Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

AFRIKA/1023: Neue Gewalt im Sudan - "Böser Norden vs. Guter Süden"? (inamo)


inamo Heft 66 - Berichte & Analysen - Sommer 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Neue Gewalt im Sudan: "Böser Norden vs. Guter Süden"?

Von Roman Deckert und Tobias Simon


Am 9. Juli 2011 hat der Südsudan seine Unabhängigkeit erklärt und ist damit der jüngste Staat der Welt. Die Abspaltung vom Nordsudan wird jedoch überschattet von neuen Kämpfen in mehreren Grenzgebieten. Droht ein abermaliger Krieg an der Schnittstelle zwischen der arabischen und innerafrikanischen Welt?


"Baschirs Armee marschiert in Ölregion Abyei ein" (SPIEGEL), "Clooney: Satellit beweist Kriegsverbrechen im Sudan" (BILD), "Al-Baschir kämpft mit allen Tricks" (Welt) - so lauteten die Schlagzeilen in den deutschen Massenmedien Ende Mai 2011 nach heftigen Kämpfen in Abyei und dem benachbarten Südkordofan. Demnach war der Sachverhalt klar: die Regierung in Khartum war der Aggressor, die semi-autonome Regierung im südsudanesischen Juba im Recht. Differenzierungen gab es kaum. Eine nähere Betrachtung zeigt indes, dass die Lage viel komplizierter ist. Ein Rückblick auf die historische Entwicklung:


Koloniales und postkoloniales Erbe
Der Territorialkonflikt um Abyei schwelt bereits seit über einem Jahrhundert. Denn das umstrittene Gebiet wird zum größten Teil von den Ngok Dinka bewohnt, einer Untergruppe der größten Ethnie des Südens, der Dinka. Zugleich verbringen seit jeher die Misseriya, die sich als arabisch definieren, mit ihren Vieh- und Kamelherden die lange Trockenzeit in der fruchtbaren Gegend. Zwischen beiden Gruppen, die sich wiederum jeweils in zahlreiche Clans unterteilen, gab es zwar stets lokale Konflikte, traditionelle Mediationsprozesse ermöglichten jedoch lange Zeiten der friedlichen Co-Existenz. Die Situation verkomplizierte sich, als die anglo-ägyptischen Kolonialherren 1905 das südsudanesische Gebiet aus logistisch-administrativen Gründen der nordsudanesischen Provinz Kordofan zuschlugen. In den 1960er Jahren griff dann der Bürgerkrieg im Südsudan auch auf Abyei über. Zu einer erheblichen Verschärfung trug Sadik Al Mahdi in seiner ersten Amtszeit als Premierminister (1966/67) bei, indem er die Misseriya mit modernen Kleinwaffen aufrüstete. Der Urenkel des historischen Mahdi, der 1885 die osmanischen Besatzer aus dem Land vertrieben hatte, zählt noch heute die Nomadenstämme in Kordofan und im benachbarten Darfur zu seiner Machtbasis.

Das Friedensabkommen von Addis Abeba, das 1972 den ersten Bürgerkrieg der Postkolonialzeit beendete, sah zwar ein Referendum vor, in dem die Bewohner Abyeis über den Anschluss an den autonomen Südsudan entscheiden sollten. Diktator Jafar Numeiri, der sich in seiner Regierungszeit (1969-1985) vom nasseristischen Sozialismus über einen westlichen Liberalismus hin zum Islamismus wandte, verhinderte jedoch das Plebiszit unter dem Druck von Sadik Al Mahdi und dessen Schwager Dr. Hassan Al Turabi, dem Führer der sudanesischen Moslembrüder. Der Wiederausbruch des Bürgerkrieges im Süden 1983 verschärfte alsbald auch die Spannungen im Grenzgebiet des Westsudans. Als Mahdi 1986 zum zweiten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, setzte er die Hochrüstung der Misseriya fort, um sie als Milizen im Kampf gegen die Rebellen der Sudan People's Liberation Army (SPLA) zu nutzen. Wenn sich also der Führer der Umma-Partei, der als Imam zugleich auch der Ansar-Sekte vorsteht, heute als Exponent der friedlichen Demokraten präsentiert, so unterschlägt er seine eigene Mitverantwortung an der Eskalation. Gleiches gilt für seine bis vor kurzem enge Kooperation mit Libyens Diktator Muammar Ghaddhafi.

Es ist bezeichnend für die Kultur bzw. Unkultur der sudanesischen "Eliten", dass Mahdi 1989 von seinem Schwager Turabi in einem Coup islamistischer Armeekreise gestürzt wurde. Nominell führte General Omar Al Bashir das Regime der Ingaz ("Errettung") an, eigentlicher Machthaber war jedoch der Sheikh der Moslembrüder, bis er 1999 von seinen engsten Vertrauten abgesetzt wurde. In dieser Zeit propagierte Turabi den "Jihad" gegen die SPLA-Rebellen im Süden und in den Nubabergen von Südkordofan, wo die Bevölkerung wegen ihrer isolierten Lage am stärksten unter dem Krieg litt. Vor diesem Hintergrund mutet es zynisch an, wenn nunmehr Mahdi und Turabi gemeinsam die nordsudanesische Opposition gegen Präsident Bashir und seine National Congress Party (NGP) anführen. In der Bevölkerung haben sie jedenfalls weitgehend an Unterstützung verloren. Auch Mahdis Erzrivale Osman Mirghani, der Maulana der Khatmiyya-Sekte und Anführer der Democratic Unionist Party, ist ein hoffnungsloses Relikt der Vergangenheit. Der NCP muss man durchaus zugutehalten, diese feudalistischen und sektiererischen Strukturen gebrochen zu haben. Viele der heutigen Konflikte hat sie von den alten "Aristokraten" geerbt. (siehe auch INAMO Nr. 62)

Nach Turabis Sturz gelang prompt der erste Durchbruch auf dem Weg zum Frieden im Südsudan. Im Jahr 2002 schlossen NCP und der politische Arm der SPLA, das Sudan People's Liberation Movement (SPLM), unter Schweizer Vermittlung einen Waffenstillstand für die Nubaberge. Nach dem Vorbild dieser Einigung beendeten beide Seiten 2005 mit dem Comprehensive Peace Agreement (CPA) den Krieg im Süden und den angrenzenden Gebieten.


Abyei: Westbank des Sudans?
Das Abyei-Protokoll des CPA sah simultan zum Referendum über die Unabhängigkeit des Südsudans ein eigenes Referendum darüber vor, ob die Region zum Süden zurückkehren oder Teil des Nordens bleiben soll. Die Zugehörigkeit Südkordofans mit den Nubabergen zum Norden war unstrittig, allerdings waren "Popular Consultations" über Autonomieaspekte vorgesehen. So herausragend die historische Friedensleistung des CPA für den Südsudan ist, so sehr rächt sich nun, dass diese Streitpunkte nur vage geregelt wurden.

Im Fall Abyeis war zudem die genaue Grenzziehung umstritten. Die Ergebnisse einer entsprechenden Kommission lehnte die NGP ab. In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre genügte Anfang 2008 offenbar ein relativ nichtiger Anlass, heftige Kämpfe zwischen nördlichen Regierungstruppen und SPLA-Soldaten auszulösen. Sie kosteten etwa 100 Menschen das Lehen und schlugen circa 50.000 in die Flucht, Abyei-Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht. Daraufhin überwiesen NCP und SPLM den Fall an den Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag mit der Zusicherung, das Urteil zu akzeptieren. Ein Jahr später sprachen die Richter rund 40% des Gebiets, darunter die beiden großen Ölfelder Heglig und Bamboo, definitiv dem Norden zu. Obwohl das so festgelegte Territorium von Abyei damit kaum mehr über Ölvorkommen verfügt, sprechen viele westliche Medien im Bestreben nach Vereinfachungen weiterhin unverdrossen von einem "ölreichen" Gebiet.

Vielmehr geht es in dem anhaltenden Konflikt um die Residenzrechte und den Zugang zu Weideflächen für die Misseriya. Eine Lösung scheiterte bisher an der Frage, wer für das im CPA vorgesehene Referendum wahlberechtigt sein sollte. Die semiautonome, SPLM - dominierte Regierung des Südsudans hat sieh auf den Standpunkt gestellt, dass nur die südlichen Gruppen der Ngok Dinka abstimmen dürften. Die NCP hingegen forderte auch eine Teilnahme der Misseriya, die immerhin bis zu sechs Monate pro Lahr in dem Gebiet verbringen. In westlichen Medien herrscht die Sichtweise der SPLM vor. So argumentiert der renommierte Analyst John Ashworth, dass die "arabischen" Nomaden auf ihren Weidezügen lediglich Gastrecht hätten.(1)

Der Sudan-Historiker Douglas Johnson, der auch Mitglied der Grenzkommission für Abyei war, vergleicht die Misseriya gar mit den israelischen Siedlern in der Westbank.(2) Derart formaljuristische und polarisierende Begründungsversuche verstellen jedoch den Blick auf die Notwendigkeit einer Rückkehr zum gütlichen Ausgleich zwischen beiden Volksgruppen.


Der einseitigen Wahrnehmung folgen einseitige Berichte
Nachdem das für Januar 2011 geplante Referendum in Abyei ausgefallen ist, trat ein, was viele Beobachter befürchtet hatten: eine dramatische Eskalation der Gewalt. In den westlichen Medien herrscht Einigkeit darüber, dass die Schuld hieran allein bei Präsident Bashir und seinen Gefolgsleuten liegt. Tatsächlich hatten die Sudanese Armed Forces (SAF) in den vergangenen Monaten eine starke Präsenz an der Grenze zu Abyei aufgebaut. Dies bewiesen unter anderem Photos aus einer Satellitenüberwachung, die der Hollywoodstar und Sudan-Aktivist George Clooney finanziert. Geflissentlich unerwähnt blieb jedoch, dass sich auch die SPLA massiv aufgestellt hatte. Ebenso ignoriert wurden Berichte aus Kreisen der Vereinten Nationen, wonach südliche Polizeitruppen den Misseriya ihren traditionellen Herdenzug verwehrten, was zu ersten Zusammenstößen führte. Kaum Kritik erfuhr auch der Beschluss der Regierung in Juba, in dem Verfassungsentwurf für die unabhängige Republik Südsudan Abyei zum Teil des Staatsgebietes zu erklären - im eklatanten Widerspruch zum CPA.

Vor allem wurde aber der Ausbruch der Kämpfe vom Mai 2011 völlig verzerrt dargestellt. Nach Angaben der Mission der Vereinten Nationen im Sudan (UNMIS) und westlicher Diplomaten waren es nämlich SPLA-Soldaten, die einen UNMIS-Konvoy mit abziehenden Nord-Soldaten gezielt angriffen. Demzufolge hatten Eliteeinheiten der SPLA als Polizisten getarnt Abyei infiltriert und den Konvoy in einen Hinterhalt mit etlichen Todesopfern gelockt. Dies wäre nicht weniger als ein Kriegsverbrechen, das vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag geahndet werden müsste. Die Südregierung räumte immerhin ein, dass ein einzelner Polizist versehentlich einen Schuss abgefeuert und damit die Kämpfe losgetreten hatte. Doch selbst dieses Schuldeingeständnis wurde in der westlichen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.

Die genauen Hintergründe des Gefechtes einen Tag vor einem geplanten Besuch des UN-Sicherheitsrates - bleiben unklar. Die diplomatischen Quellen gehen davon aus, dass die Attacke direkt vom Administrator Abyeis angeordnet war, womöglich aus Rache. Es ist schwer vorstellbar, dass ein solches Vorgehen ohne eine gewisse Rückendeckung aus Juba stattfinden konnte. Zahlreiche führende SPLM-Politiker und SPLA-Militärs stammen aus Abyei, so etwa Dr. Luka Biong, der daraufhin von seinem Ministerposten in der Khartumer Zentralregierung zurücktrat. Außerdem der Ex-Geheimdienstchef der SPLA, Edward Lini, und "Außenminister" Deng Alor. Andererseits spricht vieles dafür, dass der SPLA-Generalstab von den Ereignissen überrascht wurde. So beteuerte der südsudanesische Präsident Salva Kiir, dass es keine Rückkehr zu einem Nord-Süd-Krieg geben würde. Ein ähnlich heterogenes Bild ergibt der Blick auf den Norden:

Es stimmt sicherlich, dass Präsident Bashir den Vorfall als willkommenen Anlass nahm, um seine Armee in Abyei einmarschieren zu lassen. Der Hintergrund dürfte zum einen sein, dass die Militärs mit der Sezession des Südens unzufrieden sind und ihre Position im Machtgefüge stärken wollen. Zuletzt hatten sie einen schmählichen Prestigeverlust erlitten, als israelische Kampfjets abermals ungehindert vermeintliche Hamas-Ziele im Ostsudan bombardieren konnten. Bashir wiederum, der mittlerweile den Rang eines Feldmarschalls hält, hat wohl das Interesse, durch eine neuerliche Fraternisierung mit der Armee seine Stellung gegenüber den verschiedenen NCP-Fraktionen zu behaupten. Dabei steht er unter dem innenpolitischen Druck der kriegstreiberischen Zeitung Intibaha. Sie bestimmt als Marktführer den öffentlichen Diskurs und wird von einem Onkel Bashirs geführt, der aber offenbar eine eigene Agenda verfolgt.

Schließlich muss der Einmarsch als Schachzug für die Verhandlungen über die weitere Aufteilung der Einnahmen aus der Ölförderung gesehen werden. Denn der Norden ist nach der Sezession auf relativ hohe Gebühren des Südens für die Nutzung seiner Pipelines und Terminals angewiesen, um einen Zusammenbruch seiner Wirtschaft zu vermeiden (siehe auch INAMO Nr. 65). Auf solch eine Strategie deutet auch die Tatsache hin, dass die Armee - anders als westliche Medien behaupten - keineswegs ganz Abyei erobert hat, sondern nur bis zum Bahr el-Arab / Kiir River marschiert ist. Die Regierung in Juba ihrerseits spricht ebenfalls nicht mehr von einem Referendum in Abyei. Sie scheint damit gleichfalls auf eine "Basar-Lösung" statt auf eine demokratische Entscheidung zu setzen. Die Leidtragenden dieser Machtspiele sind in jedem Fall die Zivilisten. Dutzende, womöglich Hunderte Menschen wurden bislang getötet, Zehntausende vertrieben.


Wenn Elefanten kämpfen
Vergleichbar ist die dramatische Situation in Südkordofan, die in erster Linie ein Nord-Nord-Konflikt ist. Dort hatte bis vor kurzem eine Große Koalition aus NCP und SPLM relativ reibungslos regiert. Die schwelenden Spannungen spitzten sich jedoch nach den Regionalwahlen vom Mai 2011 zu. Die Abstimmung war bereits um ein Jahr verschoben worden, nachdem es Streit um das Wahlregister gegeben hatte. Wegen dieser Verzögerung war es auch noch nicht zu den im CPA vorgesehenen "Popular Consultations" gekommen.(3) Zum Gewinner wurde der amtierende Gouverneur Ahmed Haroun (NCP) erklärt, der vom IStGH in Den Haag wegen Kriegsverbrechen in Darfur angeklagt ist. Während die Wahlbeobachter des Carter Center das Ergebnis als "glaubwürdig" bezeichneten, erkannte SPLM-Kandidat Abdelaziz Al Hillu es nicht an.

Es trifft gewiss zu, dass die Abstimmung weder frei noch fair war. Doch dies gilt sowohl für NCP wie SPLM. Beide Seiten haben gewohnheitsmäßig ihre Anhänger mit Geldaufwendungen zur Stimmabgabe motiviert. Die Einteilung der Wahlbezirke war offenbar zugunsten der NCP manipuliert. Hillu kämpfte ebenfalls mit harten Bandagen, indem er seinen SPLM-internen Gegenspieler Telephon Kuku von der Regierung in Juba gefangen setzen ließ. Dieses wenig demokratische Verhalten blieb in westlichen Medienberichten ebenso unerwähnt wie Hillus Weigerung, ein Angebot für eine neue Große Koalition anzunehmen. Kuku wiederum ist wie Hillu ein legendärer Feldkommandant der SPLA, beide haben massenhaft Blut an ihren Händen. Eine Unterscheidung in "Gut" und "Böse" ist also auch in diesem Fall höchst problematisch.

Die Lage spitzte sich dann wenige Tage nach dem SAF-Einmarsch in Abyei zu, als Präsident Bashir kurzfristig den Abzug der SPLA-Truppen aus Südkordofan forderte. Es steht außer Frage, dass dieses Ultimatum zu einer drastischen Eskalation der Lage führte. Zugleich muss man aber wohl schließen, dass Khartums Argumentation aus einer allgemein gültigen Staatsräson durchaus Sinn macht. Denn kein Staat kann die Existenz irregulärer Milizen akzeptieren. Daran ändert grundsätzlich auch nichts, dass die NCP eigene Milizen unterhält. Hillu trug seinerseits mit einem Konfrontationskurs zu einer weiteren Verschärfung bei.

Die Explosion der Gewalt erfolgte alsbald. Die genauen Vorgänge sind wieder einmal schwer durchschaubar. Angeblich entzündete sich der Konflikt an einem banalen Ereignis, nämlich der Auflösung eines SPLM-Büros und/oder einem Bankraub. In jedem Fall kam es zu heftigen Kämpfen zwischen SAF- und SPLA-Truppen in der Hauptstadt Kadugli. Zahlreiche Augenzeugen haben brutale Jagdszenen auf SPLM-Anhänger mit Dutzenden, vielleicht Hunderten Todesopfern geschildert. Berichte über Gräueltaten von Seiten der SPLA werden unterdessen weithin ignoriert. Zu Recht wird die nordsudanesische Armee für ihre Luftangriffe auf SPLA-Hochburgen kritisiert. Internationale Appelle an Hillu, der Khartum offen den Krieg erklärt hat, sind jedoch kaum zu vernehmen. Er vertraut offensichtlich auf die berüchtigte Logik sudanesischer Politiker und Warlords, dass nur mit einem Waffengang politische Zugeständnisse zu erreichen sind. Die Zeche für dieses Kalkül zahlen Zigtausende Zivilisten.

Ein sudanesisches Sprichwort besagt: Wenn zwei Elephanten kämpfen, leidet das Gras. In der derzeitigen Konstellation kämpft gleich eine ganze Herde Elephanten. Denn auch im Südsudan wüten rund ein halbes Dutzend Rebellionen, die in erster Linie in südsudanesischer Verantwortung liegen, mit bislang rund 1500 Todesopfern allein in diesem Jahr. Keine weltweite Beachtung fanden zum Beispiel Berichte, wonach die SPLA in Unity State an der Grenze zum Norden über 7000 Hütten abgebrannt hat, weil sie die Bewohner für Unterstützer der Aufständischen hält. Die Verhältnisse im Sudan sind viel zu komplex, um sie nach dem gängigen Muster "Böser Norden versus Guter Süden" zu beurteilen. Nicht jedes Massaker ist in Afrikas - noch - größtem Flächenstaat aus Khartum oder Juba ferngesteuert. Weder die Misseriya noch die Dinka, weder NCP noch SPLM, SAF oder SPLA sind monolithische Blöcke. Stereotypen helfen bei der Analyse der Probleme nicht. Im Gegenteil, sie verschärfen von außen die Konflikte, für deren Lösung freilich die Sudanesen die primäre Verantwortung tragen.

Die jüngsten Entwicklungen stimmen zweifelsohne pessimistisch. Allerdings hat die Vergangenheit auch immer wieder gezeigt, dass Krieg im Sudan kein Naturgesetz ist. Bemerkenswerterweise scheinen sich SPLM und SPLA im Süden von den einstigen Kampfgefährten im Norden zu distanzieren, um nicht die Unabhängigkeit ihrer neuen Republik zu gefährden.

Bashir wiederum muss befürchten, dass sieh die SPLA-Truppen in Kordofan mit den Rebellen im benachbarten Darfurverbünden. Eine militärische Lösung wie im überschaubaren Abyei ist erfahrungsgemäß unmöglich. Grund zur Hoffnung gibt, dass beide Präsidenten - sowohl Bashir wie Kur - stets ihre Entschlossenheit zum Frieden beteuern und sich auf persönlicher Ebene offensichtlich gut verstehen. Vor allem aber, dass ein volles Wiederaufflammen des Nord-Süd-Krieges weder im Interesse des einen noch des anderen liegen kann, da es ihre jeweilige Machtbasis zerstören würde.


*


Verfassungsstreit im Nordsudan

Der Charakter des neuen Nordsudan (siehe INAMO 65) wird sich entscheidend an der neuen Verfassung orientieren. Die jetzige Interimsverfassung muss mit dem Auslaufen des CPA am 9. Juli 2011 grundsätzlich abgeändert werden. Während der Entwurf der zukünftigen Übergangsverfassung der baldigen Republik Südsudan schon bekannt ist, trifft das Gegenteil für den Norden zu. Die Informationen zum Verfassungsprozess per se sind kaum der Öffentlichkeit zugänglich. Es ist aber davon auszugehen, dass in der nahen Zukunft der Entwurf veröffentlicht wird. Die Innenpolitik wird sich nach der Sezession des Südens verstärkt diesem Thema widmen.

Eine der Hauptfragen wird sein, inwiefern sich die islamistische Ideologie der NCP in der neuen Verfassung wiederspiegeln wird. Es ist unstreitig, dass die NCP kein monolithischer Block ist und Präsident Bashir unter enormen Druck durch radikale Islamisten steht. Es bleibt abzuwarten, ob seine Ankündigung, die Scharia als einzige Rechtsquelle und Arabisch als einzige Sprache im Norden nach der Abspaltung des Südens durchzusetzen, wahr werden wird. Dies stände in krassem Widerspruch zu der Vielfalt des Nordsudan mit Hunderten Ethnien und Sprachen. Zudem wäre ein solcher Schritt ein Rückfall zur Verfassung von 1998. Denn sie sah u.a. die Scharia als einzige Rechtsquelle und Arabisch als einzige Sprache vor. Die Übergangsverfassung von 2005 verfolgt jedoch einen liberaleren Ansatz und erhebt alle indigenen Sprachen zu Amtssprachen. Englisch und Arabisch sind die Arbeitssprachen für die Verwaltung und Legislative sowie für die höhere Bildung.

Die Scharia gilt nur für Muslime. Entscheidend wird sein, ob die Reformer oder die Hardliner sich innerhalb des NCP-Machtkampfes durchsetzen werden.

Von zentraler Bedeutung wird außerdem sein, inwiefern sich die "Grundrechts-Charta" (Bill of Rights) der Interimsverfassung von 2005 wiederfinden lassen wird. Sie ist im Vergleich zu den vorherigen sudanesischen Verfassungen in jeder Hinsicht die Beste. Deshalb wäre es wünschenswert, dass die Nachfolgeverfassung nicht stark von dieser abweichen wird. Wünschenswert wäre es außerdem, dass in der nahen Zukunft ein de-facto unabhängiger Verfassungsgerichtshof eingerichtet werden würde.

Zur Zeit arbeitet die NCP ohne formelle Einbeziehung der Opposition und Zivilgesellschaft an einem Entwurf. Diese stehen aber schon in den Startlöchern, bei einer Veröffentlichung des Entwurfs unverzüglich eine Debatte hierüber zu beginnen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern bzw. ob sie überhaupt bei der NCP Gehör finden. Gerade bei den beiden Hauptpunkten, Scharia und Arabisch (so.), wird die NCP austesten, wie intensiv der Protest hierüber ausfallen wird, und ggf. ihre Vorlage anpassen. Gerade auf Grund der überwältigenden Mehrheit der NCP im Parlament wird die Opposition es schwer haben, ihre Vorstellungen in die zukünftige Grundordnung einfließen zu lassen. Dann wäre es unwahrscheinlich, dass der Nordsudan nach der zukünftigen Übergangsverfassung auch zum ersten Mal in seiner Geschichte eine permanente Verfassung erhält.


Roman Deckert arbeitet seit 1997 im bzw. zum Sudan. Für die Berliner Nichtregierungsorganisation Media in Cooperation and Transition (MICT) hat er eine sudanesische Version des Wahl-O-Maten produziert (www.electionnaire.org). Derzeit betreut er das vom Auswärtigen Amt geförderte Projekt www.sodanvotes.com.

Tobias Simon ist Sudanexperte des Zentrums für Politische Schönheit (www.politicalbeauty.de) und hat die Organisation Sudanese Soul gegründet (www.sudanesesoul.org). Für Amnesty International hat er lange zum Sudan gearbeitet und ist zurzeit Sprecher für die Region Ostafrika. Er studiert Rechtswissenschaft an der Universität zu Köln.


Literatur

(1) Ashworth, John: More on Abyei, 25.05.2011
(2) Johnson, Douglas: Abyei - Sudan's Westbank, April 2011
(3) Verjee, Ali: Unfinished Business - The May 2011 State Elections in Southern Kordofan, 31. März 2011


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Südsudan
- Sudan Peoples Liberation Army (SPLA)


*


Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 66, Sommer 2011

Gastkommentar:
- Die verpaßte Gelegenheit, von Ali Saleh

Libanon / Hariris Tod
- Wer ermordete "Mr. Libanon"? Von Jörg Tiedjen / Norbert Mattes

Afghanistan
- Notizen aus der Republik "Tschuristan", von Matin Baraki

Israel | Palästina
Welche Rechte hat Israel? Von Joseph Massad
Raja Khalidi zum neoliberalen Konsens in Palästina, von Ray Smith

Israel | USA
- Israels Pharmaindustrie: Import, Export, Profit, von Grant F. Smith

Jemen
- Die drei Dauerkonflikte spielten keine so große Rolle im Aufstand, von Anonymus

Sudan
- Neue Gewalt im Sudan: "Böser Norden vs. Guter Süden"? Von Roman Deckert / Tobias Simon

Wirtschaftskommentar
- Aller Laster Anfang, von Fatih Baba Rasoul

Zeitensprung
- Zia ul-Haq (tot), ein US-Botschafter (für verrückt erklärt) + Mangos (explodiert), von Norbert Mattes

ex mediis
Dawud Gholamasad: Irans neuer Umbruch: Von der Liebe zum Toten zur Liebe zum Leben, von Asghar Schirazi
Michael Bröning: The Politics of Change in Palestine - State Building and Non-Violent Resistance, von Alexander Rüsche
Grant F. Smith: Spy Trade, How Israels Lobby undermines America's Economy, von Max Ajl
Steffen Hagemann: Die Siedlerbewegung. Fundamentalismus in Israel, von Tamar Amar-Dahl

//Nachrichten/Ticker//


*


Quelle:
INAMO Nr. 66, Jahrgang 17, Sommer 2011, Seite 66 - 69
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
Herausgeber: Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.
Redaktion: INAMO, Postfach 310727, 10637 Berlin
Telefon: 030/864 218 45
E-Mail: redaktion@inamo.de
Internet: www.inamo.de

Die inamo erscheint vierteljährlich, sie kann zum Preis
von 21 Euro plus 2 Euro Versand (innerhalb Deutschlands)
bei der Redakion abonniert werden.

inamo e.V. ist auf Unterstützung angewiesen. Spenden sind willkommen.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2011