Schattenblick → INFOPOOL → PARLAMENT → FAKTEN


PRESSEKONFERENZ/1230: Bundeskanzlerin Merkel und Nato-Generalsekretär Stoltenberg, 02.06.2016 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut

Mitschrift der Pressekonferenz in Berlin - Donnerstag, 2. Juni 2016
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Nato-Generalsekretär Stoltenberg

(Die Ausschrift des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultanübersetzung)


BK'in Merkel: Meine Damen und Herren, wenn Sie erlauben, möchte ich zunächst auf das eingehen, was viele Menschen in Deutschland zurzeit ganz hautnah und persönlich beschäftigt. Das ist die Situation in den Überschwemmungsgebieten in Bayern, in Baden-Württemberg und nun auch am Niederrhein in Rheinland-Pfalz, in der Eifel.

Ich verfolge die Entwicklung in den betroffenen Orten und Regionen sehr genau. Das Bundesinnenministerium steht in Kontakt mit den Behörden der betroffenen Länder. Ich denke natürlich an die Bürgerinnen und Bürger, die in diesen Stunden um ihre Häuser, um ihr Hab und Gut, ihre Ortschaften kämpfen.

Wir trauern um die Menschen, für die die Hilfe zu spät kam und die in den Fluten ihr Leben verloren haben. Natürlich bin ich in Gedanken bei ihren Familien, die mit diesem Verlust fertigwerden müssen - und das inmitten der Verwüstung, die das Wasser vielerorts angerichtet hat.

Unsere bewährten Strukturen der Katastrophenhilfe in Kommunen und Ländern sind jetzt an vielen Orten im Einsatz, um rasch Hilfe und Unterstützung zu den Menschen zu bringen und dann auch den Wiederaufbau zu gewährleisten. Kräfte der Bundeswehr, des Technischen Hilfswerks und der Bundespolizei sind in Amtshilfe vor Ort aktiv. Bei Bedarf werden sie natürlich verstärkt werden.

Wie immer zeigt auch diese Notsituation, wie wir in Deutschland beieinanderstehen, von Mensch zu Mensch, unter Nachbarn und Freunden. Ich danke allen von Herzen, die in diesen Tagen im Fluteinsatz sind und oft bis an den Rand der Erschöpfung kämpfen, ob sie nun einfach Mitbürger sind, Ehrenamtliche oder Mitarbeiter in den Kommunen.

Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass der Generalsekretär der Nato heute bei uns ist. Ich begrüße Jens Stoltenberg ganz herzlich als einen guten Freund. Nach seiner Zeit als norwegischer Premierminister führt er jetzt die Nordatlantische Allianz in Zeiten großer Herausforderungen.

Natürlich diente unser Treffen heute insbesondere der Vorbereitung des anstehenden Nato-Gipfels in Warschau am 8. und 9. Juli. Wir können jetzt schon sagen, dass dieser Gipfel wichtige Weichenstellungen für Bedrohungen sowohl aus dem Osten als auch dem Süden vornehmen wird. Wir haben vor zwei Jahren in Wales als Allianz wichtige Anpassungen vorgenommen, die das Sicherheitsumfeld verbessert haben. Ich denke, wir können sagen, dass wir die Maßnahmen, die wir beschlossen haben, auch sehr konsequent umgesetzt haben. Auch Deutschland hat sich hierbei eingebracht. Wir wollen, dass auch von dem jetzt kommenden Gipfel wieder ein Signal der Entschlossenheit, aber auch der Geschlossenheit des Bündnisses ausgeht.

Was die Nato im Osten anbelangt, so haben wir von Anfang an sehr stark und substanziell zu dem Anpassungsprozess beigetragen, durch verstärkte Präsenz in der Ostsee, durch die Luftwaffe im Rahmen des Air Policing. Wir sind beim Multinationalen Korps Nordost in Stettin dabei und haben bereits jetzt eine Kompanie im Baltikum und in Polen.

Wir wollen uns bei dem zukünftigen Engagement noch weiter einbringen, insbesondere mit Blick auf Litauen. Wir haben allerdings auch darüber gesprochen, wie wir unser Engagement im Osten verstehen. Deutschland ist immer ein Land gewesen - und bleibt es auch -, das die Nato-Russland-Grundakte für ein wichtiges Dokument hält, das wir immer wieder mit Leben erfüllen sollten. Wir verletzen diese Grundakte nicht. Wir sind innerhalb dieser Nato-Russland-Grundakte. Wir haben heute auch darüber gesprochen, dass es eigentlich wünschenswert wäre, wenn es noch vor dem Nato-Gipfel in Warschau einen Nato-Russland-Rat geben könnte.

Das zweite Stichwort war: Nato im Süden. Hier ist auch eine Vielzahl von Gefahren erkennbar: islamistischer Terror, fragile Staaten, Bürgerkrieg. Wir werden sehen, wie wir hier gegebenenfalls unser Engagement verstärken können.

Erst einmal will ich mich bedanken, dass in sehr kurzer Zeit die Ägäis-Mission auf die Beine gestellt werden konnte. Zwischen der Türkei und Griechenland agieren Nato-Schiffe - Deutschland hat sich hier auch eingebracht - und bekämpfen Schleuser- und Schlepperbewegungen. Ich denke, das ist auch symbolisch eine sehr wichtige Sache.

Aber wir können noch mehr tun. So haben wir heute darüber gesprochen, was wir zum Beispiel mit Blick auf Training und Ausbildung im Irak tun können. Sie wissen, dass der irakische Premierminister um Unterstützung gebeten hat. In den nächsten Wochen wird auch darüber gesprochen. Wir können auch darüber sprechen, ob über die ägäische See hinaus noch Einsatzmöglichkeiten oder Einsatznotwendigkeiten der Nato im Blick auf die Bekämpfung von Schleppern und Schmugglern bestehen. Wir haben hier die gut laufende Mission Sophia. In den nächsten Tagen muss man sehen, ob es zusätzlich noch neue und andere Aufgaben gibt.

Wir haben über Afghanistan und darüber gesprochen, dass es wichtig ist, dass wir ein bestimmtes Maß an Präsenz aufrechterhalten, das den Trainings- und Ausbildungszwecken und damit auch den Ertüchtigungszwecken dient. Deutschland wird sich auch hierbei weiter einbringen.

Wir haben selbstverständlich auch über das Budget gesprochen. Deutschland ist von dem Ziel, 2 Prozent der Ausgaben für Verteidigung bereitzustellen, entfernt. Aber wir legen sehr viel Wert darauf, dass wir bei 1,2 Prozent in diesem Jahr landen werden. Wir wissen um unsere Aufgabe, auch für die Zukunft einen Schwerpunkt in der Verteidigungspolitik zu setzen.

Noch einmal herzlich willkommen! Wir freuen uns auf den Gipfel in Warschau.

GS Stoltenberg: Herzlichen Dank, Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela! Vielleicht darf ich zunächst denjenigen mein tief empfundenes Beileid aussprechen, die aufgrund der Flutkatastrophe Angehörige verloren haben, gerade den Familien.

Es ist schön, dass ich heute wieder hier in Berlin sein kann und heute wieder mit Ihnen zusammentreffen konnte. Das ist eine Freundschaft, die ich sehr schätze und die sich über viele Jahre entwickelt hat. Wir haben ja früher schon zusammengearbeitet, als ich Premierminister war - und jetzt in meiner neuen Tätigkeit als Generalsekretär der Nato.

Ich darf Ihnen an dieser Stelle sehr herzlich für alles danken, was Sie für unser Bündnis getan haben. Deutschland ist ein Land im Herzen Europas, aber auch im Herzen unseres Bündnisses. Sie haben gemeinsam mit der Nato die Friedensordnung in Europa aufrechterhalten. Das ist wichtig für Deutschland, das ist wichtig für Europa, und das ist wichtig für das gesamte Bündnis.

Sie haben hervorragende Beiträge für unsere Missionen in Afghanistan und im Kosovo geleistet. Sie spielen eine sehr wichtige Rolle in der Luftraumüberwachung über der Ostsee. Sie haben auch eine führende Rolle in dem neuen Programm der Very High Readiness Joint Task Force. Deutschland hat gerade im Bereich der Bekämpfung der Flüchtlingsproblematik und der Begegnung der Flüchtlingsproblematik in der Ägäis eine Schlüsselrolle gespielt. Dabei haben Sie eine ganz besonders wichtige Rolle gespielt. Natürlich begrüßen wir auch die Anzeichen dafür, dass der Verteidigungshaushalt erweitert wird.

Das zeigt klar und deutlich, dass Deutschland bereit ist, seine Führungsrolle zu spielen, und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem wir die, denke ich, größten Herausforderungen für unsere Sicherheit in einer Generation zu gewärtigen haben: ein sich immer stärker profilierendes Russland im Osten, aber auch die Bedrohung im Süden durch Extremisten und Fundamentalisten.

In dieser sich verschärfenden Sicherheitssituation sind wir als Bündnis aufgerufen, dem zu begegnen. Das bedeutet, dass wir versuchen, die Bereitschaft und die Einsatzfähigkeit unserer Truppen zu verstärken, dass wir gleichzeitig aber auch unsere Präsenz im östlichen Teil des Bündnisses verstärken. Wir werden bei dem Gipfel in Warschau unsere Vornepräsenz durch eine Reihe von verstärkten Bataillonen ebenfalls verstärken, die wir in den östlichen Teil unserer Allianz senden werden. Wir begrüßen sehr, dass Deutschland bereit ist, eine Rahmennation für eines dieser verstärkten Bataillone zu sein.

Was die Nato tut, ist von defensiver Natur, ist angemessen und bedeutet, dass wir einen Beitrag für unsere gemeinsame Verteidigung leisten - nicht etwa, um einen Konflikt zu provozieren, sondern um einen Konflikt zu verhindern. Wir wollen keinen Konflikt mit Russland. Wir versuchen ganz im Gegenteil, eine konstruktivere Beziehung zu Russland zu erreichen. Wir versuchen natürlich auch, die Kanäle für einen politischen Dialog offenzuhalten. Denn solche Dialoge sind umso wichtiger, wenn die Spannungen groß sind.

Um unser eigenes Territorium zu schützen, müssen wir auch bereit sein, Stabilität jenseits unserer Grenzen zu verbreiten. Deshalb haben wir eine Trainingsmission für irakische Angehörige der Streitkräfte in Jordanien. Wir versuchen, in Tunesien Verteidigungskapazität zu verstärken. Wir stehen auch bereit, der neuen Regierung in Libyen zu helfen, wenn sie dies wünscht, als Teil eines weiter gefassten VN-Einsatzes.

Wir begrüßen sehr, dass Deutschland eine so entscheidende Rolle bei der Reaktion auf die Flüchtlingskrise gespielt hat. Ich habe vor Kurzem das deutsche Flaggschiff in der Ägäis besuchen können. Ich muss sagen, ich war sehr beeindruckt. Wir haben eine ganz substanzielle Reduzierung feststellen können, was Versuche angeht, die Ägäis zu überqueren. Hier ist auch die Nato Teil der Mission. Wir sind der Ansicht, dass die Nato mehr tun kann und mehr tun sollte, um gerade den Herausforderungen aus dem Süden zu begegnen. Wir besprechen jetzt, was wir mehr tun können, um die Ausbildung der irakischen Offiziere und Soldaten zu verbessern. Wir betrachten auch, was wir tun können, um unsere maritime Sicherheit im Mittelmeerraum zu verbessern und zu verstärken.

Denn das, was wir als effizienteste und effektivste Waffe in der Hand haben, um den Terrorismus zu bekämpfen, ist ja gerade, dass wir die örtliche Bevölkerung in die Lage versetzen, selber gegen Terrorismus vorzugehen. Das versuchen wir in Afghanistan zu tun, wo wir die nationalen Sicherheitskräfte und auch die nationale Armee ausbilden und ihnen auch Ausrüstungsgegenstände zur Verfügung stellen. Auch hier kann ich die Bundesrepublik zu ihrer Rolle als Führungsnation im Norden Afghanistans nur beglückwünschen und ihr für das danken, was Sie getan haben. Wir werden dies auch auf unserem Warschauer Gipfel besprechen.

Wir haben all diese verschiedenen Herausforderungen zu gewärtigen. Es ist wichtig, dass wir, um ihnen angemessen begegnen zu können, unsere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union verstärken. Wir bereiten uns auf eine sehr ehrgeizige Tagesordnung während des Warschauer Gipfels vor. Ich freue mich sehr, dass ich mit Ihnen zusammenarbeiten kann, sowohl was die Vorbereitung als auch was die Reaktion auf all diese verschiedenen Herausforderungen angeht, die wir im Bündnis als Ganzes zu gewärtigen haben.

Frage: Die Frage geht an Frau Bundeskanzlerin Merkel. Sie sind ja in gewisser Weise ein Botschafter für Herrn Stoltenberg gewesen. Denn sie haben Herrn Stoltenberg einen sehr engen Freund genannt. Dann hat er die Position als Generalsekretär bekommen. Erfüllt er denn Ihre Erwartungen? Welches Zeugnis würden Sie ihm für seine Tätigkeit ausstellen?

BK'in Merkel: Ich stelle als Politikerin nie Zeugnisse aus. Aber ich habe immer sehr gut mit Jens Stoltenberg zusammengearbeitet, als er Ministerpräsident war. Deshalb war ich sehr dafür, dass er Nato-Generalsekretär wird. Ich freue mich, mit ihm zusammenzuarbeiten, und glaube, dass die Nato mit ihm als Generalsekretär in guten Händen ist.

Frage: Herr Stoltenberg, ich möchte Sie bitten, noch einmal das Verhältnis zu Russland zu beschreiben. Befinden sich die Nato-Staaten in einem neuen kalten Krieg mit Russland? Wie würden Sie das beschreiben?

An Kanzlerin Merkel: Heute wurde im Bundestag über die Armenien-Resolution abgestimmt. Mich würde interessieren, warum das jetzt, im Jahr 2016, richtig ist. Es gibt auch schon erste Reaktionen aus der Türkei. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für das deutsch-türkische Verhältnis?

GS Stoltenberg: Wir sind nicht in einem neuen kalten Krieg. Aber wir sind eben auch nicht in einer strategischen Partnerschaft, die wir versucht haben, nach dem Ende des Kalten Krieges mit Russland zu entwickeln. Was wir hier festgestellt haben, ist ein Russland, das sehr selbstbewusst auftritt. Wir sehen da keine direkte Bedrohung. Wir haben aber doch festgestellt, dass Russland über längere Zeit sehr nachdrücklich in Fähigkeiten und in eine Modernisierung der Streitkräfte investiert hat. Wir sehen auch ein Russland, das mit der illegalen Annektierung der Krim bereit ist, militärische Kraft einzusetzen, um Grenzen in Europa zu verändern, die seit dem Zweiten Weltkrieg gezogen sind. Deswegen muss die Nato darauf reagieren, und genau das tun wir.

Wir tun das zum Teil, indem wir unsere kollektive Sicherheit so nachdrücklich verstärken, wie wir das seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie getan haben. Es gibt eine dreifache Verstärkung der Nato Response Force. Das bedeutet, sie kann sehr schnell eingesetzt werden, wenn das notwendig ist. Wir versuchen, unsere Präsenz im östlichen Teil des Bündnisses zu verstärken. Deutschland spielt auch seine Rolle, was die Punkte High Readiness und eine Verstärkung der Nato-Truppen am östlichen Teil des Bündnisses angeht.

Unsere Botschaft ist: Wir sehen hier nicht etwa eine Konfrontation mit Russland. Wir möchten keinen neuen Rüstungswettlauf. Deswegen kombinieren wir eine Botschaft der Bereitschaft zu kollektiver Verteidigung mit einer sehr nachdrücklichen Botschaft, dass wir einen Dialog wollen, dass wir diese Chance der politischen Kontakte mit Russland offenhalten wollen und dass wir auch in Zukunft kooperativer und konstruktiver mit Russland zusammenarbeiten wollen. Wir glauben nicht, dass es in irgendeiner Weise ein Widerspruch ist, dass wir einerseits unsere Verteidigung aufrechterhalten und gleichzeitig unseren Dialog aufrechterhalten. So lange man glaubwürdige Abschreckung hat, kann man natürlich auch einen Dialog mit Russland führen und auch versuchen, unser Verhältnis zu unseren Nachbarn zu verbessern.

BK'in Merkel: Was die Abstimmung im Deutschen Bundestag anbelangt, so will ich gerade auch in Anwesenheit des Nato-Generalsekretärs deutlich machen, dass Deutschland und die Türkei vieles verbindet. Auch wenn man in einer bestimmten Frage unterschiedlicher Meinung ist, ist die Breite unserer Beziehungen, auch die Breite unserer freundschaftlichen und strategischen Beziehungen - angefangen von den Verteidigungsfragen über viele andere Fragen -, sehr groß. Nicht zuletzt gibt es drei Millionen türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger, die in Deutschland leben.

Deshalb möchte ich und auch die ganze Bundesregierung gerne dazu beitragen, dass wir gerade in der Frage der Ereignisse vor 101 Jahren den Dialog zwischen Armenien und der Türkei befördern, dass wir alles tun, damit die Partner wieder darüber reden können, wie man die Geschichte aufarbeitet. Auf der anderen Seiten möchten wir die ganze Breite der deutsch-türkischen Beziehungen pflegen und den Menschen türkischer Abstammung in Deutschland sagen, dass sie nicht nur bei uns willkommen sind, sondern dass sie Teil unseres Landes sind und auch bleiben werden und dass zu einer demokratischen Kultur auch strittige Auseinandersetzung über mancherlei Fragen gehört.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, eine Reihe von europäischen Staats- und Regierungschefs haben jetzt signalisiert, dass sie, wenn Großbritannien sich entscheidet, die EU zu verlassen, sich jedenfalls nicht besonders anstrengen werden, ihre Rechte, ihr Verhältnis zur Europäischen Union neu zu verhandeln, und zwar vor allen Dingen in Bezug auf den Binnenmarkt. Was wären Ihrer Ansicht nach die Folgen eines "Brexit" für Europa, für Großbritannien? Wenn Großbritannien sich entscheiden sollte, die EU zu verlassen, was würde denn dann andere Länder daran hindern, dem ebenfalls zu folgen?

BK'in Merkel: Erst einmal ist es natürlich die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens, wie sie beim Referendum stimmen. Ich habe schon mehrfach gesagt: Ich persönlich wünsche mir, dass Großbritannien Teil der Europäischen Union bleibt.

Warum wünsche ich mir das? Weil wir mit Großbritannien zusammenarbeiten - insbesondere dann, wenn die Europäische Union sich neue Regeln gibt, die Regeln weiterentwickelt - und weil ich glaube, dass, wenn wir innerhalb der Europäischen Union zusammensitzen, jede Seite - Großbritannien und alle anderen Mitgliedstaaten - ihre Argumente viel effizienter und besser einbringen und sagen kann, was ihr wichtig ist und deshalb jedes Resultat besser ist, als wenn man von außen verhandeln muss.

Zweitens bezieht sich das insbesondere auf das, was die Europäische Union so stark macht. Und das ist der Binnenmarkt. Im Binnenmarkt ist die Zusammenarbeit zwischen uns und Großbritannien mit allen Bundeskanzlern immer sehr, sehr eng und gut gewesen. Der Binnenmarkt muss weiterentwickelt werden - im digitalen Bereich, im Bereich der Dienstleistungen. Nach meiner Erfahrung jetzt ja auch schon einiger Jahre wird man gerade in Bezug auf die Sachen, die wichtig sind, niemals ein so gutes Ergebnis von Verhandlungen bekommen, als wenn man gemeinsam diese Dinge verhandelt und gemeinsam seine Argumente einbringt.

Wir würden mit jemandem, der von außen kommt - wir haben ja schon viele Verhandlungen mit Drittstaaten geführt -, nie sozusagen die gleichen Kompromisse eingehen und die gleichen guten Ergebnisse für Staaten erzielen können, die eben nicht die Verantwortung und auch die Kosten des Binnenmarktes mittragen. Wenn man einmal an die Handelsabkommen denkt, die für Deutschland, für Großbritannien und für alle von uns wichtig sind, dann kann ein Land allein überhaupt nicht solche guten Ergebnisse erzielen. Deshalb glaube ich, dass es in unser aller Nutzen ist, aber es könnte auch im britischen Nutzen sein, zu sagen: Wir bringen unser ganzes Gewicht in die Verhandlungen als Teil der Europäischen Union ein. Das wird für die Menschen in Großbritannien qualitativ besser sein, als wenn das von außen geschieht. Da bin ich mir ganz sicher.

Um jetzt aber kein Missverständnis auftreten zu lassen: Die Menschen in Großbritannien entscheiden. Wir können nur sagen: Wir glauben, dass das etwas ist, das gerade auch britische Anliegen sehr viel besser zur Geltung bringen würde.

Frage: Herr Generalsekretär, welche Probleme sehen Sie für das Militärbündnis mit Blick auf das derzeit belastete Verhältnis zwischen den Nato-Partnern Deutschland und Türkei, auch wegen der Armenien-Resolution? Der türkische Ministerpräsident hat ja von einem "echten Freundschaftstest" gesprochen.

Frau Bundeskanzlerin, apropos Freundschaftstest: Ist der Koalitionsausschuss gestern Abend mit seiner Einigung auf die Ökostromreform ein Zeichen der Entspannung zwischen Ihnen und Herrn Seehofer? Erwarten Sie nun von ihm Zugeständnisse bei der Erbschaftssteuerreform?

GS Stoltenberg: Die Türkei ist der Nato-Verbündete, der am meisten durch die Morde, die Konflikte und die Aufstände in Syrien, aber auch in der übrigen Nachbarschaft betroffen ist. Es gibt fast drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei von dort. Sie haben sie aufgenommen. Sie sind in vielerlei Hinsicht direkt von den Krisen betroffen, die wir im Süden, aber vor allen Dingen auch in Syrien erleben. Sie haben auch eine Reihe von terroristischen Anschlägen erlebt. Es hat eine ganze Reihe von Artilleriebeschüssen von Syrien gegen Zivilpersonen in der Türkei gegeben. Das heißt also, man muss sich schon klarmachen, dass die Türkei unter einem besonderen Druck steht und dass die Türkei auch eine Schlüsselrolle spielt, um bei unseren gemeinsamen Anstrengungen gegen den IS vorzugehen. Denn wir nutzen ja Luftwaffenbasen dort, und wir nutzen auch bestimmte Einrichtungen für unsere Mission dort. Die Nato-Verbündeten versuchen ja auch, dazu beizutragen, den IS nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien zu bekämpfen und seine Fähigkeiten entschieden zu reduzieren.

Die Nato hat aber gleichzeitig natürlich auch bestimmte grundsätzliche Werte, denen sie sich verschrieben hat, was Demokratie, Freiheit des Einzelnen und Rechtstaatlichkeit angeht. Ich persönlich sehe mich diesen Werten sehr, sehr eng verbunden. Das ist etwas, was ich sehr häufig sage. Solche Werte sind für die Einheit und die Stärke unseres Bündnisses sehr wichtig.

Sie haben auf die Frage Armenien abgehoben. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Die Türkei ist ein Nato-Verbündeter, und Armenien ist ein geschätzter Partner der Nato. Das bedeutet, dass die heutige Abstimmung im deutschen Parlament nicht ein Thema ist, in das die Nato in irgendeiner Weise involviert ist. Ich hoffe doch sehr, dass es eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen der Türkei und Armenien geben wird - und das so früh wie irgend möglich.

Ich glaube aber auch, dass es wichtig ist, dass wir alle die Bemühungen unterstützen, die einem Abbau der Spannungen dienen und dass wir vor allen Dingen auf diese Weise versuchen, jegliche Eskalation der Konflikte und der Probleme vorzubeugen, die sich eben zwischen Nationen ergeben können.

BK'in Merkel: In der Koalition haben wir das Ziel, die einzelnen Aufgaben, die wir noch zu lösen haben, auch gemeinschaftlich zu lösen. Da ist natürlich die Einigung auf eine EEG-Reform extrem wichtig, weil wir schnell damit ins Kabinett gehen müssen, um die Notifizierung gegenüber der Europäischen Union auf den Weg zu bringen. Das jetzige EEG-Gesetz, das Gesetz zu den erneuerbaren Energien, läuft Ende des Jahres aus. Wir brauchen hier natürlich Klarheit - auch für alle, die in den Bereich investieren wollen.

Wir haben gestern im Koalitionsausschuss des Weiteren einen wichtigen Schritt bei der Frage des Teilhabegesetzes in Bezug auf die Eingliederungshilfe gemacht. Hier wird die Koalition einen wirklich qualitativen Neustart auf den Weg bringen, nämlich dass behinderte Menschen nicht mehr sozusagen Bittsteller sind, sondern dass sie Ansprüche haben, dass gewürdigt wird, was sie gerade auch im Berufsleben leisten. Deshalb bin ich sehr froh, dass es uns gelungen ist, hierbei gestern voranzukommen.

In Sachen Erbschaftssteuer war klar, dass wir noch keine Einigung erreichen. Die Gespräche werden aber fortgesetzt - wie das so ist, wenn man ein kompliziertes Gesetzgebungsvorhaben hat -, genauso wie das im Bereich der Entgeltgleichheit stattfinden wird. Da sind sich alle drei Parteivorsitzenden der die Koalition tragenden Parteien komplett einig.

Danke schön.

Donnerstag, 2. Juni 2016

*

Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Nato-Generalsekretär Stoltenberg am 2. Juni 2016 in Berlin
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2016/06/2016-06-02-bkin-stoltenberg.html
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Dorotheenstr. 84, 10117 Berlin
Telefon: 030 18 272-0, Fax: 030 18 10 272-25 55
E-Mail: internetpost@bpa.bund.de
Internet: www.bundesregierung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang