen Gesprächen mit Politikerinnen und Politikern wurde deutlich, dass bei der aktuellen Gesundheitsreform politisches Lagerdenken über eine sachliche Diskussion gestellt wurde.

Die Ausrichtung auf einkommensunabhängige Zusatzbeiträge und das Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge widerspricht einem grundlegenden Element aller Sozialversicherungen, dass Arbeitnehmer (Versicherte) und Arbeitgeber je zur Hälfte die Beiträge zahlen. Die geplanten Regelungen schwächen das Solidarprinzip, da sie gut verdienende Menschen in die private Krankenversicherung drängen: Die Möglichkeit des Wechsels in die private Krankenversicherung bereits nach einmaligem Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze gibt das falsche Signal.


Regelungen zum Zusatzbeitrag sind der falsche Weg

Die Regelungen zum Zusatzbeitrag sind der falsche Weg. Sie gehen davon aus, dass Versicherte unproblematisch in eine andere Gesetzliche Krankenkasse mit einem geringeren Zusatzbeitrag oder ohne Zusatzbeitrag wechseln können. In Bezug auf Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung trifft dies nicht zu: Häufig ist ein Wechsel nicht ohne weiteres möglich und in der Regel auch nicht sinnvoll. Bei ihnen liegen überdurchschnittlich häufig komplexe Bedarfe vor, die bei einem Wechsel einen erheblichen Aufwand für die Krankenversicherung sowie die betroffenen behinderten und chronisch kranken Menschen bedeuten.

Behinderte Menschen, die auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen sind und Menschen, die mangels Arbeitsplatz Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten, müssen keinen Zusatzbeitrag entrichten. Dies ändert nichts daran, dass andere für diese Kosten aufkommen müssen und für alle am Sozialausgleich Teilnehmenden erhebliche Bürokratiekosten anfallen. Diese Gelder stehen nicht mehr für die Finanzierung der Gesundheitsausgaben zur Verfügung. Wenn künftig staatliche Stellen für Menschen ohne Einkünfte oder mit geringen Einkünften Zusatzbeiträge entrichten und ihre Aufwendungen aus dem Gesundheitsfonds erstattet erhalten, wird auch auf diese Weise die Solidarität der Versichertengemeinschaft geschwächt.

Das GKV-Finanzierungsgesetz sieht keine unmittelbaren Leistungseinschränkungen vor. Dennoch muss mit gehäuften Ablehnungen von Anträgen und Widersprüchen seitens der Krankenkassen gerechnet werden, um die eigenen Ausgaben zu begrenzen. Keine Krankenkasse möchte zu den ersten gehören, die hohe Zusatzbeiträge von ihren Versicherten fordern muss.


Kostenerstattung bedeutet massive Selbstbeteiligung

Eine weitere Aushöhlung des Solidarprinzips der Gesetzlichen Krankenversicherung stellt die Ausweitung der Möglichkeit der sogenannten Kostenerstattung dar. Grundsätzlich gilt in der GKV das sogenannte Sachleistungsprinzip. Bei der Kostenerstattung muss der Versicherte zunächst in Vorleistung treten, die ärztliche Behandlung oder das verordnete Medikament aus der eigenen Tasche vorfinanzieren. Anschließend kann ein Versicherter im Wege der Kostenerstattung von seiner Krankenkasse den Betrag erstattet erhalten, den die Krankenversicherung für die entsprechende Sach- oder Dienstleistung aufwenden müsste.

Zu beachten ist, dass im Rahmen einer Kostenerstattung niemals sämtliche Kosten erstattet werden. Versicherte bleiben somit immer auf eigenen Kosten sitzen, deren Höhe häufig nicht abschätzbar ist, wenn sie sich für die Vorkasse entscheiden. Damit steht fest, dass Menschen mit geistiger Behinderung in aller Regel von dieser Möglichkeit ausgeschlossen sind.


Gefahr der bevorzugten Behandlung besteht

Das Prinzip der Kostenerstattung ist für viele Ärzte und andere Leistungserbringer im Rahmen der Gesundheitsversorgung allerdings sehr attraktiv. Das birgt die Gefahr in sich, dass der Personenkreis, der die Kostenerstattung wählt, künftig bevorzugt behandelt wird. Zum Nachteil derjenigen, die sich das nicht leisten können und zu Patienten zweiter Klasse werden.


*


Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4/2010, 31. Jg., Dezember 2010, S. 14
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin
Telefon: 030/20 64 11-0, Fax: 030/20 64 11-204
E-Mail: LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de
Internet: www.lebenshilfe.de

Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2011