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AFRIKA/1150: Algerien - Revolution unwahrscheinlich, Erinnerung an Jahre des Terrors omnipräsent (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. November 2012

Algerien: Revolution unwahrscheinlich - Erinnerung an Jahre des Terrors omnipräsent

von Giuliana Sgrena


Polizisten vor dem Einsatz gegen Demonstranten in Algier - Bild: © Giuliana Sgrena/IPS

Polizisten vor dem Einsatz gegen Demonstranten in Algier
Bild: © Giuliana Sgrena/IPS

Algier, 1. November (IPS) - Während der Arabische Frühling Nahost und Nordafrika weiter im Griff hat, ist die Revolution an Algerien vorübergegangen. Ein Volksaufstand wird nicht erwartet, zu präsent ist den Menschen in der ehemaligen französischen Kolonie der Preis, den ihnen der lange und blutige Befreiungskrieg (1954-1962) und der Kampf zwischen Staat und Islamisten in den 1990er Jahren abverlangt hatten.

Algerien ist während der Welle von Volksaufständen in der Region ungewöhnlich still geblieben. Den Anfang machte die tunesische Revolution im Dezember 2010. Viele Beobachter fragten sich damals, wann in Algerien Proteste gegen die herrschenden Mächte ausbrechen würden. Doch nicht zuletzt die Erinnerung an das 'schwarze Jahrzehnt', in dem etwa 200.000 Menschen in die Schusslinie Krieg führender islamistischer Gruppen gerieten, scheint jeden Gedanken an Rebellion im Keim zu ersticken.

"Wir wollen nicht länger mit Terroristen in Verbindung gebracht werden", sagt Amir Moussawi, ein 22-jähriger Student am Internationalen Handelsinstitut. Amir, der aus der 40 Kilometer von Algier entfernten Stadt Blida stammt, hat gute Gründe, politische Unruhen zu fürchten. Während der Terror-Periode in den neunziger Jahren war Blida eine Hochburg der Bewaffneten Islamistischen Gruppe GIA, der Zehntausende Morde an Zivilisten zwischen 1992 und 1999 angelastet werden.

2005 führte die neugewählte Regierung von Präsident Abdelaziz Bouteflika ein Amnestiegesetz ein, das den meisten ehemaligen militanten Islamisten Freiheit zusicherte. Damit sollte die Gewalt im Land abgeschwächt werden. Das Gesetz entlastete auch die Armee, der Morde, Folter und die Verschleppung Tausender Menschen angelastet wurden. Zahlreiche Verantwortliche für Massaker befinden sich folglich auf freiem Fuß und wurden für ihre Taten nie zur Rechenschaft gezogen.

"Die Mehrheit der radikalen Islamisten engagiert sich nicht mehr politisch", erklärt Samira Ababsa, eine junge Grundschullehrerin aus Algier. "Sie tauchten aus dem Untergrund auf oder kamen aus dem Gefängnis, mit Geld, das sie während der Terrorzeit aus Häusern der Opfer gestohlen hatten. Inzwischen führen sie selbst Geschäfte und haben Villen und Einkaufszentren gebaut."


Salafisten weiterhin aktiv

Nach einem Referendum, bei dem die Bevölkerung 2005 die Amnestieregelung annahm, kämpften nur die radikalen Salafisten weiter. Die meisten schlossen sich dem Terrornetzwerk Al Qaeda im Islamischen Maghreb (AQIM) an. Ali Belhhadj, in den neunziger Jahren einer der beiden Anführer der Islamischen Heilsfront, gilt heute als einer der Köpfe der salafistischen Gruppen in Algerien.

Während der Jahre des Terrors der 1990er Jahre waren Amir und Samira zwar noch Kinder. Sie erinnern sich aber genau an diese Zeit. "Meine Familie lebte in Angst", sagt Samira. "Manchmal konnten wir nicht aus dem Haus gehen."

Der Sohn eines Armeeoffiziers, der seinen Namen nicht nennen will, berichtet, dass Frauen rasch den Hass von Islamisten auf sich zogen. Junge Männer seien stets in Gefahr gewesen, von bewaffneten Gruppen rekrutiert zu werden oder wegen angeblicher Loyalität zum Militär getötet zu werden.

An ein normales Leben war in dieser Zeit nicht zu denken. Es gab keinen Ort, an dem man sicher war. Angriffe wurden in den Dörfern nach Einbruch der Dunkelheit verübt und in den Städten auch am helllichten Tag.

Für die Opfer sei der Albtraum weitergegangen, als die Täter begnadigt wurden und sich frei auf den Straßen bewegen konnten, sagt Cherifa Kheddar, die Vorsitzende der Vereinigung 'Unser Algerien', in der sich Angehörige von Opfern zusammengeschlossen haben. Viele Menschen in dem Land mit rund 29 Millionen Einwohnern seien "immun gegen Proteste und Demonstrationen."

Ein weiterer Grund für die relative Ruhe in Algerien könnte die im Verhältnis zu anderen Ländern der Region stabile Wirtschaftslage sein. Obgleich in Algerien weiterhin soziale Ungleichheit vorherrscht, ging es dem Land während der globalen Rezession immer gut.


Wirtschaft stützt sich auf fossile Brennstoffe

Fossile Brennstoffe sind nach wie vor das Rückgrat der Wirtschaft. Daten des 'African Economic Outlook' zufolge machten sie 2011 etwa 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) - etwa 71,4 Milliarden Dollar - und 98 Prozent des gesamten Exportvolumens aus. Im laufenden Jahr erwirtschafteten die beiden Rohstoffe Deviseneinnahmen von bis zu 182,2 Milliarden Dollar. Obwohl die Produktion im Erdöl- und -gassektor weiter sinkt, haben sich die Preise ständig erhöht.

Im vergangenen Jahr wuchs das algerische Bruttoinlandsprodukt um 2,6 Prozent. Als die Bevölkerung in Nachbarstaaten wie Ägypten und Tunesien in Scharen auf den Straßen protestierte, erhöhte die Regierung Algeriens die Löhne und subventionierte Wohnungen für die Armen.

Im Gegensatz zu anderen Ländern in Nordafrika und im Nahen Osten herrscht in der algerischen Zivilgesellschaft eine größere Offenheit vor. Es gebe viel Platz für politische Debatten, erklärt Amir. Studenten, Blogger und Nutzer des sozialen Netzwerks 'Facebook' tauschten im Internet Informationen über das aktuelle politische Klima aus, ohne dass sich die Behörden groß einmischten.

Dennoch hat auch Algerien Probleme. Die Arbeitslosenrate lag im vergangenen Jahr bei zehn Prozent. In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen erreichte sie im selben Zeitraum aber mehr als 21 Prozent. Die Armutsrate, die zuletzt 2006 ermittelt wurde, lag bei 23 Prozent.

Wie der bekannte Wirtschaftsexperte Rachid Seddak kürzlich in der Zeitung 'El Watan' erklärte, boomt der informelle Markt. In 2011 seien Transaktionen im Umfang von 35 Milliarden Dollar getätigt worden.


Korruption allgegenwärtig

Korruption grassiert praktisch auf allen staatlichen Ebenen. Betroffen sind Behörden und öffentliche aber auch private Unternehmen. Auf dem Korruptionsindex von 'Transparency International' kam Algerien im vergangenen Jahr unter 183 Ländern auf Platz 112.

Gruppen und Organisationen, die in Algerien gegen diese Ungerechtigkeiten angehen wollen, müssen sich auf den Widerstand des staatlichen Sicherheitsapparates gefasst machen. Armee, Polizei und Gendarmerie haben zusammen rund 500.000 Mitglieder. Da der Großteil der Bevölkerung noch unter den Schrecken der Vergangenheit leidet, ist kaum zu erwarten, dass sich die Bevölkerung auf eine offene Konfrontation mit den Streitkräften einlässt und damit riskiert, dass ein weiteres blutiges Kapitel in der Geschichte Algeriens geöffnet wird. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.africaneconomicoutlook.org/en/
http://cpi.transparency.org/cpi2011/results/
http://www.ipsnews.net/2012/10/algeria-skips-the-spring-of-discontent/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. November 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2012