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NORDRHEIN-WESTFALEN/2388: Seismograf der Gesellschaft (Li)


Landtag intern 4/2019
Informationen für die Bürgerinnen und Bürger

Seismograf der Gesellschaft

von Thomas Becker


Mehr als 5.000 Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern haben den Landtag im vergangenen Jahr erreicht. Die Schwerpunkte liegen seit vielen Jahren im Sozialrecht, in den Bereichen Wohnen, Bauen, Umwelt und Verkehr sowie im Ausländerrecht.


Manchmal ist das Glück zum Greifen nah - und doch fehlen Zentimeter. Wenige nur, aber das kann reichen, um Wege zu versperren. Wie bei einem hochbetagten Ehepaar aus Köln, das im eigenen Haus einen Treppenlift einbauen wollte. Die zuständige Baubehörde lehnte einen entsprechenden Antrag mit der Begründung ab, der Hausflur sei zu schmal.

Um eine Lösung zu erwirken, reichte das Ehepaar eine Petition im Landtag ein. Darin legten sie dar, dass ein Umzug für sie zu beschwerlich und der Lift notwendig sei. Bei einer Begehung vor Ort machte der Petitionsausschuss einen Vorschlag: Man könne das Geländer im Treppenhaus um einige Zentimeter verlegen, um bau- und brandschutzrechtliche Bedenken auszuräumen. Die Baubehörde stimmte dem leicht veränderten Bauantrag schließlich zu - zur Freude des Ehepaars: Der Weg war bereitet, um die oberen Etagen ihres Hauses wieder bequem zu erreichen. Mit Fällen wie diesem beschäftigt sich der Petitionsausschuss häufig. Im vergangenen Jahr trafen rund 5.000 Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern ein, die von 21 Ausschussmitgliedern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Verwaltung bearbeitet wurden. Inhaltliche Schwerpunkte liegen seit Jahren im Sozialrecht, in den Bereichen Wohnen, Bauen, Umwelt und Verkehr sowie im Ausländerrecht. Erreichen den Landtag mehr als hundert Gesuche zu einer Thematik, ist von "besonderen Petitionen" die Rede. Zuletzt war das zum Beispiel bei den Themen dauerhaftes Wohnen in Wochenendhäusern und Verbot von Nutztiertransporten in EU-Staaten und Drittländer der Fall.

Eingereicht wurde in diesem Jahr auch eine medienwirksame Massenpetition, die sich für eine Verlegung des Einschulungsstichtags für Kinder einsetzt. "Der Landtag Nordrhein-Westfalen verspricht allen Bürgerinnen und Bürgern, dass jede einzelne Eingabe durch den Ausschuss geprüft wird", sagt der Abgeordnete Serdar Yüksel, Vorsitzender des Petitionsausschusses. Da die Eingaben aktuelle Probleme aufzeigen, wirken sie insgesamt wie ein Seismograf gesellschaftlich relevanter Themen und ein Spiegelbild dessen, was Bürgerinnen und Bürger bewegt und ihren Unmut auslöst.

Der Ausschuss tagt rund 15 Mal im Jahr in nicht öffentlicher Sitzung. Zu jeder Petition holt er eine Stellungnahme der zuständigen Behörde ein und gibt eine Bewertung ab. In den meisten Fällen sind die Stellungnahmen und die Recherchen der Landtagsverwaltung ausreichend, damit die Abgeordneten eine Bewertung des Sachverhalts vornehmen können. Wenn sich kein ausreichendes Bild bietet oder Fragen offenbleiben, beschließt der Ausschuss, das aufwendige Verfahren der Erörterung nach Artikel 41a der Landesverfassung durchzuführen - das geschieht in 15 bis 20 Prozent der Fälle.


Im Land unterwegs

Pro Jahr sind die Abgeordneten rund 600 Mal zu Erörterungen im Land unterwegs. In der Regel werden dazu auch die Petentinnen und Petenten sowie Vertreter der Behörden eingeladen. Die Ministerien der Landesregierung entsenden ebenfalls einen Vertreter. Das Erscheinen ist für die Behörden Pflicht. Der Petitionsausschuss ist in dem Verfahren ein Mediator zwischen Bürgern und Behörden. Die Erfolgsquote von Petenten in den Fällen mit Erörterung liegt bei rund 50 Prozent - und damit wesentlich höher als bei nur schriftlichen Verfahren.

Erfolgreich endete auch das Gesuch einer jungen Frau, deren neugeborenes Baby vom Jugendamt in Obhut genommen wurde. Laut Aktenlage hatte das Jugendamt diese Entscheidung getroffen, weil die Petentin als geistig behindert galt und unter Betreuung stand. Im Erörterungstermin schilderte die tieftraurige, aber selbstbewusste Frau den Abgeordneten ihr Schicksal. Sie leide unter einer schweren Legasthenie, sei aber nicht geistig behindert. Der Ausschuss setzte sich für die Petentin ein; das Baby kehrte nach Monaten zu seiner Mutter zurück.

Ein anderer Fall aus dem Ausländerrecht: Ein Petent war als Kind aus Mazedonien geflohen. Als Analphabet und ohne deutsche Sprachkenntnisse hatte er anfänglich Schwierigkeiten, sich im Schulsystem zurechtzufinden. Aber er wollte auf eigenen Beinen stehen und nahm einen Job bei einer Fastfoodkette an, wo er einen Arbeitsvertrag erhielt. Dennoch wurden ihm die Aufenthaltsduldung und Arbeitserlaubnis entzogen, da er wegen angeblich mangelhafter Deutschkenntnisse nicht gut integriert sei. Beim Erörterungstermin stellte er unter Beweis, dass er alle Voraussetzungen für eine gelungene Integration erfüllte.

Nicht immer gelingt es, alle Beteiligten von einer gemeinsamen Lösung zu überzeugen. So ist es dem Ausschuss aufgrund der durch Artikel 97 des Grundgesetzes gewährleisteten richterlichen Unabhängigkeit verwehrt, gerichtliche Entscheidungen zu überprüfen, zu ändern oder aufzuheben. Entscheidungen der Gerichte können nur nach den Bestimmungen der jeweiligen Prozessordnung durch die nächsthöhere gerichtliche Instanz überprüft werden. Ist der Instanzenzug ausgeschöpft, muss das Ergebnis hingenommen werden. Aber selbst wenn ein Gesuch nicht mit dem erhofften Ergebnis endet, geht von der Arbeit des Ausschusses ein wichtiges Signal aus: dass sich gekümmert wurde und die teils abstrakte Welt der Paragrafen ein Gesicht erhält, wenn bei Erörterungsterminen alle Beteiligten an einem Tisch sitzen. Manchmal hilft das, eine Entscheidung nachzuvollziehen und weniger Groll gegen Behörden zu hegen, die nach aktueller Rechtslage entschieden haben.

Alle Bürgerinnen und Bürger dürfen Petitionen einreichen, auch Kinder, Jugendliche, ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger und Gruppen wie Vereine, Schulklassen oder Bürgerinitiativen. Fragen beantwortet das Petitionsreferat des Landtags
unter Telefon 0211/884-2143/4248 oder
per E-Mail an petitionsausschuss@landtag.nrw.de.
Eine Petition muss schriftlich eingereicht werden, Namen und Adresse des Absenders enthalten und unterschrieben sein. Über die Internetseite des Landtags www.landtag. nrw.de (Petitionen/Online Petition) können Petitionen auch online eingereicht werden. Wenn Urteile gesprochen sind oder in privatrechtlichen Auseinandersetzungen, ist der Petitionsausschuss nicht zuständig.

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Quelle:
Landtag intern 4 - 50. Jahrgang, 16.04.2019, S. 16-17
Herausgeber: Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen
Platz des Landtags 1, 40221 Düsseldorf
Postfach 10 11 43, 40002 Düsseldorf
Telefon (0211) 884-2472, -2442, -2304, -2388, -2309
E-Mail: email@landtag.nrw.de
Internet: www.landtag.nrw.de, www.landtagintern.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2019

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