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INNEN/3073: Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion - Zeit zu handeln, Mut zu mehr Fortschritt in Europa


SPD-Pressemitteilung vom 6. September 2019

Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion - Klausur am 5./6. September 2019

Zeit zu handeln - Mut zu mehr Fortschritt in Europa



Sozialdemokratische Impulse für die neue europäische Legislaturperiode und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020

Europa steht vor wichtigen Weichenstellungen. In der neuen europäischen Legislaturperiode muss es gelingen, die dringend notwendigen Reformen und Fortschritte in Europa erfolgreich voranbringen. Angesichts eines mehr und mehr von Unsicherheit gekennzeichneten internationalen und ökonomischen Umfelds sowie des fortschreitenden Klimawandels kann es sich Europa nicht leisten, weitere Zeit verstreichen zu lassen. Die demokratischen und fortschrittswilligen Kräfte in Europa müssen jetzt zügig und gemeinsam handeln - für mehr Investitionen in nachhaltiges Wachstum und zukunftsfähige Jobs in einem sozialen Europa, für mehr Steuergerechtigkeit in Europa, für eine starke und wehrhafte europäische Demokratie und für ein Europa des Friedens und der humanitären Verantwortung. Wir wollen, dass dafür insbesondere auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr starke Impulse gibt. Was Europa jetzt braucht, ist ein gemeinsamer Kraftakt der Fortschrittswilligen.

Unsere Kernforderungen für die kommenden Jahre sind:

Den europäischen Zusammenhalt stärken - in Zeiten großer Herausforderungen

Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, sind ohne Zweifel enorm. Die globale Klimakrise wird in ihren Folgen zunehmend auch in Europa spürbar und kann nicht anders als durch eine noch deutlich ambitioniertere europäische Politik für nachhaltiges Wachstum und Klimaschutz beantwortet werden. In der internationalen Politik kehren überwunden geglaubte geopolitische Auseinandersetzungen zurück. Insbesondere die zunehmende Konfrontation zwischen den globalen Großmächten USA und China hat das Potential, die Stabilität der internationalen Ordnung aus den Angeln zu heben. Zusammenarbeit und Multilateralismus geraten zugleich durch einen neuen Autoritarismus und Nationalismus unter Druck, der auch in Europa selbst Fuß fasst. Nach der Kündigung des INF-Vertrages zum Verbot atomarer Mittelstreckenraketen durch Russland und die USA droht eine neue atomare Aufrüstungsspirale in Europa und weltweit.

Hinzu kommt: Der bevorstehende Brexit ebenso wie internationale Handelskonflikte schüren erhebliche Unsicherheit auch für die europäische Wirtschaft. Die Anzeichen für eine sich abschwächende Dynamik der Weltwirtschaft verdichten sich. Umso wichtiger ist es gerade für die deutsche Exportwirtschaft, dass Investitionen und Nachfrage im europäischen Binnenmarkt angekurbelt werden und sich Europa mit gemeinsamer Kraft für freien und fairen Handel weltweit einsetzt. Zugleich stellt sich die dringliche Aufgabe, die gewachsene Ungleichheit und die sozialen Spaltungen in Europa endlich abzubauen - auch um den Rechtspopulisten und neuen Nationalisten den Nährboden zu entziehen, auf dem sie Ängste schüren und Bevölkerungen und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufhetzen.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen - für eine Phase des Fortschritts in Europa

Auch wenn die Herausforderungen groß sind, hat Europa alle Möglichkeiten sie zu meistern, wenn es noch enger zusammensteht und auf die Kraft seiner Einheit vertraut. Die politischen Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament mögen nach der Europawahl unübersichtlicher geworden sein. Auch haben Rechtspopulisten und Nationalisten über ihre Beteiligung an Regierungen in Europa mehr Blockademöglichkeiten als in der Vergangenheit. Dessen ungeachtet verfügen die demokratischen und pro-europäischen Parteien in Europa aber noch immer über eine politische Gestaltungsmehrheit, die es mutig und entschlossen zu nutzen gilt. Die Zeit drängt.

In den letzten Jahren haben wir bereits wichtige Reformen in Europa angestoßen, etwa zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion, zur Steigerung von Investitionen oder zur besseren Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben dafür vielfach die entscheidenden Impulse gegeben und Blockaden der Vergangenheit gelöst - sei es im Europäischen Parlament oder sei es als Teil der Bundesregierung. Doch noch längst sind nicht alle notwendigen Reformschritte unter Dach und Fach.

Das gilt für die Stärkung der Währungsunion mit einem eigenen Eurozonen-Haushalt genauso wie für eine verbindliche Sozialagenda oder für eine effektive Mindestbesteuerung von Unternehmen, insbesondere der Internet-Giganten. Auch bedarf es in einigen Bereichen deutlich höherer Ambitionen, etwa damit Europa seinem eigenen Anspruch als Vorreiter im Klimaschutz auch wirklich gerecht wird. Bei diesen und etlichen weiteren Aufgaben sind Weichenstellungen und Ergebnisse in den nächsten Jahren dringend erforderlich. Insbesondere wollen wir dabei die deutsch-französische Partnerschaft noch weiter stärken, um im engen Zusammenspiel mit weiteren Partnern die notwendigen europäischen Impulse zu geben.

Auch tragen wir dafür Sorge, dass die bestehenden Strukturen und Formate der bilateralen deutsch-französischen Zusammenarbeit mit Leben gefüllt werden. Hinzu kommt die Herausforderung durch den Brexit: Wichtig ist, dass die EU an ihrer klaren Verhandlungslinie gegenüber Großbritannien festhält und sich auch weiterhin nicht auseinanderdividieren lässt. Natürlich gebietet die Vernunft, die Tür für eine gemeinsame Lösung mit Großbritannien nicht zuzuschlagen. Politische Rabatte, die dem Zusammenhalt Europas und des europäischen Binnenmarktes widersprechen, darf es aber nicht geben.

Bei alledem ist uns klar: Wer Europa stärken will, muss auch bereit sein, in Europa zu investieren. Deutschlands Zukunft ist auf das Engste mit Europas Zukunft verknüpft. Europa ist und bleibt unser bester Garant und wichtigster Handlungsrahmen dafür, dass wir uns eine gute Zukunft in Frieden und Wohlstand erarbeiten können. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir im Koalitionsvertrag die Bereitschaft unterstrichen, dass Deutschland auch im eigenen Interesse mehr als bisher zu einem reformierten gemeinsamen Haushalt der EU beisteuert. Diese Bereitschaft gilt es nun in den weiteren Verhandlungen über den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU (MFR) Schritt für Schritt weiter zu untermauern.

Natürlich wird es alles andere als einfach, einen neuen europäischen Aufbruch zu schaffen.

Dass es nicht leicht wird, darf aber nicht dazu führen, dass die demokratischen Kräfte in Europa resignieren oder sich im Klein-Klein verhaken. Das Gegenteil ist notwendig: Ein gemeinsamer europäischer Kraftakt der Fortschrittswilligen. Darauf kommt es in der neuen Legislaturperiode mehr denn je an. Dafür wollen wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Impulse geben. Und dafür wollen wir auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020 nutzen. Wir wollen sie zu einer Phase des Fortschritts in und für Europa machen.

Dabei setzen wir klare Prioritäten:

1. Ein Pakt für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in Europa
2. Eine europäische Initiative für mehr Steuergerechtigkeit
3. Eine starke und wehrhafte europäische Demokratie
4. Ein Europa des Friedens und der humanitären Verantwortung

1. Ein Pakt für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in Europa

Wir wollen mit einem Pakt für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit eine umfassende europäische Agenda der Innovation und sozial-ökologischen Transformation auf den Weg bringen. Unsere Botschaft ist, dass Nachhaltigkeit Chancen bietet, neue Wege der Wertschöpfung zu erschließen, unseren Wohlstand zu sichern und Europa zukunftsfest aufzustellen. Wir wissen längst, dass sich Investitionen in Umwelt- und Klimaschutz lohnen und dass eine werteorientierte Finanz- und Wirtschaftspolitik internationale Wettbewerbsfähigkeit sichert. Wir müssen aber auch politisch durchsetzen, dass soziale und ökologische Nachhaltigkeitsaspekte verbindlich in wirtschaftlichem Handeln verankert werden. Dazu brauchen wir auch gute und faire Handelsabkommen zur Gestaltung der Globalisierung, die Umwelt- und Klimaschutz, Arbeits- und Sozialstandards, Gleichstellung und Menschenrechte nicht nur festschreiben, sondern auch wirkungsvoll um- und durchsetzen können.

Die Herausforderungen der Digitalisierung, Dekarbonisierung, Globalisierung und des demografischen Wandels werden wir weder den Marktkräften überlassen, noch sie allein durch nationale politische Maßnahmen und Initiativen bewältigen können. Mehr denn je brauchen wir dazu ein starkes, nachhaltiges und gerechtes Europa. Nach den Jahren der Krisenbewältigung gilt es das Paradigma der reinen Sparpolitik in Europa zu überwinden und Europas Prioritäten entlang einer vorausschauenden Zukunfts- und Investitionspolitik auszurichten, die Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Innovation und soziale Gerechtigkeit verbindet. Das gemeinsame Europa muss im 21. Jahrhundert seine Legitimation und politische Begründung mehr denn je aus seiner gemeinsamen Kraft zur Zukunftsgestaltung beziehen.

a) Agenda für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung
b) Agenda für gute Arbeit und ein soziales Europa
c) Agenda für europäische Zukunftsinvestitionen
2. Eine europäische Initiative für mehr Steuergerechtigkeit

Mehr Steuergerechtigkeit zu schaffen, muss zu einem Kernprojekt der EU in den kommenden Jahren werden. Trotz wichtiger Fortschritte bei der Bekämpfung von grenzüberschreitenden Gewinnverlagerungen (Umsetzung der BEPS-Empfehlungen der OECD) nutzen internationale Großkonzerne noch immer die unterschiedlichsten Schlupflöcher, um ihre Gewinne auf Kosten der Gemeinschaft kleinzurechnen, in Staaten mit niedrigen Steuersätzen zu verschieben und letztlich so wenig Steuern zu zahlen wie möglich. Gerade auch die Internet-Giganten um Google, Facebook, Amazon und Co schaffen es bisher bei hohen Milliardengewinnen zugleich nur verschwindend geringe Steuern zu zahlen, gerade auch in Europa. Damit muss Schluss sein und es muss eine gerechte Besteuerung gewährleistet werden. Diese zusätzlichen Steuereinnahmen können dann in Bildung und Forschung, starke Kommunen oder eine gute Infrastruktur für die Bürgerinnen und Bürger investiert werden. Deshalb werden wir uns für eine europäische Initiative für mehr Steuergerechtigkeit stark machen.

3. Eine starke und wehrhafte europäische Demokratie

Europas friedliche Einigung ist ohne Freiheit und Demokratie im Innern nicht zu denken. Das Europäische Parlament ist dabei das Herzstück der transnationalen europäischen Demokratie, die einzigartig und beispiellos in der Welt ist. Allerdings werden Freiheit und Demokratie heute stärker als je zuvor in Zweifel gezogen oder teils offen angegriffen. Rechtspopulisten und neue Nationalisten stellen sich frontal gegen die Einheit Europas und die demokratischen Grundwerte, auf denen sie beruht. Zwar ist es den Nationalisten bei der Europawahl nicht gelungen, ihre vollmundigen Ankündigungen in erhebliche Stimmenzuwächse umzumünzen. Trotzdem verfügen sie über Blockademöglichkeiten und stellen eine ernste Herausforderung dar. Unsere Antwort hierauf darf nicht Verzagtheit und schon gar nicht Anbiederung sein, sondern muss auf den mutigen Ausbau und die Stärkung der europäischen Demokratie zielen.

4. Ein Europa des Friedens und der humanitären Verantwortung

Die europäische Einigung ist nach den kriegerischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ein Friedensprojekt. Angesichts der Herausforderungen im globalen 21. Jahrhundert hängen Frieden und Sicherheit unseres Kontinents mittlerweile mehr denn je auch davon ab, dass es Europa gelingt, Frieden und Stabilität in seiner Nachbarschaft und in den internationalen Beziehungen insgesamt zu fördern. Wir halten daher insbesondere auch an der Beitrittsperspektive der Staaten des westlichen Balkans fest und wollen, dass in einem nächsten Schritt nun zügig Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien aufgenommen werden. Wir wollen darüber hinaus, dass Europa als Friedensmacht für multilaterale Lösungen, starke Vereinte Nationen, Abrüstung und Entspannung, gerechte Entwicklung, den Schutz der Menschenrechte und eine nachhaltige Gestaltung der globalen Wirtschafts- und Handelsordnung eintritt. Dieser internationalen Verantwortung muss sich Europa auch in seiner Flüchtlings- und Migrationspolitik stellen, damit die politische Steuerung von Migration mit humanitärer Verantwortung besser als bisher zusammengebracht wird. Europäische Initiativen für Abrüstung: Auch wenn Europa selbst nicht Vertragspartner wichtiger Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen ist, so kann und muss Europa eine noch aktivere diplomatische Rolle einnehmen, um Abrüstung und Rüstungskontrolle weltweit zu stärken. Die Verhandlungen über das Iran-Abkommen haben gezeigt, dass Europa hierzu in der Lage ist.

Jetzt darf Europa nicht tatenlos zusehen, wenn wichtige Eckpfeiler der internationalen Rüstungskontrollarchitektur wie der INF-Vertrag zum Einsturz kommen und eine neue globale Aufrüstungsspirale droht. Abrüstung muss als strategisches Kernanliegen noch fester in der europäischer außen- und sicherheitspolitischen Strategie verankert werden. Auch ist für uns klar: Mit unserer Zustimmung wird es keine neuen Atomraketen in Deutschland und Europa geben. Zugleich wollen wir die europäischen Rüstungsexportrichtlinien weiterentwickeln und schärfen. Und wir wenden uns gegen pauschale Milliarden-Steigerungen bei den Militärausgaben. Stattdessen befürworten wir mehr und bessere Kooperation und Synergien zwischen den europäischen Armeen.

In einem komplexer werdenden globalen Umfeld muss Europa in der Lage sein, seine Interessen und Werte zu verteidigen. Dafür muss Europa verstärkt mit einer Stimme sprechen. Die Koordinierungsfunktion des Hohen Vertreters innerhalb der Kommission sollte gestärkt werden, um eine kohärente Außenpolitik zu ermöglichen. Außerdem muss neben der Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit der EU auch ihre Handlungsfähigkeit nachhaltig gestärkt werden. Die ständige strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) ist hierbei ein erster wichtiger Schritt. Daneben muss die EU weiter ihre zivile Krisenreaktionsfähigkeit stärken.

Langfristig ist unser Ziel ein europäisches Einwanderungsrecht zu schaffen.

Besonders wichtig ist auch: Wir stellen uns gegen eine Kriminalisierung privater Seenotrettung und plädieren für ein neues europäisches Seenotrettungsprogramm. Das Sterben auf dem Mittelmeer muss beendet werden.

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung vom 6. September 2019
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
Bürgerbüro, Willy-Brandt-Haus
Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin
Tel.: 030/25 991-300, Fax: 030/25 991-507
E-Mail: pressestelle@spd.de
Internet: www.spd.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2019

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