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PRESSEKONFERENZ/894: Diskussion mit Merkel am Lowy Institut für Internationale Politik, 17.11.2014 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Sydney - Montag, 17. November 2014
Diskussion mit Bundeskanzlerin Merkel am Lowy Institut für Internationale Politik



Direktor Fullilove: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank für diese wirklich reiche Vorlesung, in der Sie verschiedene Themen - von der Wirtschaft über das Klima bis zu den bilateralen Beziehungen zwischen Australien und Deutschland - angesprochen haben. Wir haben jetzt ungefähr 25 Minuten für Fragen. Ich beginne einmal mit der ersten und werde dann den Zuschauern die Möglichkeit geben, Ihnen eine Frage zu stellen.

Frau Bundeskanzlerin, meine bezieht sich auf das erste Thema, das Sie heute erwähnt haben. Als die Berliner Mauer fiel, war Wladimir Putin ein KGB-Agent in Dresden. Kein westlicher Führer kennt Herrn Putin besser als Sie. Wir haben heute Morgen gelesen, dass Sie bilaterale Gespräche in Brisbane mit Herrn Putin hatten. Meine Frage: Wie können wir Herrn Putin beeinflussen? In den letzten paar Monaten gab es ein starkes Sanktionsprogramm gegen Russland, und wie Sie wissen hat Russland eine endlose Kapazität, etwas zu ertragen, und wir sehen, dass die Sanktionen seine Popularität nur steigern. Was wäre die beste Zuckerbrot-und-Peitschen-Strategie in diesem Falle?

BK'in Merkel: Ich möchte aber Wert darauf legen, dass ich Herrn Putin nicht gekannt habe, als er in der DDR gearbeitet hat, sondern die Bekanntschaft erst aus der Zeit nach der deutschen Einheit herrührt.

Wir brauchen im 21. Jahrhundert für bestimmte politische Erfolge einen langen Atem. Wenn man die deutsche Teilung nach einem halben Jahr für endgültig erklärt hätte, dann wären wir nicht weit gekommen bei der Überwindung des Kalten Kriegs. Es gibt Dinge, die dauern eine ganze Weile und die erfordern auch sehr, sehr viel Glauben an die Richtigkeit des eigenen Weges. Ob er richtig war oder nicht, stellt sich in der Geschichte manchmal erst sehr viel später heraus.

Wir hatten jetzt dieses Gedenkjahr, und wir in Deutschland und ganz Europa haben uns eigentlich darauf konzentriert, Gedenkveranstaltungen durchzuführen und über die Vergangenheit zu sprechen. Und plötzlich sind wir mit einem Konflikt konfrontiert, der sozusagen in das Zentrum unserer Werte geht. Jetzt können wir nicht mehr Reden zu Gedenkstunden halten, sondern jetzt müssen wir irgendwie zeigen, was wir nun aus all dem gelernt haben. Da man aber die Zukunft nicht voraussehen kann, ist es nicht einfach, den richtigen Weg zu finden.

Wir wissen aus der Geschichte, dass man nicht zu friedfertig sein darf, dass man Worte schon ernst nehmen sollte und genau hinhören sollte. Wir wissen auf der anderen Seite, dass regionale Konflikte sich sehr schnell zu einem Flächenbrand ausweiten können. Wir haben aus diesem Grunde die Schlussfolgerung gezogen: Militärisch ist dieser Konflikt nicht zu lösen. Das würde in eine militärische Auseinandersetzung mit Russland führen, die mit Sicherheit keine lokale wäre. Auf der anderen Seite kann man nicht sagen: Weil wir das militärisch nicht lösen können, können wir es überhaupt nicht lösen.

Was haben wir jetzt für Mittel? Wir haben die Frage unserer ökonomischen Kraft, und wir sind jetzt aufgefordert, auch eigene Nachteile durch die Sanktionen in Kauf zu nehmen. Ich glaube aber, die Wirtschaftskraft ist schon eine Stärke der westlichen Staaten, und deshalb sollten wir sie an dieser Stelle einsetzen - aber nicht als Selbstzweck.

Jetzt ist die Frage: Wie lange muss man warten? Da denke ich an meine persönliche Erfahrung aus der Geschichte der DDR: Wie viele hatten schon aufgegeben? Es gab Radiosender, die haben 40 Jahre lang erklärt, dass die DDR nicht Bestand haben wird, aber am Ende haben selbst die es fast schon aufgegeben, daran zu glauben, dass die DDR noch zusammenfällt. Und als eigentlich fast keiner mehr daran geglaubt hat, da ist es passiert. Ein paar haben immer dazugehalten. Wenn Sie sich heute einmal die Zitate anschauen, wer im Jahre 1990 was über den Bestand der deutschen Einheit oder den Bestand der Mauer und die Zukunft der deutschen Einheit gesagt hat, dann sehen Sie: Da gab es Richtiges und da gab es Falsches.

Deshalb darf man sich nicht beirren lassen. Wenn die Popularität einmal kurzfristig steigt, dann steigt sie eben. Wenn wir nicht daran glauben, dass unsere Werte so viel wert sind, dass sie sie sich irgendwann durchsetzen, dann brauchen wir auch unsere Sonntagsreden nicht mehr zu halten. Deshalb habe ich da ein ganz sicheres Gefühl, dass das von der Grundrichtung stimmt und dass die größte Gefahr ist, dass wir uns auseinanderdividieren lassen - in Europa oder auch in der Welt. Deshalb ist es die ganze Zeit über sehr, sehr wichtig gewesen, dass Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika einen gleichen Weg gegangen sind. Das ist nicht immer einfach. 28 Staaten in Europa sind oft viel langsamer darin, Entscheidungen zu fällen, als ein amerikanischer Präsident oder ein amerikanischer Kongress das sind. Der amerikanische Präsident Barack Obama hat immer darauf gesetzt, dass wir das gemeinsam tun müssen. Das halte ich für absolut richtig. Diesen Weg müssen wir fortsetzen.

Direktor Fullilove: Noch eine weitere Frage zu diesem Thema: Wie reagieren Sie auf die Kritik des Westens oder der westlichen Politik, die sagen, dass der Westen Putin geschaffen hat, indem Sie sich nach Osten, in die russische Einflusssphäre, erweitert haben?

BK'in Merkel: Das ist jetzt die Frage: Gibt es nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa die Möglichkeit, dass die Menschen eines Landes selbst für sich bestimmen können, was sie wollen? Wenn die Mehrheit der Menschen in der Ukraine sich entschieden hätte, dass sie gerne der eurasischen Wirtschaftsunion mit Russland, Kasachstan und Weißrussland beitreten möchten, dann hätte in ganz Westeuropa kein Mensch auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass wir deshalb an der polnisch-ukrainischen Grenze mit denen irgendeinen Krach anfangen, sondern wir hätten gesagt: "Bitte schön, wenn das euer Wunsch ist, macht es." Wenn sich umgekehrt die Menschen in der Ukraine entschieden haben, dass sie mehrheitlich gerne ein Assoziierungsabkommen mit der EU machen wollen, dann stand die Frage im Raum, ob wir ihnen sagen sollten: "Nein, passt mal auf, das dürft ihr nicht - da kriegen wir alle Ärger, und weil wir den Ärger kriegen, müssen wir stillhalten."

Jetzt will ich ganz deutlich sagen: Ich habe mich im Jahre 2008 bei einem Nato-Gipfel in Bukarest gegen nahezu alle Nato-Mitgliedstaaten dagegen ausgesprochen - nicht ich alleine, sondern die deutsche Bundesregierung, aber ich war Bundeskanzlerin -, dass die Ukraine einen Membership Action Plan bekommt, also einen Schritt auf die Nato-Mitgliedstaaten zumacht, weil ich damals gesagt habe - und das würde ich heute bezüglich der Nato wieder sagen -, dass hier noch einmal eine andere Qualität vorliegt und dass man da zumindest vorsichtig sein muss. Bei der Frage eines Handelsabkommens oder eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union bin ich aber der Meinung: Es kann nicht sein, dass man das einem Land verbietet und es sich nicht frei entscheiden kann. Es ist schon schwierig genug bei der Nato, und viele sind da auch anderer Meinung, aber bei dieser Frage muss es möglich sein.

Insofern sollten wir uns jetzt nicht selbst bezichtigen. Selbst der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch, der ja nun wirklich russlandfreundlich war, hat alles darangesetzt, immer wieder mit der EU zu verhandeln, um dieses Abkommen zu unterschreiben. Ansonsten müssen wir sagen: "Wir sind so schwach, passt auf, Leute, wir können keinen mehr aufnehmen - wir fragen erst in Moskau nach, ob das möglich ist." So war es ja 40 Jahre lang oder länger, und dahin wollte ich eigentlich nicht wieder zurück. Es geht ja nicht nur um die Ukraine, sondern es geht um Moldawien, es geht um Georgien. Wenn das so weitergeht, kann man fragen: Muss man bei Serbien fragen, muss man bei den Westbalkanstaaten fragen? Das ist jedenfalls nicht vereinbar mit unseren Werten.

Direktor Fullilove: Vielen Dank! - Meine Damen und Herren, wir werden jetzt Fragen von den Zuschauern nehmen.

Frage: Machen Sie sich Sorgen über das Davontreiben der Politik des Vereinten Königreichs von Europa, wie sehen Sie das?

BK'in Merkel: Ich hoffe ja, dass das Davontreiben nicht stattfindet, aber ich sage ganz einfach: Sorgen ist kein guter Ratgeber. Ich tue, was in meiner Kraft liegt, dafür zu werben, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt, und zwar aus richtigem deutschem Interesse. Was die Briten für sich entscheiden, das ist ihre Entscheidung, das werden sie sich nicht von anderen vorschreiben lassen - im Gegenteil. Aber das Interesse Deutschlands ist, Großbritannien in der Europäischen Union zu haben. Großbritannien ist ein weltoffenes Land, Großbritannien ist ein innovatives Land. Großbritannien hat einen anderen Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika und auch hier in Ihre Region, als das alle kontinentaleuropäischen Länder haben. Deshalb brauchen wir Großbritannien; denn Großbritannien hilft uns, nicht zu vergessen, was sonst auf der Welt noch los ist. Wir Kontinentaleuropäer neigen manchmal dazu, den Durchschnitt von uns selbst zu bilden und dann zu glauben, wir seien schon wichtig auf der Welt. Großbritannien hilf t uns dabei, diesen Prozess nicht so zu sehen. Deshalb werde ich alles dafür tun - und ich hoffe, dass uns das vielleicht gelingt -, dass Großbritannien doch Mitglied der Europäischen Union bleibt. Bis jetzt gehe ich davon erst einmal aus. Nun neigen die Briten zu engen Abstimmungen; wir haben es ja bei Schottland schon erlebt. Das ist ja auch gutgegangen. Mal sehen, wie es weitergeht.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eine große Rolle gespielt bei der europäischen Schuldenkrise in den letzten Jahren. Könnten Sie bitte erklären, welche Lektionen gelernt worden sind für den Fall, dass es in den nächsten Jahren zu einer neuen Krise kommen wird?

BK'in Merkel: Ich glaube, eine Lektion ist, dass wir aufpassen müssen, dass wir uns nicht zu hoch verschulden. Es ist hier auf dem G20-Gipfel noch einmal recht deutlich geworden, dass die europäischen Länder insgesamt schon recht hohe Schuldenstände haben. Das wird gerade auch deutlich, wenn man sich die Länder anschaut, die sozusagen die westlichen Werte teilen, also wenn man etwa Japan und auch die Vereinigten Staaten von Amerika noch dazunimmt. Wir haben also relativ hohe Schuldenquoten. Australien steht da besser da. Viele Entwicklungsländer oder "Emerging Economies" stehen an der Stelle auch sehr viel besser da. Wenn man noch hinzunimmt, dass ein großer Teil unserer Länder demografische Probleme hat - also im Grunde "Aging Societies" sind -, dann verstärkt das diesen Effekt noch einmal. Das heißt, wir müssen zu unseren Verabredungen in Europa stehen, was Defizitkriterien und was Gesamtverschuldung anbelangt.

Zweitens. Wir haben zu lange gedacht, dass in Europa jeder ökonomisch machen kann, was er will, wenn man eine gemeinsame Währung hat. Wir sind jetzt 18 Länder mit einer Zentralbank und nicht nur 18 verschiedenen Haushaltspolitiken, sondern auch verschiedenen Wirtschaftspolitiken. Das geht auf Dauer nicht gut. Die Entscheidung für die gemeinsame Währung war auch eine Entscheidung für mehr Integration. Da kann nicht ein Land 0,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Forschung ausgeben und ein anderes Land 3,5 Prozent, und das entwickelt sich immer weiter auseinander. Vielmehr muss es da eine gewisse Kohärenz geben. Wenn der eine weit über 50 Prozent Staatsquote hat, und der andere hat unter 40 Prozent, dann geht das auf Dauer nicht zusammen. Das heißt, es muss nicht jeder das Gleiche machen. Wir können eine gewisse Vielfalt erhalten, aber die Sache darf sich nicht immer weiter auseinanderentwickeln. Diese Lektion zu lernen und auch umzusetzen, da sind wir noch sehr am Anfang. Denn natürlich ist ein nationales Parlament nicht so begeistert, wenn aus Brüssel plötzlich Empfehlungen kommen, wie man bitte schön seine Rechtssetzung machen sollte. Deutschland ist da auch nicht immer vorbildlich. Aber auf Dauer wird man nicht umhinkommen, das zu lernen - und das ist die Lektion, bei der wir noch dabei sind, sie zu lernen.

Dann haben wir zwei qualitativ große Schritte getan. Das eine ist die Bankenunion, das heißt, alle systemisch relevanten Banken in Europa sind jetzt unter der Aufsicht der Europäischen Zentralbank. Das ist ein Riesenschritt gewesen. Das zweite sind die Firewalls; wir haben uns also mit riesigen Mengen an Garantien, die wir anderen Ländern geben können, gegen Staatsschuldenkrisen abgesichert. Auch das war sozusagen eine Bereitschaft, sich gegen Druck aus den Märkten zu verteidigen. Damit sind wir für weitere Krisen sehr gut gewappnet.

Die Frage für Europa wird aber sein - - Nehmen wir einmal an, wir schaffen das alles, dann müssen wir immer noch darauf achten, dass nicht der langsamste den europäischen Durchschnitt bestimmt; denn wir dürfen nicht ausblenden, was auf der Welt sonst noch los ist. Das ist der Punkt. Heute wird Australien ein Freihandelsabkommen mit China unterzeichnen. Das ist ein Riesending. Die Verhandlungen zum TPP gehen massiv voran. Wenn ich aber sehe, wie viele sehr mühevolle Diskussionen wir in Europa über die Frage eines transatlantischen Freihandelsabkommens haben, dann ermuntert mich das einfach nur, noch mehr zu werben und noch mehr zu erklären, warum das dringend notwendig ist - nämlich deshalb, weil wir sonst einfach vom Rest der Welt abgehängt werden.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, zum Thema China: Sie interessieren sich ja persönlich für die Beziehungen mit China. Wir hier in Australien fragen uns auch: Was möchte China Ihrer Erfahrung nach mit chinesischen Führungskräften in der globalen oder regionalen Rolle des Landes erreichen, was denken Sie, was die wollen?

BK'in Merkel: Ich glaube, China hat den ganz klaren Anspruch, an 2.000 Jahre erfolgreiche Geschichte anzuknüpfen. China war es gewöhnt - wenn ich es richtig im Kopf habe -, 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts über 1.800 Jahre zur Verfügung zu stellen - natürlich hat das variiert. Jetzt hatte China aus der chinesischen Perspektive 200 etwas schwache Jahre. Die jetzige chinesische Führung ist in einer sehr großen Kontinuität auf dem Weg, nicht an die letzten 200 Jahre anzuknüpfen, sondern an die Zeit davor. Dafür wird China alles tun. China ist sicherlich - bei aller Kritik, die man haben kann - das Land, das das größte Armutsüberwindungsprojekt weltweit ist; das muss man einfach so sehen, wenn man einmal überlegt, wie viele Menschen dort aus ganz unsäglichen Lebensbedingungen heraus in einen Mittelklasse-Wohlstand kommen. Allein das ist schon eine Herkulesaufgabe.

Wir haben ein unglaubliches Interesse an einem stabilen China - es ist eine Nuklearmacht, es hat 1,3 Milliarden Euro Einwohner. China hat einfach eine solche Wohlstandsentwicklung vor sich, dass es natürlich ein sehr attraktiver Markt ist. China wird sich Schritt für Schritt mehr in die internationale Politik einbringen. Wenn man schaut, an welchen auch militärischen Missionen internationaler Art China teilnimmt, dann sieht man, dass es dabei immer um die Sicherung der Handelswege geht. China betrachtet die Länder - auch kleine Länder - mit sehr großem Respekt. Der chinesische Präsident war bis jetzt nicht nur in Australien; er wird auch nach Neuseeland fahren, und dann wird er die Fidschi-Inseln besuchen. Auch in Afrika ist China sehr, sehr präsent - China hat sich jetzt unglaublich bei der Bekämpfung der Ebola-Katastrophe engagiert. Man merkt also, wie China Schritt für Schritt sozusagen auch zu einem internationalen Faktor wird. Natürlich ist gerade auch das chinesisch-amerikanische Verhältnis von allergrößter Bedeutung.

Es wird sich eben zeigen, wie weit China dann auch fähig ist, in der Region Respekt und Anerkennung von anderen zu bekommen; denn dort spürt man jetzt - das hört man, wenn man in Vietnam ist, in den Philippinen ist, mit Malaysia spricht - doch auch große Sorgen. Diesbezüglich wird es sehr spannend sein, wie China die Fragen, die es dort gibt, dann so löst, dass es seinem geäußerten Anspruch, eine harmonische Kraft auf der Welt zu sein beziehungsweise eine Kraft auf der Welt zu sein, die harmonische Entwicklungen unterstützt, gerecht werden kann.

Der chinesische Präsident hat völlig klare Vorstellungen über die Bindungen, die Seidenstraßenkonzepte - sowohl die kontinentale als auch die maritime Seidenstraße sind unglaublich interessant - und wie man den Bogen Richtung Europa schlägt. China hat sich in der Staatsschuldenkrise Europas sehr für den Euro eingesetzt, weil man an Multilateralität Interesse hat. China wird mit seiner Währung langsam marktfähig werden.

Wir haben sehr viel über die Quotenreform des IWF gesprochen, wie also der Anteil der Schwellenländer erhöht wird. Der amerikanische Kongress sieht sich seit Jahren nicht im Stande, das zu entscheiden; Ähnliches ist bei dem Grundkapital der Weltbank zu beobachten. Das führt dann dazu, dass diese Schwellenländer anfangen - natürlich ganz stark unter Führung von China -, ihre eigenen internationalen Institutionen - die "Shanghai-Gruppe", die BRICS-Staaten, eine Entwicklungsbank - zu gründen. Wir haben eigentlich in den westlichen Ländern, wo ich Australien und Deutschland gemeinsam hinzurechne, ein unglaubliches Interesse, nicht eine total zersplitterte Globalisierungslandschaft zu bekommen, sondern die globalen Institutionen, die sich über viele Jahre bewährt haben, zu nutzen. Da macht mir einiges ein bisschen Sorge, dass im Augenblick zum Beispiel sehr viel parallel stattfindet.

Frage: Guten Morgen, Frau Bundeskanzlerin. Ich bin Präsident der australischen Menschenrechtskommission. Vielen Dank, dass Sie die Themen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Ihrer Rede erwähnt haben. Können Sie uns ein bisschen mehr darüber erzählen, wie Sie Investitionen und Business auf globaler Ebene als Förderer der Menschenrechte sehen?

BK'in Merkel: Es gibt gute Aspekte und es gibt schwierige Aspekte. Wir haben über die Sanktionen mit Russland gesprochen. Wir können auch über die Frage von Menschenrechten in anderen Regionen sprechen. Ich glaube, dass Handel und Wandel erst einmal immer Offenheit erzeugen. Man lernt sich kennen, man verändert die Gegebenheiten in einem Land. Damit muss das Land per Definition offener werden und sich auch mit anderen Kulturen auseinandersetzen. Das ist für Menschenrechte sicherlich hilfreich, denn es werden zum Beispiel erst einmal bestimmte Fälle bekannt. Was abgeschottete Länder, mit denen man schon wirtschaftlich nicht zusammenarbeitet, betrifft, so weiß man ja oft gar nicht, wer dort in den Gefängnissen sitzt. Ein Treiber der deutschen Einheit war zum Beispiel, dass es immer Journalisten und Menschenrechtsorganisationen gab, die sich dafür interessiert haben, was mit bestimmten Menschen passiert ist. In diesem Sinne ist das produktiv und positiv.

Auf der anderen Seite wird natürlich von manchen Ländern sehr schnell eine Verbindung hergestellt. Wer dauernd nur über Menschenrechte redet, wird vielleicht auch ökonomisch schlechter behandelt. Umso wichtiger ist es, dass gerade die Demokratien zusammenstehen und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, weil sonst immer wieder versucht wird - selbst von der Seite derer, die nicht so gerne über Menschenrechte sprechen -, vieles nach dem Motto "teile und herrsche" zu machen. Das ist sicherlich gerade in der Europäischen Union immer wieder eine Riesenaufgabe. Deshalb ist es immer gut, dass man aus eigener Kraft wirtschaftlich stark ist und sich nicht in zu große ökonomische Abhängigkeiten begibt. Wenn man zum Schluss weltweit davon abhängig ist, ob die Finanzwelt einem noch Kredite gibt oder nicht, weil man so hohe Schuldenstände hat, ist man politisch auch nicht mehr hundertprozentig autark. Deshalb hängen diese Dinge sehr zusammen. Ich begebe mich immer in andere Einflusssphären und kann nicht davon ausgehen, dass mir alle nur freundlich gesonnen sind. Das m uss man mit jeder Schuld, die man aufnimmt, wissen.

Frage: Wenn wir darüber sprechen, dass sich Staaten gegenseitig ausspielen, wie sieht es mit dem Westen aus, der verhindern will, dass der Iran eine Nuklearwaffe bekommt? Wie zuversichtlich sind Sie, dass es weiterhin internationale Solidarität geben wird?

BK'in Merkel: (Ich kann sagen), dass wir an der Stelle schon eine ganze Menge erreicht haben, zum Teil auch durch ein sehr stringentes Vorgehen der Vereinigten Staaten von Amerika, was man an dieser Stelle sagen muss. Aber wir haben doch große Schwierigkeiten, zum Beispiel China und Russland auf einen ähnlichen Weg zu bringen. Ganz zum Schluss sind die Wirkungen am kräftigsten, wenn es gelingt, im UN-Sicherheitsrat Beschlüsse zu fassen und China und Russland auch dabei sind. Es ist zum Beispiel nicht im chinesischen Interesse - das haben wir immer wieder mit China besprochen -, dass der Iran eine nukleare Bewaffnung bekommt. Deshalb laufen eigentlich auch die Nordkorea-Gespräche mit guter Unterstützung Chinas, deshalb gibt es die Iran-Verhandlungen, wo China mit dabei ist. Das ist ganz wichtig, denn je größer der Anteil am Weltinlandsprodukt ist, umso wirkungsloser werden natürlich auch Sanktionen, an denen China zum Beispiel nicht beteiligt ist. Das muss man ja auch sehen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich stelle Ihnen eine letzte Frage, wenn ich darf. Sie erinnern sich wahrscheinlich an den Kandidaten Barack Obama, der 2008 Berlin besucht hat. Er hat gesagt, dass wahre Partnerschaft und wahrer Fortschritt Alliierte erfordert, die sich zuhören. Im Fall von Deutschland hat die Nationale Sicherheitsagentur diesen Kommentar wortwörtlich genommen, wie Sie herausgefunden haben. Wie sollten westliche Länder ein Gleichgewicht herstellen bei der Sammlung von Geheimdienstinformationen für die Sicherheit und anderseits nicht übermäßig aktiv zu werden und damit einen Schaden zwischen Freunden anzurichten?

BK'in Merkel: Australien gehört ja zu den sogenannten "Five Eyes", also zu einer Kooperation der privilegierten Partnerschaft. Aber auch Deutschland hat natürlich eine enge Kooperation mit den amerikanischen Diensten oder den Nachrichtendiensten der "Five Eyes". Wir brauchen diese Kooperation. Die Dinge, die sich im Zusammenhang mit Edward Snowden ergeben haben, haben uns gezeigt, dass es unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, in welchem Umfang man Informationen sammeln sollte und möchte.

Ich glaube, es betrifft sehr das Grundverständnis in den einzelnen Ländern, wie das Verhältnis von Sicherheit, die der Staat garantieren muss, zu der individuellen persönlichen Freiheit ist. Das mag in den Vereinigten Staaten von Amerika anders ausgeprägt sein, als das in Deutschland der Fall ist. Das ist in Großbritannien total anders ausgeprägt als in Deutschland. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Sicherlich gibt es eine inneramerikanische Diskussion, die sich damit auseinandersetzt.

Was ich nicht teile - da gibt es halt auch Meinungsverschiedenheiten mit den Vereinigten Staaten -, ist, dass man meiner Meinung nach das politische Berlin, wenn ich das so sagen darf, nicht nachrichtendienstlich überwachen muss, um herauszufinden, was die Leute denken. Sie müssen ab und zu einmal mit jemandem Abendessen oder Mittagessen gehen, dann müssen Sie aufmerksam die Zeitung lesen und kennen dann 99,9 Prozent von dem, was dort gesprochen wird. Das ist also meiner Meinung nach vergebliche Mühe. Wenn ich gehört habe, dass man in Amerika sagt, dass es immer schön ist, die Verhandlungsposition eines Partners schon einen Tag vorher zu kennen, um dann besser darauf reagieren zu können, so muss ich sagen, dass ich auch ganz gut ohne das auskomme. Ich glaube, dass man, wenn man sich kennt, das alles doch ziemlich voraussehen kann. Ich würde sagen, dass es eigentlich eine falsche Konzentration auf etwas ist, was man auch anderweitig herausfinden kann, ohne nicht so viele Irritationen hervorzurufen.

Ansonsten muss ich aber wiederum sagen: Deutschlands Sicherheitsinteressen können ohne die Zusammenarbeit mit internationalen befreundeten Diensten nicht wahrgenommen werden. Wir können den Kampf gegen den Terrorismus, der nicht eine Fiktion, sondern leider sehr real ist, ohne diese Kooperation nicht führen. Deshalb sind und bleiben die Vereinigten Staaten von Amerika für uns der wichtige Partner.

Weitere Informationen entnehmen Sie der Rede.

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Rede von Bundeskanzlerin Merkel am Lowy Institut für Internationale Politik am 17. November 2014


Sehr geehrter Herr Lowy,
Herr Gouverneur,
Herr Hawke,
Herr Keating,
Herr Howard,
Herr Minister,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

für mich ist es eine sehr große Ehre, heute die Annual Lowy Lecture halten zu dürfen. Ich danke dem Lowy Institute for International Policy für die Einladung, die ich sehr gerne angenommen habe.

Es ist wahr: Die G20-Präsidentschaft hat es mit sich gebracht, dass ich nach Australien gekommen bin. Dies ist meine erste Reise in dieses wunderbare Land. Aber viele andere Deutsche waren schon weit früher von Australien fasziniert. Dieses große Land im Ozean übt eine unglaubliche Anziehungskraft aus, natürlich auch deshalb, weil es von uns aus gesehen auf der anderen Seite des Globus liegt - wie es eben so schön heißt: Down Under.

163.000 Deutsche haben sich im vergangenen Jahr auf den langen Weg nach Australien gemacht. Mich freut vor allen Dingen, dass so viele junge Menschen davon Gebrauch machen, die Möglichkeiten eines Studiums an Ihren Universitäten zu nutzen. Sie machen gerne Gebrauch vom Working Holiday Visum, das die Regierungen unserer beiden Länder vereinbart haben und das wirklich von großer praktischer Bedeutung ist.

Ich möchte zum Beispiel an den Brandenburger Geologen, Botaniker und Zoologen Ludwig Leichhardt erinnern, der schon in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in drei Expeditionen das Landesinnere dieses Kontinents erkundet hat. Heute sind sowohl in Australien als auch in Deutschland Schulen und Straßen nach ihm benannt. Sydney hat ein Stadtviertel, das seinen Namen trägt. Wir haben also zahlreiche Verbindungslinien, die über die Jahre hinweg immer wieder zwischen unseren Ländern gezogen wurden.

Manche dieser Linien markieren aber auch furchtbare Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte. Gerade in diesem Jahr 2014 wird uns das noch einmal bewusst. Wir denken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und den Zivilisationsbruch der Shoah - und ganz besonders auch an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Nicht umsonst wird der Erste Weltkrieg oft als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Für Australien und Neuseeland war dieser Erste Weltkrieg bittere Realität. Fast genau vor 100 Jahren stachen die ersten 30.000 Soldaten mit 38 Schiffen von Albany in Richtung Alexandria in Ägypten in See. Premierminister Tony Abbot hat vor wenigen Tagen, am 1. November, an ihr Schicksal erinnert. In den Schlachten gegen Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich starben an den Dardanellen und an der Westfront zehntausende Australier, über 130.000 wurden verwundet. Jahr für Jahr begehen Sie in Ihrem Land am 25. April den ANZAC Day, an dem Sie der verlustreichen Landung auf Gallipoli gedenken. Das ist ein ganz besonderer Gedenktag.

Meine Damen und Herren, wie konnte es vor 100 Jahren zwischen den Völkern und Nationen so weit kommen? In Rückblenden auf diese Zeit vor 1914 fällt vor allem eines auf: die Sprachlosigkeit unter den politischen Eliten der europäischen Staaten und das völlige Versagen der Diplomatie. Es fehlten geeignete Mechanismen und Institutionen zum Gedankenaustausch, zur Vertrauensbildung und zur Kooperation. Es fehlte die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen. Es fehlte der Wille, Differenzen auf friedlichem Wege zu begegnen - auch in der überheblichen Annahme eigener militärischer Überlegenheit. Doch der Glaube, moderne Kriege könnten sich eingrenzen lassen, erwies sich als fataler Irrtum. Aus einer zunächst regionalen Krise auf dem Balkan wurde innerhalb weniger Wochen ein Flächenbrand.

Was damals geschah, das können wir nicht ungeschehen machen. Aber wir können und, ich sage, wir müssen die richtigen Lehren daraus ziehen. 1914 verdrängten nationale Selbstgefälligkeit und kalte militärische Logik verantwortungsbewusste Politik und Diplomatie. 2014 hingegen streben wir in Europa nach Dialog und friedlichen Lösungsansätzen - mögen sich Verhandlungen auch noch so schwierig gestalten. Die heutigen 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union setzen auf die Kraft der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Integration. Wir setzen auf die Bindekraft einer Wertegemeinschaft. Wir setzen auf Institutionen, die dem europäischen Gemeinwohl verpflichtet sind. Die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten sowie ihre Minister tauschen sich regelmäßig zu aktuellen Themen aus. Wir sehen uns, wir sprechen miteinander, wir kennen uns. So festigt sich Vertrauen. Und Vertrauen ist die wohl wichtigste Voraussetzung für eine gedeihliche politische Zusammenarbeit. Längst hat eine europäische Rechtsgemeinschaft das prekäre Gleichgewicht wechselnder Staatenbündnisse abgelöst.

Dennoch müssen wir erleben, dass es auch in Europa immer noch Kräfte gibt, die sich dem gegenseitigen Respekt und einer Konfliktlösung mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln verweigern, die auf das angebliche Recht des Stärkeren setzen und die Stärke des Rechts missachten. Genau das ist mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland zu Beginn dieses Jahres geschehen. Russland verletzt die territoriale Integrität und die staatliche Souveränität der Ukraine. Ein Nachbarstaat Russlands, die Ukraine, wird als Einflusssphäre angesehen. Das stellt nach den Schrecken zweier Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung insgesamt infrage. Das findet seine Fortsetzung in der russischen Einflussnahme zur Destabilisierung der Ostukraine in Donezk und Lugansk.

Ich möchte in diesem Zusammenhang an den mutmaßlichen Abschuss des malaysischen Flugzeugs MH 17 erinnern. Er hat vielen Menschen das Leben gekostet. Unter den Opfern sind 38 Australier und vier Deutsche. Die Ukraine-Krise ist wahrlich keineswegs allein eine regionale Angelegenheit. Nein, an diesem Beispiel sehen wir: Sie betrifft uns alle.

Ich frage: Wer hätte es für möglich gehalten, dass 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas und dem Ende der Teilung der Welt in zwei Blöcke so etwas mitten in Europa geschehen könnte? Altes Denken in Einflusssphären, womit internationales Recht mit Füßen getreten wird, darf sich nicht durchsetzen. Ich bin überzeugt: Es wird sich auch nicht durchsetzen, mag der Weg auch noch so lang, noch so beschwerlich sein und noch so viele Rückschläge mit sich bringen.

Diesem Ziel dient der Ansatz, den die Europäische Union und ihre Partner zur Überwindung der Ukraine-Krise verfolgen. Erstens: Wir unterstützen die Ukraine politisch und auch ökonomisch. Zweitens: Wir lassen nichts unversucht, in Gesprächen mit Russland zu einer diplomatischen Lösung des Konflikts zu kommen. Drittens: Wir verhängen wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland, soweit und solange sie erforderlich sind. Das Ziel dieses Ansatzes ist eine souveräne und territorial unversehrte Ukraine, die über ihre Zukunft selbstbestimmt entscheiden kann.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass Australien diesen politischen Ansatz unterstützt. Wir haben uns zu diesem Ansatz nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Lehren entschlossen, die uns die Geschichte aufgegeben hat. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Völker und Nationen Europas den Weg zunächst zu wirtschaftlicher und später zu enger politischer Zusammenarbeit fanden. Einen Ausdruck hat dies in der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor nunmehr 57 Jahren gefunden. Diesen Verträgen liegt die Überzeugung zugrunde, dass die europäische Einigung eine Frage von Krieg und Frieden war und ist. Sie ist darüber hinaus entscheidender Garant dafür, dass wir uns mit unseren Werten, unserer Art zu leben und zu wirtschaften, auch in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts behaupten können.

Wenn die europäischen Staaten - zusammen sind wir immerhin 500 Millionen Einwohner - mit einer Stimme sprechen, dann können sie sich mehr Gehör verschaffen als jeder einzelne allein. Deshalb lohnt sich auch immer wieder die Mühe, zu einer europäischen Stimme zu kommen. Ich erlebe in vielen Gesprächen weltweit immer wieder, dass die Erwartungen an Europa hoch sind. Wie sehr es uns gelingt, diesen Erwartungen gerecht zu werden, und wie stark Europa - gerade auch ökonomisch - ist, bestimmt natürlich auch ganz entscheidend unsere Möglichkeiten, weltweit überzeugend für unsere Werte Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einzutreten.

Wirtschaftlich liegen schwierige Jahre hinter Europa. Sie waren von der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 geprägt, die geradezu nahtlos in die europäische Staatsschuldenkrise überging. Mittlerweile ist diese Krise unter Kontrolle, aber vollends überwunden ist sie damit noch lange nicht. Deshalb müssen wir den eingeschlagenen Kurs konsequent beibehalten, die öffentlichen Haushalte konsolidieren, Haushaltsspielräume für gezielte Wachstumsimpulse nutzen, Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit auf den Weg bringen und für die Länder unserer Währungsunion die wirtschaftspolitische Koordinierung deutlich verstärken. Es gilt also, das, was man bei der Einführung des Euro nicht ausreichend gemacht hat, jetzt nachzuholen.

Im Juni dieses Jahres hat die Europäische Union erstmals eine sogenannte Strategische Agenda beschlossen, die für die nächsten fünf Jahre angelegt ist. Mit dieser Agenda konzentrieren wir uns auf die wichtigsten Herausforderungen. Wir machen damit deutlich, dass sich die europäische Ebene wirklich nicht für alles zuständig fühlen sollte, sondern dass sie ihre Kräfte bündeln muss.

Bei dem Bemühen um Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung geht es immer auch darum, das europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer und auch ökologischer Verantwortung vereint, dauerhaft erfolgreich zu machen. Ich will nicht verschweigen: Das ist eine große Herausforderung, gerade auch angesichts des starken globalen Wettbewerbs. Wir Europäer sind uns sehr wohl bewusst, dass die Welt nicht auf uns wartet. Uns erwachsen immer neue und immer stärker werdende Konkurrenten auf den Märkten.

Wir brauchen nur einen Blick auf die Asien-Pazifik-Region zu werfen. Hier vereinen die Länder zusammen inzwischen knapp 40 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung auf sich. Ein Drittel aller Exporte weltweit stammt aus der Region - etwa genauso viel wie aus Europa. Das Wirtschaftswachstum zählt mit durchschnittlich 4,8 Prozent zu den höchsten weltweit. China, Indien und Indonesien werden neben anderen Staaten der Region einen immer wichtigeren Platz in der globalen Arbeitsteilung einnehmen. Sie bringen auch ihr politisches Gewicht immer stärker zur Geltung, etwa in der G20.

Nicht nur wirtschaftlich ist Europa eng mit Asien verknüpft. Sehr aufmerksam verfolgen wir Europäer auch die sicherheitspolitisch relevanten Entwicklungen in der Asien-Pazifik-Region. Denken wir nur an das Nuklearprogramm Nordkoreas sowie an die Territorialkonflikte im Ost- und Südchinesischen Meer. Asien ist die einzige Weltregion, in der die Militärausgaben seit 1988 kontinuierlich gewachsen sind - allein 2013 um 3,6 Prozent. Darüber hinaus verläuft die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Asien-Pazifik-Region alles andere als linear, weil die Länder und Gesellschaften dieser Region zu heterogen und ihre historischen Erfahrungen zu unterschiedlich sind.

Der Weg zu offenen, pluralistischen Gesellschaften kann mitunter sehr steil und steinig sein. Aber ich bin überzeugt: Er verspricht langfristig mehr Stabilität. Wo Europa sie auf diesem Weg unterstützen kann, wollen wir das sehr gerne tun. Dazu können wir die Foren nutzen, in denen Europa mit den Staaten der Asien-Pazifik-Region im engen Dialog steht - etwa das ASEAN Regional Forum oder den ASEM-Gipfel, der jüngst in Mailand stattfand. In diesen Foren leitet uns das Interesse, dass der Aufstieg der Staaten Asiens friedlich und ohne scharfe Brüche verlaufen soll. Eine zentrale Rolle kommt dabei ASEAN zu. Dieser Staatenverband hat den Weg zu mehr Integration über zunehmende wirtschaftliche Verflechtung eingeschlagen. Ziel ist, dass die ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft unter Einschluss der wirtschaftlich schwächeren ASEAN-Mitgliedstaaten bis Ende 2015 gegründet wird. Deutschland und die Europäische Union unterstützen diese Entwicklung.

Handelsfreiheit und die Perspektive eines gemeinsamen Marktes bringen Staaten zusammen. Das haben wir in Europa erfahren - auf unserem Weg von der einstigen Montanunion bis zur heutigen Europäischen Union. Natürlich haben ASEAN und die EU sehr unterschiedliche historische, politische und soziale Fundamente und Erfahrungen. Deshalb will ich Vergleiche nicht überstrapazieren. Was ASEAN und die EU aber dennoch teilen, das ist der Wille zu Dialog, Kooperation und Integration.

Letztlich erweist es sich für jeden - für kleinere genauso wie für größere Partner - als lohnend, an multilateralen Prozessen mitzuwirken. Eine zentrale Erfahrung in diesen Prozessen ist, dass von größeren Staaten auch größere Zugeständnisse erwartet werden, dass Transparenz und regelmäßiger Dialog Missverständnisse und Konflikte vermeiden oder zumindest mindern können. Denn die Mitwirkung an multilateralen Prozessen und Vereinbarungen auf der Grundlage des Völkerrechts schaffen genau das, was notwendig ist, nämlich Transparenz und Berechenbarkeit, worauf schlussendlich Vertrauen aufbaut.

Das kann dazu beitragen, Streitfälle wie etwa die maritimen Territorialdispute in der Region zu schlichten. Um hierbei zu einer tragfähigen Lösung zu kommen, halte ich es für sehr wichtig, Foren wie ASEAN zu nutzen und Differenzen zum Beispiel auch auf der Basis des Seevölkerrechts zu überwinden. Alle Seiten sehe ich dazu aufgerufen, sich um vertrauensbildende Maßnahmen zu bemühen, um einer unkalkulierbaren Eskalation vorzubeugen. Dies ist keine rein bilaterale oder regionale Frage. Die See- und Handelswege verbinden auch Europa mit diesem Teil der Welt. Ihre Sicherheit berührt deshalb auch uns in Europa unmittelbar.

Gemeinsame Interessen haben wir auch mit Blick auf die Stabilität in anderen Regionen. Die geopolitische Lage stellt sich derzeit teils sehr kritisch dar. Ich habe die Ukraine bereits erwähnt. Größte Sorgen haben wir darüber hinaus angesichts der Lage in Syrien und im Irak. Auch die schreckliche Krankheit Ebola ist zu nennen, die weite Teile Westafrikas heimsucht, eine zusehends globale Dimension annimmt und auch nur mit einer internationalen Kraftanstrengung eingedämmt werden kann. Wir haben auf dem G20-Gipfel sehr ausführlich darüber gesprochen. Wir dürfen die leidgeprüften Menschen nicht allein lassen - weder aus humanitären Gründen noch aus wohlverstandenem Eigeninteresse, denn Globalisierung ist längst nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen. Sie hat uns alle zu Nachbarn gemacht. Immer mehr Länder sehen sich vor gleiche Herausforderungen gestellt.

Für Deutschland und Europa ist es dabei wichtig zu wissen, mit Australien einen Partner in der Asien-Pazifik-Region zu haben, mit dem uns dieselben Werte einen: die universalen Menschen-, Grund- und Freiheitsrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Gemeinsam engagieren wir uns in internationalen Einsätzen: in UN-Friedensmissionen, in Afghanistan und gegen den Terror des IS im Irak und in Syrien.

Es ist maßgeblich dem hartnäckigen Bemühen Australiens im UN-Sicherheitsrat zu verdanken, dass auch ohne Zustimmung des syrischen Regimes humanitäre Hilfsgüter für die notleidenden Menschen in Syrien geliefert werden können. Es war ebenfalls Australien, das die Aufgabe, wie Sanktionen der Vereinten Nationen effektiver umgesetzt werden können, deutlich vorangebracht hat. In all diesen Fragen stimmen wir uns miteinander wie auch mit unseren transatlantischen Partnern eng ab. Dazu haben zum Beispiel 2012 die damalige amerikanische Außenministerin Clinton und die damalige Hohe Beauftragte der Europäischen Union Ashton eine Zusammenarbeit bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen in der Asien-Pazifik-Region vereinbart.

Wir tun all dies in der Überzeugung, dass Frieden, Freiheit und Stabilität die Grundvoraussetzungen für partnerschaftliche Kooperationen sind, über die sich politische, ökonomische und soziale Fortschritte erreichen lassen - Fortschritte, die im Interesse aller sind. Das gilt zum Beispiel für das Bemühen um freien Handel, offene Märkte und eine wettbewerbsneutrale Gleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen.

Alle Kräfte zu bündeln, ist auch die einzige Chance, um beim Klimaschutz voranzukommen. Bleibt der Klimawandel ungebremst, dann werden sich seine verheerenden Folgen unaufhaltsam Bahn brechen - sowohl mehr Stürme, Hitze- und Dürrekatastrophen als auch steigende Meeresspiegel und zunehmende Überschwemmungen. Der Klimawandel kennt keine Grenzen. Er macht auch vor den Pazifischen Inseln nicht Halt. Die gesamte Weltgemeinschaft steht in der Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung.

In der Europäischen Union haben wir uns darauf geeinigt, unsere Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 zu verringern. Ebenfalls bis 2030 wollen wir den Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtverbrauch auf mindestens 27 Prozent steigern. Mit diesen Vorgaben setzen wir im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 ein wichtiges Zeichen für den internationalen Klimaschutz. Unser Ziel ist ein ehrgeiziges und für alle Staaten verbindliches Abkommen. Nur gemeinsam lässt sich die globale Erderwärmung auf 2 Grad Celsius begrenzen. Daher sind alle Staaten dazu aufgerufen, bis spätestens Ende des ersten Quartals 2015 ihre nationalen Beiträge für das Weltklimaabkommen bekanntzugeben. Nur so können wir die Konferenz in Paris angemessen vorbereiten und dort ein substantielles Ergebnis erzielen.

Meine Damen und Herren, die Bande, die Australien und Deutschland einen, sind vielfältig und stark. Weil wir aber wissen, dass auch Gutes immer noch besser werden kann, haben Premierminister Abbott und ich entschieden, eine bilaterale Beratergruppe einzusetzen, von der wir weitere Impulse für unser politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Miteinander erwarten. So verstanden sind sich Australien und Deutschland sehr viel näher, als ein Blick auf die Weltkarte vermuten lässt. Nutzen wir unsere Nähe, nutzen wir unsere Partnerschaft, nutzen wir unsere Verbundenheit auch in Zukunft zum Wohle unserer Nationen und Völker.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Quelle der Rede:
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/11/2014-11-17-merkel-lowy-institut.html?nn=391850

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Quelle:
Diskussion mit Bundeskanzlerin Merkel am Lowy Institut für Internationale Politik in Sydney, 17.11.2014
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2014/11/2014-11-17-diskussion-lowy.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2014