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PRESSEKONFERENZ/1148: Kanzlerin Merkel und der italienische Ministerpräsident Renzi, 29.01.2016 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Berlin - Freitag, 27. Januar 2016
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem italienischen Ministerpräsidenten Renzi


Merkel: Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi uns heute wieder einmal in Berlin besucht ich heiße ihn ganz herzlich willkommen. Ich glaube, dass wir dieses Treffen das auch in einer sehr herausfordernden Zeit stattfindet in einem guten europäischen Geist abgehalten haben, der uns darin eint, dass wir Europa voranbringen müssen und dass wir Europa brauchen. Ich will noch einmal betonen, dass ich mich mit Freude an den Besuch Mitte August letzten Jahres bei der Expo in Mailand erinnere. Dort konnten wir uns diese Weltausstellung anschauen, die uns auch noch einmal mit den Herausforderungen der Globalisierung und den Antworten, die die Welt und damit auch Europa darauf geben muss, konfrontiert hat.

Wir haben sehr intensiv darüber gesprochen, wie wir unsere bilaterale Kooperation, die ja sehr gut ist, verstärken können und auch noch einmal neu beleben können. Nächstes Jahr wird es sehr interessant sein, dass einerseits Italien den G7-Vorsitz hat und andererseits Deutschland den G20-Vorsitz hat. Das Ganze wird stattfinden im 60. Jahr der Römischen Verträge; daher wird man auch überlegen: Welche Agenda können wir hier vielleicht auch gemeinsam gestalten?

Wir haben dann aber vor allen Dingen auch über die Herausforderungen gesprochen, und zwar zum einen in der Frage: Wie schaffen wir Arbeitsplätze? Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi ist gestartet mit einer sehr ambitionierten Reformagenda, und man sieht jetzt Schritt für Schritt, wie diese Agenda umgesetzt wird. Ich will besonders die Strukturreform auf dem Arbeitsmarkt den sogenannten "Jobs Act", der, glaube ich, genau in die richtige Richtung geht , aber auch die strukturellen Reformen des gesamten Systems hervorheben. Ich möchte Matteo Renzi hierbei ausdrücklich eine glückliche Hand wünschen, wenn es um die weitere Vollendung dieser Reformen geht; denn ich glaube, dass das ein wirklich wichtiger Beitrag für die Zukunft Italiens und damit auch für die Zukunft Europas ist.

Wir haben festgestellt, dass wir uns bei allem, was wir tun und unser Wirtschaftsaustausch ist ja sehr eng , immer auch nach dem Best-Practice-Prinzip anschauen müssen: Wo sind die wettbewerbsfähigsten Lösungen weltweit? Aus dieser Tatsache heraus haben wir uns vorgenommen, in diesem Jahr in Deutschland und im nächsten Jahr in Italien zusammen mit den Wirtschaftsministern eine Wirtschaftskonferenz durchzuführen, die sich mit dem Thema Digitalisierung, Infrastrukturausbau, Start-ups und Industrie 4.0 beschäftigt. Dort wollen wir schauen, wie wir deutsch-italienische Synergien noch besser entwickeln können und wo wir voneinander lernen können.

Wir haben naturgemäß über die Frage der Flüchtlinge gesprochen, und dabei zum einen über die EU-Türkei-Agenda, deren Umsetzung jetzt natürlich dringend ist, weil wir Fortschritte brauchen. Ich habe noch einmal dargelegt, dass auf der Westbalkanroute, wie sie ja heißt, täglich 2000 Flüchtlinge unterwegs sind. Das ist für die Winterzeit eine hohe Zahl von Flüchtlingen, und wir müssen vor allen Dingen die Illegalität bekämpfen, die im Grunde den Vertretern der organisierten Kriminalität Geld in die Taschen spült.

Wir haben nach so schrecklichen Vorfällen wie dem Vorfall im letzten April mit den 800 toten Menschen inzwischen auch schon eine doch recht effektive Schlepperbekämpfung auf dem Mittelmeer. Wir haben auch auf der Ägäis im letzten Jahr über 700 Tote gehabt man muss sich das einmal vorstellen: bei 20 Kilometern oder manchmal auch nur 7 Kilometern Distanz zwischen den Küsten. Allein im Januar sind auch schon wieder um die 150 Menschen umgekommen. Wir müssen also Illegalität bekämpfen und in Legalität überführen.

Wir werden am nächsten Donnerstag gemeinsam auf der Londoner Konferenz sein, wo es auch um die Unterstützung der Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien und um die Unterstützung der Binnenflüchtlinge in Syrien geht. Wir haben natürlich auch über Stabilisierungsmaßnahmen gesprochen, so zum Beispiel über die Syrien-Konferenz, aber vor allen Dingen auch über die Aktivitäten zur Stabilisierung Libyens. Hier können Deutschland und Italien noch mehr zusammen tun; zum Beispiel können wir gemeinsame Trainingsmissionen in Tunesien für Sicherheitskräfte durchführen. Denn wir haben natürlich ein maximales Interesse daran, dass die andere Seite des Mittelmeers, die Italien gegenüberliegt also Libyen , Schritt für Schritt auch wenn das mühselig ist wieder ein stabiles staatliches Gebilde mit eigenen Sicherheitsstrukturen wird, um eben auch hier die Überführung der Flüchtlingsentwicklung in die Legalität zu ermöglichen und die Illegalität zu bekämpfen.

Italien wird 2017 die Balkankonferenz austragen, deshalb gibt es hier auch ein sehr großes Interesse an der Stabilisierung der Staaten des westlichen Balkans; auch darüber haben wir gesprochen.

Natürlich haben wir auch über die Frage des britischen Referendums gesprochen. Wir sind uns einig, dass wir das in unserer Macht Stehende die Abstimmung machen die britischen Bürgerinnen und Bürger tun werden, um Großbritannien als Mitglied der Europäischen Union zu erhalten.

Alles in allem sehen Sie, dass die Zeit knapp wurde und die Agenda breit und groß ist. Es waren sehr freundschaftliche Gespräche. Ich möchte mich bedanken und ich hoffe, dass aus diesem Besuch wieder neue Maßnahmen hervorgehen, die uns, Deutschland und Italien zwei Länder, die sich freundschaftlich sehr verbunden sind gemeinsam voranbringen.

Renzi: Danke vielmals, Angela! Herzlichen Dank für die Einladung und danke für die nette Aufnahme. Es ist das vierte Mal, dass ich hier in diesem wunderschönen Hause bin das dritte Mal, seit ich Ministerpräsident bin, und immer auf Einladung von Angela Merkel.

Ich bin sehr glücklich, dass ich auch dank der Bemühungen des italienischen Volkes und der italienischen Regierung, aber auch dank der guten europäischen Zusammenarbeit und dank des Beitrags der deutschen Freunde zum ersten Mal nicht mit einer Liste von Verpflichtungen und Versprechungen hier bin, sondern mit einer Liste von schon erzielten Ergebnissen. Italien ist nicht mehr wie das in der jüngeren Vergangenheit der Fall war das Problem Europas, vielmehr wollen wir natürlich unseren Teil einbringen, so wie es uns auch die Geschichte unseres Landes vorschreibt.

Ich glaube, wir befinden uns derzeit in einer sehr heiklen Phase der europäischen Geschichte. Ich persönlich spüre die gesamte Verantwortung, die auf mir lastet. Es ist ein sehr wichtiger Augenblick, und ich glaube, Italien ist mit Deutschland insofern vereint, als wir mehr Europa wollen, ein stärkeres Europa, ein effizienteres Europa, ein Europa, das besser imstande ist, auf alle Probleme das der Migration, das der Wirtschaft, das der Innovation eine Antwort zu finden. Angela, ich bin mit dir einverstanden und nehme deinen Vorschlag gerne an. Die Bundeskanzlerin hat nämlich vor allem vorgeschlagen, dass wir etwas über die Wirtschaft machen, über die Industrie 4.0, über das Breitband. Da sind unsere Wirtschaftssysteme wirklich sehr miteinander verwandt und verwoben; einige Regionen in Italien sind eng verbunden mit anderen Regionen in Deutschland.

Es ist natürlich auch sehr positiv, dass es jetzt wieder eine Phase des Aufschwungs gibt. In den ersten elf Monaten des letzten Jahres sind die Einfuhren deutscher Produkte in Italien um mehr als 7 Prozent angestiegen. Was bedeutet das? Das ist sicherlich kein gutes Zeichen für das Bruttosozialprodukt in Italien, denn dieses sinkt; aber das heißt, dass man hier endlich auch wirklich sieht, dass es ein Wachstum, einen Aufschwung in Italien gibt, und das merken auch die deutschen Unternehmen.

Ich glaube, es ist wichtig, auch über die europäischen Werte zu debattieren denken wir hier auch an die Frage der Migranten. Man sieht, dass Deutschland und Italien hier eine gemeinsame Position haben. Wichtig sind aber auch gemeinsame Regeln. Diese müssen dort, wo sie noch nicht bestehen, ausgearbeitet werden, und sie müssen Tag für Tag auf den Prüfstand gestellt werden. Italien ist gewillt, hier seinen Teil einzubringen. Wir wissen, wie schrecklich das Schicksal derer ist, die von den Schleppern gekauft und verkauft werden. Man kann hier auch sagen: Es sind nicht Schlepper, sondern Sklavenhalter, die andere Menschen wirklich auf einen Zustand der Sklaverei reduzieren. Wir unternehmen also alle Bemühungen, um hier eine Lösung zu finden und auch Missverständnisse falls es zu solchen gekommen sein sollte zu überwinden.

Es gibt vielleicht unterschiedliche Meinungen, auch weil wir unterschiedlichen politischen Lagern angehören, aber wir glauben beide: Wenn man die Arbeitslosigkeit in Europa bekämpfen will, dann bedeutet das auch, die populistischen Bestrebungen zu bekämpfen; denn diejenigen, die das Verständnis von Europa und die Vorstellung von Europa untergraben, sind ja auch unsere Gegner. Wichtig ist eben das Wirtschaftswachstum, um die Arbeitslosigkeit und auch die populistischen Parteien zu bekämpfen.

Schließlich noch zu dem, was Angela über das Jahr 2017 gesagt hat: Ich glaube, es wird sehr interessant sein, zusammenzuarbeiten. Deutschland ist ja ein sehr großes Land und wird die Ehre des G20-Vorsitzes haben; wir werden den G7-Vorsitz haben. Wir haben auch die Daten abgesprochen. Auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gruppen und Organisationen wird es sicherlich möglich sein, eine gemeinsame Agenda aufzustellen. Gemeinsame Punkte werden dabei sicherlich auch der Westbalkan und 60 Jahre Europa sein.

Ich glaube, es gibt mehr Punkte, die uns einen, als solche, die uns trennen. Ich glaube auch, es stimmt, was mir Angela Merkel anlässlich eines Abendessens, bei dem unsere Familien dabei waren, gesagt hat; denn sie hat da etwas sehr Interessantes bezüglich der Kulturkrise, zu der es in unserem Land kommen könnte, und zu einem Verlust an Idealen und Werten gesagt. Angela, du hast diesbezüglich vom Maya-Risiko, der Maya-Gefahr für die europäische Kultur gesprochen, und ich bin mit dir einverstanden: Europa muss wieder stolz auf sich selbst und auf seine Vergangenheit sein. Natürlich sind wir nicht in allen Punkten einer Meinung, aber grundlegend ist und da sind wir uns einig , dass es eine herausfordernde Zeit ist, auf die wir zugehen. Wir sind zwei große Länder und Gründungsstaaten Europas, die in der Vergangenheit verschiedene Dinge durchlebt haben, die sich aber heute wieder ganz klar für Europa aussprechen. Insofern soll und wird Europa einen ganz anderen Kurs einschlagen, als dies in der jüngsten Vergangenheit vielleicht der Fall zu sein schien.

Ich als überzeugter Anhänger des Europagedankens fühle mich angesichts der aktuellen Entwicklungen gar nicht so wohl, und morgen werde ich auf der Insel Ventotene sein, auf die die Faschisten damals viele politische Gegner geschickt haben. Schon damals hat Altiero Spinelli, einer der großen Italiener und Europäer, von den Vereinigten Staaten Europas gesprochen hat. Ich glaube, dass Deutschland und Italien gemeinsam Europa verteidigen werden.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auch von den Flüchtlingen gesprochen. Was ist jetzt, sechs Monate nach dem G7-Gipfel auf Schloss Elmau, der Punkt? Vor sechs Monaten war dort die Rede davon, über Dublin zu gehen. Wo ist dieses Projekt jetzt geblieben? Inwiefern ist die Situation mit der Türkei und der Finanzierung des Programms in der Türkei schon überwunden?

Eine Frage an den italienischen Ministerpräsidenten: Ist das Problem der Türkei-Finanzierung heute eingehend angegangen worden? Gibt es hier Fortschritte, was Italien betrifft?

Merkel: Zuerst über Libyen und das Mittelmeer und dann ansteigend im letzten Jahr über die Route Türkei-Griechenland sind ja eine Vielzahl von Flüchtlingen nach Europa gekommen. Auf der Tagesordnung steht jetzt vor allen Dingen und erst einmal ein Schutz der Außengrenzen, damit wir die Illegalität beenden, und steht dann natürlich auch die Fairness in der Frage: Wie gehen wir mit den Flüchtlingen um? Ich sage immer und das eint uns auch : Wir müssen vor allen Dingen bei den Fluchtursachen ansetzen libyscher Friedensprozess, syrischer Friedensprozess, bessere Situation der Flüchtlinge in Jordanien, im Libanon, in der Türkei. Natürlich brauchen wir dann auch die Kontrolle von Seegrenzen, und die Kontrolle von Seegrenzen kann überhaupt nur dann funktionieren, wenn wir auch mit dem Nachbarn also in diesem Falle der Türkei sprechen.

Wir sind uns einig, dass der EU-Türkei-Plan umgesetzt werden muss. Dazu gehören diese 3 Milliarden Euro, aber auch Leistungen, die die Türkei erbringt. Die Türkei hat bereits einiges getan. Sie hat zum Beispiel die Arbeitsmöglichkeiten von syrischen Flüchtlingen in der Türkei verbessert. Das ist ein wichtiger Punkt. Auf der anderen Seite hat sie auch bereits Visamaßnahmen unternommen. Wir sind jetzt in sehr engen Gesprächen.

Aber es muss, denke ich, im beiderseitigen Interesse sein, aus Illegalität Legalität zu machen. Gleichzeitig müssen wir die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, reduzieren, indem wir zum Beispiel die UN-Programme ordentlich ausstatten und Arbeitsmöglichkeiten in Jordanien und Libanon schaffen. Das ist Gegenstand der Londoner Konferenz, bei der wir uns am Donnerstag auch schon wieder sehen werden, also die spürbare, nachhaltige Reduktion von Flüchtlingen, die in Europa ankommen, die klare Absprache, dass Flüchtlinge zurückkehren müssen, wenn sie keinen Schutz brauchen, wenn sie also aus wirtschaftlichen Gründen kommen, aber all das, indem wir die Ursachen der Flucht gemeinsam angehen und lernen, wie wir auch unsere Seegrenzen richtig schützen können.

Renzi: Ich bin völlig einverstanden mit Angela. Wir wissen aus vielen Gründen über die Schwierigkeiten genau Bescheid, wenn Frauen und Menschen in so großem Ausmaß nach Europa kommen. Sie kommen nicht, weil sie jemand ruft und ihnen sagt, sie sollen kommen. Das besagt eine sterile Propaganda. Nein, sie kommen, weil sie vor dem Tod, vor dem Hunger und vor dem Krieg fliehen. Wir kennen diese Probleme sehr gut.

Aus diesem Grund sind wir natürlich gern gewillt, auch hier unseren Teil einzubringen. Darüber habe ich auch mit Angela gesprochen. Wir haben überhaupt kein Problem, was die Türkei und Deutschland betrifft, bezüglich der Finanzierung der 3 Milliarden Euro. Wir haben das schon am 29. November bei der Ratssitzung im November wiederholt. Wir warten nun einfach auf einige Antworten auf spezifische Fragen, die wir auf kurzem Wege an die Kommission gerichtet haben. Aber es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir natürlich auch unseren Beitrag liefern werden, sobald diese Antworten eingetroffen sind.

Ihr italienische Journalisten kennt ja sehr gut das Gefühl der Einsamkeit, das man verspürt, wenn man den Eindruck hat, dass ein Problem nur ein einziges Land betrifft. Über Jahre hin schien es so, als ob das Problem der Migration ein rein italienisches Problem wäre. Heute wissen wir, dass es ein europäisches Problem ist. Denn ich denke, dass das Monate und vielleicht sogar Jahre anhalten wird. So etwas kann man nicht in einer einzigen Woche lösen.

Sicherlich muss man, wie Angela zu Recht gesagt hat, bei den Ursachen eingreifen. Man muss also schon im Vorlauf tätig werden. Wenn man eine Schule im Libanon besucht, in der am Nachmittag die Kinder von syrischen Flüchtlingen und am Vormittag die libanesischen Kinder sind, dann wird einem bewusst, wie groß die Schwierigkeiten sind. Internationale Kooperation ist dabei grundlegend. Da bin ich Angela und dem neuen Chef des UNHCR, des UN-Flüchtlingswerks, gegenüber dankbar. Es ist Herr Grandi, ein Italiener. Wir sind stolz darauf. Gemeinsam müssen wir daran arbeiten. Es besteht überhaupt kein Problem, die Türkei, Jordanien, Libanon, die afrikanischen Staaten zu unterstützen. Ich hoffe, dass die Antworten aus Brüssel, auf die wir warten, bezüglich der Zusammensetzung dieser Gelder so schnell wie möglich eintreffen können.

Wenn Europa Schengen aufgibt, dann bedeutet das, dass Europa sich selbst aufgibt. Alle Bemühungen, die wir unternehmen können, damit die europäischen Ideale belebt und neu belebt werden, müssen also gemeinsam unternommen werden. Kein Staat darf auf sich allein gestellt sein. Das gilt für die Heimführung, für das Asylrecht und für den Schutz der Außen- und der Seegrenzen. Ich möchte die deutsche Öffentlichkeit beschwichtigen und beruhigen. Sollte es in der Vergangenheit aus den verschiedensten Gründen Schwierigkeiten gegeben haben, muss gesagt werden, dass das, was die italienischen Polizeikräfte heute machen sie sind wirklich ganz fantastisch , Folgendes ist: Hundert Prozent der Flüchtlinge werden registriert. Allen werden die Fingerabdrücke abgenommen. Es werden auch Fotos von ihnen gemacht, und zwar aus Sicherheitsüberlegungen, nicht nur weil wir die Regeln und Vorschriften einhalten wollen. Es ist wirklich richtig, dass wir das tun. Wenn wir auch noch Geld in Cybersecurity investieren werden, wird es vor dem Hintergrund der Sicherheit nützlich sein, dass wir auch die Fotos der Gesichter der Menschen haben. Die Italiener arbeiten also weiter daran.

Die Ideale sind wichtig. Wenn wir Schengen aufgeben, geben wir Europa auf. Vergessen wir das nicht.

Frage: Ich habe zunächst eine Frage an Herrn Ministerpräsidenten Renzi. Eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise hat sich bislang als ausgesprochen schwierig erwiesen. Deshalb wird immer mehr von einer Koalition der Willigen gesprochen, also einer kleineren Gruppe von Ländern, die sich gemeinsam um eine Lösung bemühen. Möchte Italien an dieser Koalition der Willigen teilnehmen?

An Frau Bundeskanzlerin die entsprechende Frage: Wieso wird Italien in dem Zusammenhang eigentlich nie erwähnt? Wir reden von Österreich, von Schweden, vielleicht von den Niederlanden, aber nicht von Italien, wenn es um die Koalition der Willigen geht. Ändert sich daran vielleicht gerade etwas?

Renzi: Wir sind Teil der Koalition, ich weiß nicht, ob der Willigen oder der Verpflichteten. Denn wir hatten schon mit Migration zu tun, als es noch überhaupt kein Problem in der europäischen Presse war. Wir sind seit eh und je an der vordersten Front. Ich weiß nicht, ob man uns "Willige" nennen möchte oder nicht. Wir waren einfach verpflichtet, als es zum Beispiel darum ging, Leichen aus der See zu bergen oder Kinder zu retten, damit sie nicht zu Leichen werden, als noch ein Großteil der europäischen Öffentlichkeit gegen uns war.

Hier an dieser Stelle möchte ich mich bei Angela bedanken. Bei der Ratssitzung im Juni, als das Thema noch nicht so brisant war, war Angela entscheidend. Das war damals der Knackpunkt. Sie und François haben das Prinzip unterstrichen, das Italien vorgebracht hat, dass es nämlich ein europäisches Problem ist, und zwar noch bevor es zu einem Problem in Deutschland geworden ist.

Ich weiß nicht, was Sie unter Koalition der Willigen verstehen. Ich kann Ihnen sagen, was ich darunter verstehe. Seit Jahren kommen Tausende und Tausende, Hundertausende von Personen als Flüchtlinge nach Italien. Seit es in Libyen keine stabile Regierung mehr gibt, ist der Zustrom über Libyen immer größer geworden. Heute wollen wir Teil einer gemeinsamen Arbeit sein, auch in der Balkangruppe, auch in Bezug auf die, die über die Ostroute kommen. Wir haben gesehen, dass die Anzahl der Syrer zurückgegangen ist. 2014 waren es 40, 2015 waren es 6000. Wieso? - Weil die meisten die Balkanroute eingeschlagen haben. Sie sind somit in diesen Teil Europas gekommen, in dem wir uns befinden.

Natürlich sind wir bereit und gewillt, hier unseren Teil zu vollbringen. Aber wir dürfen nie das Ideal vergessen, das uns bewegt. Europa ist entstanden, weil die Mauern niedergerissen worden sind, und nicht, weil sie errichtet worden sind. Europa ist geschaffen worden, um das Prinzip der Brüderlichkeit umzusetzen. Es ist klar, dass nicht alle nach Europa kommen können. Es muss Regeln geben, aber europäische Regeln, was die Rückführung betrifft, was die Aufnahme betrifft. Für alle müssen dieselben Bedingungen und Regeln gelten. Auch da ist Italien bereit, seinen Teil zu vollbringen.

Merkel: Italien war von Anfang an und in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres sozusagen das am stärksten betroffene Land. Es war ein Ankunftsland und kein Land, in das die Flüchtlinge dann erst gehen mussten, sondern man musste sich mit dem Thema der Ankunft befassen. Erst ab Mai/Juni wurde sichtbar, dass eine andere Route Gestalt angenommen hat.

Aber wir waren die ersten, die für eine faire Verteilung in Europa gekämpft haben und die auch unbeschadet der Route gesagt haben: Wir brauchen hier ein neues System das wird ja im Übrigen von der Kommission im Frühling vorgeschlagen werden , und wir brauchen einen besseren Schutz unserer Außengrenzen. Wir haben ja an der italienischen Grenze mit der Mittelmeermission und auch mit unseren Marinen gemeinsam gekämpft. Die Stufe 1 ist das Retten von Menschen, aber Stufe 2 auch die Bekämpfung der Schlepper. Im Übrigen ist diese Bekämpfung der Schlepper, obwohl wir noch nicht an die libysche Küste herankommen, weil es ja noch keine libysche Regierung gibt, schon recht erfolgreich.

Italien ist also manchmal deshalb bei der Westbalkanroute nicht dabei gewesen, weil Italien nun an einer anderen Route liegt. Aber Italien ist ein Verbündeter in der gesamten Flüchtlingspolitik und auch in der Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik.

Frage: Herr Ministerpräsident, haben Sie auch über Flexibilität, über die Verwendung der Flexibilität in den nächsten Jahren sowie über alle Klauseln diskutiert, also auch über die, die Sie vorhin bezüglich der Migration und Sicherheit zitiert haben?

Die Kanzlerin wollte ich Folgendes fragen: Sie haben ja davon gesprochen, dass Sie den G20-Vorsitz innehaben werden. Es wird das Problem China wieder aufs Tapet kommen. Sind Sie damit einverstanden, das Land als eine Marktwirtschaft anzusehen? Haben Sie auch darüber diskutiert?

Renzi: Was die Flexibilität betrifft: Die Europäische Kommission hat am 13. Januar 2015 eine Kommunikation über die Flexibilität herausgegeben. Das ist für uns der Punkt, auf den wir uns beziehen. Wir verlangen und fordern als Italien also nicht eine Änderung der Regeln. Wir verlangen, dass die Regeln angewendet werden, und dies auf eindeutige Weise. Flexibilität ist nämlich notwendig. Auch Juncker ist ja gewählt worden, weil die Rede von einem Investitionsplan und von Flexibilität war. Aus diesem Grund ist er gewählt worden, nicht aus parteipolitischer Überzeugung. Das habe ich nicht vergessen, und ich hoffe, dass auch Juncker dies nicht vergessen hat.

Was die Wirtschaftspolitik betrifft, haben wir natürlich nicht immer dieselbe Ansicht. Wir sind aber übereingekommen und einer Meinung, dass man in die Wirtschaft investieren muss, dass man in die Industrie 4.0 investieren muss. Wir glauben auch, dass die digitale Dimension wesentlich für die Zukunft Europas ist.

Sicherlich haben wir unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie man vielleicht in manchen Bereichen in der Wirtschaft und im Staat eingreift; das wissen ja alle. Aber eines sollte doch klar sein, und hiermit wende ich mich mehr an die italienische Öffentlichkeit als an die deutsche Öffentlichkeit: In den letzten zwei Jahren hat Italien verschiedene Reformen durchgeführt, auf die man seit 20 Jahren gewartet hat. Es war nicht leicht, eine Arbeitsmarktreform innerhalb eines Jahres durchzuziehen, und dies unter Berücksichtigung der Maastrichter Kriterien und ohne diese zu verletzen. Es war auch nicht leicht, endlich, wie ich sage, einzugreifen, was das Wahlrecht betrifft, was die Verfassungsreform betrifft, was die Vereinfachung der öffentlichen Verwaltung betrifft und was die Zivilgerichtsbarkeit betrifft. In einer Krise und nach drei Jahren der Rezession war das alles andere als leicht. Aber heute, wo wir das geschafft haben, ist Italien endlich wieder imstande, ein Land zu werden, das wächst und in dem das Vorzeichen ein positives und kein negatives ist.

Klar, das wissen alle: Der Schuldenberg in Italien muss abgebaut werden. Der Schuldenberg ist nachhaltig. Es gibt eine große Sparquote seitens der privaten Haushalte. Es gibt also viele Merkmale, die nicht besorgniserregend sind. Aber wir sind die ersten, die sagen, dass dieser Schuldenberg abgebaut werden muss. Das sage ich jetzt nicht, um Angela zu schmeicheln, sondern um etwas für meine Kinder und Kindeskinder zu machen. Der Schuldenberg wird abgebaut und das Defizit wird abgebaut, weil wir uns dazu verpflichtet haben, also nicht, weil wir hier nur das machen, was uns Europa vorschreibt, sondern weil wir das machen wollen.

Die Flexibilität war ja eine Grundvoraussetzung für die Wahl von Juncker, und ich glaube nicht, dass er nun seine Meinung geändert hat. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass sich alle klar vor Augen halten, dass man die Dinge hier nicht einfach ändern kann. Ich bin der Meinung, dass die Austeritätspolitik allein nicht funktionieren kann, dass sie nur zu einer Niederlage der Regierung und garantiert auch nicht zu einem Aufschwung Europas führt. Ich weiß nicht, ob wir da in allen Punkten einer Meinung mit Angela sind, aber auf jeden Fall sagen wir uns die Dinge mit einem Lächeln - auch, weil wir ja die Ideale teilen: Wir kämpfen, damit es Europa besser als in der Vergangenheit geht.

Merkel: Das Schöne ist ja, dass es selbst bei einer Mitteilung der Kommission über die Flexibilität, die wir beide akzeptieren, immer noch dazu kommen kann, dass es dann in der Interpretation unterschiedliche Meinungen gibt. Aber diese Interpretation nimmt glücklicherweise die Kommission vor, und da mische ich mich auch nicht ein. Deshalb führt jedes Land ja auch seine Gespräche mit der Kommission über diese Frage, und wir im Rat nehmen das dann zur Kenntnis.

Ich wollte zu China Folgendes sagen: Die Kommission ist gerade in der Prozedur zu überlegen, ob China den Marktwirtschaftsstatus erhalten kann. Ich sage es einmal so: Wir sind da offen. Es müssen alle technischen Fragen geklärt sein. Ich glaube, wir werden hierzu in den nächsten Monaten einen Bericht erhalten. Wir haben, glaube ich, beide mit der chinesischen Führung darüber gesprochen, welche Bedeutung das für China hat. Jetzt warten wir die Antworten der Kommission ab, und dann werden wir im Rat sehr offen darüber diskutieren.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, die erste Frage vielleicht an Sie: Sie erwähnten eben,

Merkel: Ich wollte nur sagen: Es hat sich jetzt so eingespielt, dass jeder gleich zwei Fragen stellt. Aber bitte schön!

Zusatzfrage: Nein, an Sie und an den italienischen Gast!

Merkel: Ja, das ist gut.

Zusatzfrage: An Sie habe ich die Frage: Sie erwähnten eben eine mögliche Trainingsmission für Sicherheitskräfte in Libyen. Vielleicht haben Sie dazu eine Konkretisierung vorzutragen.

An Sie, Herr Ministerpräsident Renzi, geht die Frage: Es war ja im Vorfeld des Besuchs diskutiert worden, inwieweit sich auch Italien an den Geldlasten beteiligt, an diesen 3 Milliarden Euro. Haben Sie heute der Bundeskanzlerin die Zusage gegeben, dass auch Italien das Geld für die Flüchtlinge in der Türkei aufbringen wird?

Merkel: Hinsichtlich der Frage der Ausbildung von Sicherheitskräften gibt es noch keine Details. Es ist klar, dass wir den Sicherheitskräften helfen müssen und dass sie trainiert werden müssen. Da sich Italien in der Frage der Einheitsregierung sehr engagiert und da auch Deutschland hierbei sehr engagiert ist, könnten wir natürlich einen sehr gemeinsamen Ansatz haben. Die Ausbildung findet aber selbstverständlich nicht in Libyen, sondern in Tunesien statt. Wann das jetzt genau losgehen wird, hängt natürlich davon ab, wann es eine Einheitsregierung geben wird und wann man dann mit dieser Einheitsregierung auch vereinbaren kann, was man tut, um den Sicherheitsapparat zu verbessern.

Renzi: Ich glaube, ich habe ja schon vorhin geantwortet: Italien hat Ja gesagt, was den Beitrag an die Türkei betrifft, und zwar am 29. November des letzten Jahres. Seitdem haben wir unsere Meinung nicht geändert. Wir warten nur noch auf die Antwort seitens der Freunde aus der Europäischen Kommission. Das sind Detailfragen, und ich glaube, dass sie sehr rasch darauf antworten werden. Es würde mich aus den verschiedensten Gründen freuen, wenn das noch vor der Konferenz in London der Fall sein sollte. Die Europäische Kommission ist natürlich immer sehr "busy", aber sie hat immer die Möglichkeit, mit den Journalisten zu sprechen, und ich glaube, sie wird auch die Möglichkeit haben, auf unsere Fragen zu antworten.

Was unsere Beziehung zu Deutschland betrifft: Das sind Beziehungen, die eigentlich immer zeigen, dass wir in fast allen Bereichen Afghanistan, Libyen, Balkan, Afrika einer Meinung sind. Wir teilen also dasselbe Ideal und verfolgen dieselben Ziele wie Deutschland. Was heute grundlegend für uns ist, ist, zu erklären, dass Europa einer Gesamtstrategie bedarf, nicht einer punktuellen One-shot-Strategie. Es ist nicht möglich, dass man angesichts eines Dramas wie dem der Migration, das Monate, wenn nicht Jahre dauern wird, punktuell eingreift und keine gesamteuropäische Gesamtstrategie verfolgt. Ich bin sicher, dass Deutschland in seiner Führungsrolle sowie die anderen Staaten auch Italien dieses Ziel verfolgen, nämlich dass wir angesichts dieser historischen Verantwortung wirklich die europäischen Werte vermitteln, die besagen, dass wir die Regeln berücksichtigen, aber gleichzeitig nicht die Augen vor Not und Schmerz weltweit verschließen. Wir machen das in Syrien, im Libanon, in Libyen und in Jordanien. Wir werden das auch weiterhin gemeinsam machen. Wir wollen weitere Anreize dafür liefern, dass Europa das Europa der Ideale und nicht nur das Europa der Bürokratie und der Rechtsvorschriften ist.

Freitag, 29. Januar 2016

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem italienischen
Ministerpräsidenten Renzi am 29. Januar 2016 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2016/01/2016-01-29-merkel-renzi.html;jsessionid=4B294BCD46CFDF2AE839CD083C0EC7F2.s1t2
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2016

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