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PRESSEKONFERENZ/1252: Kanzlerin Merkel nach dem ersten Tag des Europäischen Rates, 28.06.2016 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift Pressekonferenz in Brüssel - Dienstag, 28. Juni 2016
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach dem ersten Tag des Europäischen Rates


StS Seibert: Guten Abend, meine Damen und Herren, lassen Sie die Bundeskanzlerin Ihnen jetzt über den ersten Tag dieses Europäischen Rates berichten.

BK'in Merkel: Ja, meine Damen und Herren, ich möchte zu Beginn über eine Nachricht sprechen, die uns am Abend - parallel zu den Beratungen, die wir hier hatten - erreicht hat: die traurige Nachricht von den Anschlägen am Flughafen von Istanbul. Ich bin persönlich - und ich denke, wir alle im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs - so haben wir es uns auch gegenseitig gesagt - sind erschüttert über diese neuen und hinterhältigen Akte des Terrorismus. Die Türkei ist in den letzten Monaten immer wieder von terroristischen Anschlägen heimgesucht worden, und ich möchte in dieser Stunde besonders auch an die deutschen Touristen, die im Januar Opfer eines solchen Anschlags wurden, gedenken. Wir wissen heute noch nicht, wer und mit welchem Motiv heute Abend diese schrecklichen Taten verübt hat. Ich kann darüber jetzt auch nicht spekulieren, aber meine tiefe Anteilnahme gehört den Angehörigen der Toten und den Verletzten. Und ich möchte dem ganzen türkischen Volk von hier aus sagen, dass wir uns im Kampf gegen den Terrorismus vereint sehen und uns gegenseitig unterstützen werden.

Wir können sagen, dass der heutige Europäische Rat eine sehr dichte Agenda hatte. Wir haben zunächst konzentriert über die ja wirklich auch drängenden Themen wie Migration, die außenpolitischen Beziehungen der Europäischen Union und die Wirtschaftsentwicklung gesprochen. Und dabei ist klar geworden, dass das auch die Lage insgesamt widergespiegelt hat: Die Welt ist in Unruhe, die Welt wartet nicht auf die Europäische Union, und wir müssen uns in der Europäischen Union mit den Folgen von Instabilität, Krisen und Kriegen in unserer Nachbarschaft auseinandersetzen und bereit sein, zu handeln.

Wir haben deshalb auch heute mit dem Nato-Generalsekretär Stoltenberg den Nato-Gipfel in Warschau vorbereitet, also den Nato-Gipfel, an dem natürlich auch die EU-Nato-Beziehungen eine Rolle spielen werden. Wir hatten als Europäischer Rat die Außenbeauftragte beziehungsweise Hohe Vertreterin Mogherini damit beauftragt, eine neue globale Strategie der Europäischen Union zu erarbeiten. Sie hat uns heute diese Strategie vorgetragen. Die wesentlichen Inhalte sind ein stärkeres Europa in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir als Rat und die Kommission werden jetzt gemeinsam die Arbeiten fortsetzen, um diese Strategie dann in den Einzelheiten auszuarbeiten. Wir haben diese Strategie jedenfalls nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern wir werden an dieser Strategie auch weiter gemeinsam arbeiten.

Wir haben heute mit Blick auf die Beziehungen der Europäischen Union zu Russland - sowohl der französische Staatspräsident François Hollande als auch ich - noch einmal über den Stand der Umsetzung des Minsker Abkommens berichtet und damit deutlich gemacht, dass die Verlängerung der Sanktionen leider angesichts des Stands der Umsetzung notwendig ist. Damit steht der Verlängerung der Sanktionen auch nichts mehr im Wege.

Wir haben dann über die Migrationspolitik gesprochen. Wir hatten den Präsidenten der Europäischen Investitionsbank zu Gast und haben ihm einen Auftrag gegeben, eine Initiative für die südliche Nachbarschaft, den westlichen Balkan zu entwickeln. Diese Initiative wurde heute von Herrn Hoyer vorgestellt, und ich glaube, das ist eine wichtige Ergänzung der Tätigkeiten der Europäischen Investitionsbank.

Wir haben uns natürlich auch mit den Wirtschaftsthemen beschäftigt. Der Präsident der Europäischen Zentralbank war bei uns und hat uns berichtet, dass die EZB damit rechnet, dass das Referendum in Großbritannien natürlich auch Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung hat - und zwar keine positiven, sondern negative - und dass wir alles daran setzen müssen, gerade durch die Gemeinsamkeit der EU-27 die Zweifel an dem Zusammenhalt der Europäischen Union nicht wachsen zu lassen, sondern deutlich zu machen, dass wir uns diesen Tendenzen entgegenstellen.

Wir hatten heute auch zum ersten Mal Gelegenheit, mit dem niederländischen Ministerpräsidenten darüber zu sprechen, was die Auswirkung des Referendums in den Niederlanden auf die Frage nach dem EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen bedeutet: Der Europäische Rat hat den Rat beauftragt, so schnell wie möglich hierfür eine Lösung zu finden, die die Bedenken der niederländischen Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite aufgreift, aber auch für alle anderen Mitgliedsstaaten diese Frage annehmbar gestaltet, das heißt, dass wir versuchen eine Lösung zu finden, bei der die niederländischen Bedenken deutlich werden, auf der anderen Seite (jedoch) keine neuen Ratifikationen notwendig werden. Ob das gelingt, wird man in den nächsten Wochen sehen.

Und dann haben wir mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission darüber gesprochen, wie sich die weiteren Verhandlungen zu den Freihandelsabkommen gestalten - sowohl, was CETA angeht, als auch, was das Transatlantische Investitions- und Partnerschaftsabkommen betrifft. Wir haben noch einmal deutlich gemacht, dass wir heute noch nicht sagen können, ob wir die Ergebnisse billigen können, insbesondere was TTIP anbelangt, aber dass wir sehr wohl die Fortsetzung der Verhandlungen wollen. Im Zusammenhang mit dem kanadischen Abkommen hat die Kommission deutlich gemacht, dass sie hier kein gemischtes Abkommen sieht. Ich habe für die Bundesregierung deutlich gemacht, dass wir uns ein gemischtes Abkommen wünschen, bei dem dann auch die nationalen Parlamente beteiligt werden können. Die Fragen müssen jetzt weiter im Handelsministerrat beraten werden, aber die Kommission hat ihre Rechtsauffassung heute hier deutlich gemacht.

Heute Abend hatten wir ein Abendessen, natürlich mit dem britischen Premierminister, bei dem wir uns mit den Fragen des Ausgangs des Referendums am Freitag befasst und sehr intensiv und sehr tief auch miteinander diskutiert haben. Wir haben alle unser Bedauern über den Ausgang des Referendums zum Ausdruck gebracht und haben auch deutlich gemacht, dass die legale Prozedur sein muss, dass Großbritannien einen Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages stellt. David Cameron hat nochmal erklärt, dass er diese Entscheidung der neuen Regierung überlassen möchte, weil mit dieser Entscheidung natürlich auch die Frage verbunden ist, wie sich die zukünftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs mit der Europäischen Union gestalten.

Wir werden dann als Europäischer Rat Leitlinien festlegen müssen, und wir waren uns heute alle einig, dass es bis zu diesem Zeitpunkt der Antragstellung keine informellen oder formellen Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich geben kann. Dennoch war heute die Diskussion natürlich so, dass es sich hier um einen Einschnitt handelt - um einen historischen Moment, in dem wir alle schauen müssen, dass wir einerseits das Ergebnis des Referendums respektieren, dass wir die Austrittsverhandlungen führen werden, dass wir auf den Antrag des Vereinigten Königreichs warten, aber dass wir dann die Beziehungen auch im Geiste der freundschaftlichen Beziehung gestalten sollten - immer in Abhängigkeit davon, was die britischen Bürgerinnen und Bürger und die britische Regierung dann auch vorlegen, aber auch kommend von den Interessen, die wir haben.

Gerade im Blick auf das, was uns Mario Draghi heute vorgetragen hat, zeigt sich die tiefe Interdependenz zwischen den Wirtschaften der 27 Mitgliedsstaaten und des Vereinigten Königreiches. Und dem müssen wir natürlich auch Rechnung tragen und fragen: Was sind unsere Interessen in diesem Zusammenhang? Und deshalb kann man heute noch nicht voraussagen, wie genau diese Beziehungen aussehen. Morgen Vormittag werden wir unter den 27 miteinander diskutieren, welche Schlussfolgerungen wir für uns in Bezug auf unser gemeinsames Handeln - und das war heute auch ganz einhellige Meinung, dass wir gemeinsam handeln müssen - ziehen werden.

Und ich bin froh, dass uns der slowakische Premierminister Fico, der ja ab 1. Juli die Präsidentschaft übernimmt als Vertreter der Slowakei, dann eingeladen hat im September, um darüber noch einmal in einem informellen Rahmen vertieft zu diskutieren. Ich glaube, das ist ein guter nächster Schritt. Ansonsten werden wir natürlich alle Folgen des britischen Referendums auch Tag für Tag und Woche für Woche in den nächsten Wochen begleiten, beobachten und auch notfalls bereit sein, zu handeln.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, könnten Sie etwas mehr zu dem Inhalt der Gespräche mit Cameron sagen? Es hat geheißen, dass er sich entschuldigt hat für den Ausgang des Referendums. Und wie würden Sie die Atmosphäre im Raum beschreiben?

Zweite kurze Frage: Haben Sie die Möglichkeit besprochen, dass Großbritannien den Antrag gar nicht stellt? Und halten Sie diese Möglichkeit zum jetzigen Zeitpunkt für möglich?

BK'in Merkel: Um das Letzte gleich vorwegzunehmen: Die Möglichkeit haben wir nicht besprochen und ich halte das auch für nicht möglich. Das Referendum steht da, als Realität. Und ich habe nicht den Eindruck, dass es nicht Auftrag für die britischen Politikerinnen und Politiker - egal welchen Lagers, Remain oder Leave - sein könnte, sodass ich davon ausgehe, dass dieser Antrag gestellt wird - aber nach einer Zeit, in der auch die Antragsteller sich klar sind, welches Verhältnis sie in Zukunft zur Europäischen Union haben wollen. Wir haben deutlich gemacht, dass das keine Hängepartie werden kann und darf, und ich glaube, dass auch das Vorziehen der Entscheidung der Wahl eines neuen Parteivorsitzenden und damit Premierministers unter den Tories ein Indiz dafür ist, dass das auch alle verstanden haben.

Die Atmosphäre war ernsthaft, kameradschaftlich und natürlich von dem Bewusst-sein getragen, dass das ein eher trauriger Anlass ist - also dass es ein Anlass des Bedauerns ist, dass wir darüber sprechen, aber dass es eine Realität ist. Wir sind Politiker. Wir sind nicht dafür da, uns jetzt mit Trauer sehr lange aufzuhalten. Wir haben unsere Empfindungen deutlich gemacht, aber wir müssen die Realität wahrnehmen und müssen daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen.

Frage: Hat er sich entschuldigt?

BK'in Merkel: Also erstens mag ich es sowieso nicht, wenn man jetzt hier Wort für Wort aus den - - -

Zusatz: - - - (unverständlich) - - -

BK'in Merkel: - - - Ich glaube nicht. David Cameron hat sich ein anderes Ergebnis gewünscht. Das hat er zum Ausdruck gebracht.

Frage: In der Geschichte der EU hat es das ja schon häufiger gegeben, dass Referenden - grob gesprochen - gegen Europa ausgegangen sind und dann wiederholt wurden. Deswegen würde ich gern noch einmal nachfragen: Sehen Sie gar keinen Weg, diese Sache noch einmal umzudrehen?

Und wenn ich darf: Die Ankündigung, dass es auch nicht informelle Gespräche mit Großbritannien geben wird, bevor der Artikel 50 gezogen ist - schließt das auch ein, dass es keine bilateralen Gespräche, Beratungsgespräche, wie auch immer, zum Beispiel zwischen Ihnen und der britischen Regierung geben wird?

BK'in Merkel: Also, ich will ganz offen sagen, dass ich hier an diesem Abend keinen Weg sehe, das wieder umzukehren - und dass wir alle auch im Blick auf die zukünftigen Beziehungen gut daran tun, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Es ist nicht die Stunde von wishful thinking, sondern es ist die Stunde von Betrachten der Realität.

Zweitens: Wir werden natürlich bilaterale Gespräche miteinander führen, aber diese Gespräche werden den Charakter haben, dass wir erwarten - jedenfalls kann ich das für mich sagen -, dass uns die Vertreter Großbritanniens sehr deutlich sagen, welche Vorstellungen sie haben von dem Verlassen der Europäischen Union.

Ich verstehe den Artikel 50 so, dass er eine klare Sequenz meint - Antrag - , und der Antragsteller muss wissen, was er außer "Verlassen" möchte. Das hat auch etwas mit der zukünftigen Beziehung zu tun. Es ist ja klar, dass wir sehr eng verwoben sind. Also muss man auch sagen: Wo will man hin? Und dann können wir im Blick auf unsere Interessen - die wir natürlich auch haben und die wir uns überlegen werden - überlegen, wie wir auf dieses Begehren antworten. Aber dass Gespräche im Sinne von Quasi-Verhandlungen geführt werden, das glaube ich nicht.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, sind Sie eigentlich verärgert über David Cameron? Er hat ja diesen Weg aus innerparteilichen Gründen eingeschlagen. Er hat sehr viel Energie der Europäischen Union absorbiert. Sie haben sich ja hingesetzt, haben einen Deal ausführlich mit ihm ausgehandelt, der dann in dieser Referendumskampagne eigentlich gar keine Rolle gespielt hat. Er hat gebeten, man solle sich dort nicht einbringen und einmischen. Er hat trotzdem dieses Referendum nicht gewinnen können. Gibt es so etwas wie Groll gegen David Cameron?

Und eine kleine technisch Frage noch: Wer sollte aus Ihrer Sicht die Verhandlungen mit Großbritannien, wenn sie dann begonnen werden, führen? Sehen Sie da die Kommission als die richtige Adresse an?

BK'in Merkel: Ich würde jetzt so sagen: Groll, Ärger ist keine Kategorie politischen Handelns. Jeder von uns kennt so was, aber das hat mit professionellem politischen Handeln nichts zu tun. Wir haben Interessen zu vertreten, wir haben historische Konsequenzen zu bedenken, wir haben uns mit Realitäten auseinanderzusetzen. Das ist das, was Politik ausmacht. Und das muss man sich in diesen Stunden natürlich immer wieder auch sagen, dass das so ist. Und ich bin davon überzeugt, dass das dann auch der richtige Weg ist, mit der Situation umzugehen.

Der Artikel 50 ist so wunderbar formuliert, wie ihn Europa überhaupt nur formulieren kann: Einer stellt einen Antrag. Auf der Grundlage der Leitlinien verhandelt die Union dann den Austritt; ich kann das jetzt nicht ganz wörtlich zitieren. "Die Union" - wer ist "die Union"? Das bringt uns gleich wieder zu einer Reflektionsphase: Die Union sind ihre drei Institutionen: Der Rat, die Kommission und das Parlament - auch gleich schön mit den drei Artikeln: der, die, das.

In diesem Zusammenhang muss man dann auch wieder die Folge bedenken, nämlich: Wie wird dann der Beschluss gefasst als Ergebnis dieser Verhandlung? Das Parlament muss das Ergebnis mit Mehrheit beschließen und der Rat - nicht mehr der Europäische Rat - muss das mit qualifizierter Mehrheit bestätigen. Das zeigt doch schon, dass die Union in ihren drei Institutionen zusammenwirken muss. Und weil die Kommission aber nun zum Beispiel alle Beitrittsverhandlungen führt, hat sie das gesamte technische Wissen. Und trotzdem ist es nicht umsonst, dass der Europäische Rat die Leitlinien beschließt und auf dieser Grundlage dann die Verhandlungen geführt werden, das heißt, der Europäische Rat wird mit seinen Vertretern auch dabei sein, wenn man guckt, ob die Leitlinien eingehalten werden. Und weil das Parlament nachher anschließend das Ganze auch bestätigen muss, wird man das Parlament von Anfang an auch dabei haben müssen.

Das heißt also, man wird gut daran tun, eine kluge Mischung zu finden von allen. Aber ich glaube, das gesamte Fachwissen in den ganzen Fragen des Binnenmarktes - Sie müssen sich mal vorstellen, was das bedeutet! Wir wissen ja gar nicht, mit welcher Erwartung Großbritannien an uns herantritt. Jetzt müssen das Modell Norwegen, das Modell Schweiz, das Modell von irgendetwas dazwischen oder das Modell Kanada aus dem heutigen Bestand sozusagen zurückentwickelt werden. Und da spielt die Kommission natürlich eine wesentliche Rolle.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben die Handelsabkommen TTIP und CETA erwähnt. Nun wurde heute bekannt - Sie haben es ja gesagt -, dass CETA nach Vorstellung der Kommission nicht von den nationalen Parlamenten behandelt werden soll. Wie beurteilen Sie denn so eine Vorstellung, gerade angesichts des Umfeldes, in dem wir uns im Moment bewegen? Ist das nicht Wasser auf die Mühlen derer, die sowieso immer alles aus Brüssel kritisieren?

BK'in Merkel: Na ja, ich meine, wir müssen ja erstmal nach der Rechtssituation gehen. Da gibt es vielleicht unterschiedliche Auffassungen, aber die Kommission hat zumindest eine klare Aussage des Rechtsdienstes, dass es sich nicht um ein gemischtes Abkommen handelt. Ich finde, das müssen wir erstmal respektieren. Das hat ja erstmal mit der politischen Diskussion über die Partizipation der nationalen Parlamente nichts zu tun, sondern es geht um den Charakter des Abkommens.

Es gibt einen Fall vom Europäischen Gerichtshof, wo, glaube ich, am Beispiel des Freihandelsabkommens mit Singapur geklärt werden soll: Was ist ein gemischtes Abkommen, was ist ein nicht gemischtes Abkommen? Die Kommission vertritt jetzt hier ihre Rechtsauffassung. Ich habe heute in der Diskussion gesagt, dass es gute Gründe gibt, die nationalen Parlamente damit auch zu befassen, weil es eben auch eine politische Dimension gibt. Aber die muss man dann wirklich von der rechtlichen unterscheiden.

Und deshalb kann ich nicht die Kommission hier an den Pranger stellen und sagen: "Wenn sie eine Rechtsauffassung hat, dann ist das falsch." Die Kommission hat viele Freihandelsabkommen abgeschlossen, da ist nie die Frage nach den gemischten Abkommen gestellt worden und schon gar nicht aus dem Grund, weil man einfach sagt: "Jetzt müssen mal die nationalen Parlamente beteiligt werden."

Weil wir aber auch im Augenblick eine große Diskussion haben, glaube ich, ist es richtig und gut, eine Beteiligung zu finden. Und jetzt gibt es ja Mechanismen: Die Kommission kann durch den Rat der Handelsminister überstimmt werden. Und jetzt muss man mal gucken, was passiert, wie die Mitgliedsstaaten sich dann entscheiden, ob sie sich einhellig entscheiden - und was man dann aus der daraus entstehenden Situation macht. Für Deutschland kann ich erklären: Egal, wie das Ganze endet, wir werden den Bundestag um eine Meinungsbildung bitten, damit wir sozusagen auch die Partizipation des Bundestages haben, weil wir das als Unterstützung für unser Votum in Brüssel brauchen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, eine Nachfrage zu den Handelsabkommen: Wie ist es bei TTIP? Was macht Sie so sicher, dass Großbritannien - Sie haben ja erwähnt, dass solange die noch nicht ausgetreten sind und die Verhandlungsphase läuft, immer noch volles Mitglied mit vollen Rechten und Pflichten sind - diesem Abkommen zustimmen wird, obwohl es ja für Großbritannien dann als Nicht-mehr-Mitglied nicht unbedingt vorteilhaft sein muss, dass es TTIP gibt? Vielleicht können Sie das kurz erklären.

Und zweite Frage: Die Osteuropäer haben heute genau das angekündigt, wovor Sie gewarnt haben, nämlich bereits eine Debatte mit weniger Europa und Zurückverlagerung von Kompetenzen begonnen. Sind Sie damit zufrieden oder haben Sie das Gefühl, dass dadurch Ihre Versuche unterminiert werden, dass man nun bis September erstmal eine Reflektionsphase in Europa hat?

BK'in Merkel: Also, die Osteuropäer sind ja nicht die einzigen, die irgendwelche Vorschläge gemacht haben. Und jetzt haben wir heute noch gar nicht die Diskussion geführt, wie wir 27, ohne Großbritannien, die Dinge bewerten. Das werden wir morgen Vormittag haben. Darüber werde ich Sie dann nach der Diskussion informieren. Aber ich kann nur sagen: Es gibt eine Vielzahl von Vorschlägen, und jetzt müssen wir austesten, welche dieser Vorschläge die Zustimmung aller 27 finden. Auch die Vertreter der mittel- und osteuropäischen Länder haben heute sehr deutlich gemacht, dass die Gemeinsamkeit der 27 das zentrale Gut ist in dieser Phase der Entwicklung der Europäischen Union.

Zweitens: Jean-Claude Juncker hat das Thema "Weiterverhandeln im Zusammenhang mit dem Transatlantischen Investitions- und Partnerschaftsabkommen" heute auf die Tagesordnung gebracht. Es gab niemanden, der gesagt hat, es soll nicht weiterverhandelt werden - auch nicht Großbritannien. Es gab einige, die gesagt haben: "Wir können natürlich jetzt keinen Blankoscheck für die Ergebnisse geben", aber es war ein klarer Auftrag, weiterzuverhandeln.

Ich habe von meiner Seite auch nochmal dargestellt, dass die Rahmenbedingungen unter der Präsidentschaft von Barack Obama sehr gut sind und sich auf absehbare Zeit so nicht wiederholen werden. Großbritannien hat keinerlei Dinge zu erkennen gegeben, dass sie diesem Kurs nicht folgen werden. Eher ist es ja so, dass bei uns Leute sagen: "Wegen des möglichen Austritts oder wegen des Austritts Großbritanniens brauchen wir ja gar nicht mehr zu verhandeln, weil ein Befürworter dieses Abkommens verloren gegangen ist." Das halte ich nun wieder auch für eine ganz falsche These. Entweder wir wollen das - wir müssen das zum Schluss sowieso alle billigen - oder wir wollen das nicht. Aber für mich ist das kein Grund, jetzt die Verhandlungen abzubrechen.

StS Seibert: Sie haben es gehört: Wir sehen uns morgen wieder.

BK'in Merkel: Wir sehen uns schon morgen - knapp, aber immerhin - wieder. Heute ist sogar noch heute. Das ist eine großartige Sache.

Dienstag, 28. Juni 2016

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach dem ersten Tag
des Europäischen Rates in Brüssel am 28. Juni 2016
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2016/06/2016-06-29-bkin-pk-europaeischer-rat.html;jsessionid=6255B7842E95712326F6C450A6604B76.s7t1
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2016

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