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ASIEN/873: Minderheiten in China und die imperialistische Propaganda (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 42 vom 18. Oktober 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Menschen aus den Mittellanden
Minderheiten in China und die imperialistische Propaganda

von Ingo Nentwig



Die chinesische Prinzessin" - so heißt der "Münster-Tatort", den die ARD am 20. Oktober ausstrahlt. Ich habe ihn nicht vorab sehen können und bin auf die spärlichen Informationen angewiesen, die im Internet schon vorab zu finden sind. Eine "echte" Prinzessin aus China wird da, gleich in der Pathologie, ermordet. Sie war Künstlerin und - natürlich - "Dissidentin". Chinesische Künstler, zumal wenn sie in Münster ausstellen dürfen, können nur Dissidenten sein, das ist ja klar. Dazu war sie auch noch eine Nachfahrin der Kaiserinwitwe Cixi aus der Qing-Dynastie (1644-1911), also eine Mandschu aus der Herrscherfamilie der Aisin Gioro. Zu dieser Ausgangslage werden noch "chinesische Mafia", chinesische Diplomaten (in den bürgerlichen Medien geht das ja oft fließend ineinander über) und - weiß der Himmel wieso - Exil-Uiguren gemischt.

Zwar ist nicht Münster, sondern München das Zentrum exil-uigurischer Aktivitäten in Europa, aber egal: Tibet hat man schon hinreichend durchgenudelt, jetzt ist eben mal Xinjiang dran - oder "Ostturkestan", wie es in diesen Kreisen genannt wird. Ein derart zusammengestöpselter "Tatort"-Plot verspricht ein gruseliges Ergebnis. Meine Hoffnung da positiv enttäuscht zu werden, ist gering, zumal in Vorab-Rezensionen zu lesen war, dass das Münsteraner Team diesmal nicht so witzig sei, wie sonst immer. Da also zu befürchten ist, dass hier wieder einmal die Märchen der Mainstream-Medien propagiert werden sollen, als "Tatort" verpackt natürlich mit Wirkung auf Millionen Zuschauer, erscheint es sinnvoll, an dieser Stelle auf die Situation der Uiguren und die Nationalitätenpolitik der KP Chinas einzugehen.

Das mediale Konstrukt "China" ist so gestaltet, dass Tibeter oder Uiguren darin prinzipiell "fehl am Platz" erscheinen, als stehe außer Frage, dass diese beiden Völker "eigentlich" nicht zu China gehören können. Es ist dieser Jargon der Eigentlichkeit, der Vor- und Fehlurteile der Vergangenheit am Leben erhält und antichinesisch nutzbar macht. Doch schon der Titel unseres "Tatorts" geht hier in die selbstgestellte Falle. Die Prinzessin kommt aus dem Volk der Mandschu, das ja das Kaiserhaus der letzten chinesischen Dynastie stellte. Trotzdem heißt der "Tatort" korrekt "Die chinesische Prinzessin", nicht "Die mandschurische Prinzessin". Wäre das den "Tatort"-Machern auch passiert, wenn die Prinzessin als Tibeterin oder Uigurin ausgedacht worden wäre? Gewiss nicht! Dieses "sprachliche" Problem haben Chinesen nicht. In chinesischer Sprache heißt ein Bürger Chinas übersetzt "Mensch aus den Mittellanden" (Land der Mitte), ein "ethnischer" Chinese hingegen "Mensch der Han-Nationalität". Eine mandschurische Prinzessin ist also ganz selbstverständlich eine chinesische, eben eine "Prinzessin der Mittellande".

Die Konzepte der "ethnischen Zugehörigkeit" und der Staatsangehörigkeit sind in China seit seiner Entstehung als Einheitsstaat (221 v. u. Z.), genau genommen bereits in den 1 500 Jahren davor, voneinander getrennt und werden nicht zusammen gedacht. Das eine bedingt nicht zwingend das andere: "Mensch aus den Mittellanden" kann jeder sein (oder werden), einfach weil es kein ethnisches Konzept ist. Doch so wie heute in westlichen Medien einige ausgewählte ethnische Minderheiten als "eigentlich" nicht chinesisch betrachtet werden, so wurden und werden - oft leider auch in der Sinologie - einige Dynastien des chinesischen Reiches, z. B. die kitanische Liao, die jurchenische Jin, die mongolische Yuan und die mandschurische Qing, immer wieder irrtümlich - oder bewusst falsch - als "Fremddynastien" bezeichnet.

So wird China historisch ethnifiziert, so werden immer wieder Konflikte und Widersprüche in der chinesischen Gesellschaft ethnifiziert. Waren es früher koloniale Interessen - die Liste der Abtrennung chinesischer Territorien im 19. und frühen 20. Jh. ist lang, die Versuche auch Tibet und zumindest Teile Xinjiangs abzutrennen zahlreich - so sind es heute neoimperialistische Bestrebungen, denen ein starkes, erfolgreiches China ein Dorn im Auge ist, und die versuchen an das vielfach erfolgreiche Konzept des Schürens sogenannter "ethnischer Konflikte" anzuknüpfen um China zu schwächen.

Doch was hat es nun wirklich mit Xinjiang und den Uiguren auf sich? Xinjiang liegt im äußersten Westen der Volksrepublik und gehört seit über 2000 Jahren, seit der Han-Dynastie, zu China. Schon diese simple Tatsache wird von Separatisten und Kräften, die sie unterstützen, immer wieder geleugnet. Oder es wird darauf verwiesen, dass es auf dem Gebiet Xinjiangs nach der Han-Dynastie immer wieder Staaten gegeben habe, die von der jeweiligen han-chinesisch dominierten Dynastie unabhängig gewesen seien. Das ist wahr, trifft aber auf so gut wie alle anderen Gebiete Chinas, sogar auf die chinesischen Kernlande, ebenfalls zu. Als Xinjiang Teil Chinas wurde, gab es noch keine Uiguren, ja es gab überhaupt keine Turkvölker, und den Islam, die heute unter Uiguren vorherrschende Religion, gab es auch noch nicht. In Xinjiang dominieren spätestens seit der Yuan-Zeit ethnische Gruppen, die als turksprachig identifizierbar sind. Ihre Ethnogenese ist kompliziert und als "Nationalitäten" im modernen Sinn entstanden sie erst im 19. und 20. Jahrhundert. Die historischen "Uiguren" der chinesischen Antike haben mit dem neuzeitlichen Volk der Uiguren, das 1921 auf einer Konferenz in Taschkent quasi "gegründet" wurde, über die Namensgleichheit hinaus nur wenig zu tun und noch weniger gemeinsam. Im heutigen Xinjiang sind es drei große (Uiguren, Kasachen und Kirgisen) und zwei kleine (Usbeken und Tataren) Turkvölker, die dem Autonomen Gebiet sein "türkisches" und islamisches Gepräge verleihen. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe sind die Uiguren und deswegen heißt Xinjiang offiziell auch "Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang". Doch in Xinjiang leben auch in großer Zahl mongolische (Daur, Dongxiang, Mongolen), tungusische (Mandschu, Xibe) und indoeuropäische Völker (Tadschiken, Russen) und selbstverständlich Han- und Hui-Chinesen. Religionen wie tibetischer Buddhismus ("Lamaismus"), Schamanismus oder das orthodoxe Christentum, gehören genauso zu Xinjiang wie der Islam.

"Ostturkestan" als Name für Xinjiang, der von allen verwendet wird, die die Rechtmäßigkeit seiner Zugehörigkeit zu China bestreiten, war zunächst eine geographische Bezeichnung für die östlichen Gebiete des mittelasiatischen Siedlungsraums der Turkvölker. Die westlichen Gebiete waren Teil der Sowjetunion und sind inzwischen unabhängige Staaten (Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Turkmenistan). Politisch wurde der Begriff durch zwei neuzeitliche Staatsgründungen - die kurzlebige "Islamische Republik Ostturkestan" (1933-1934) in der Gegend von Kaxgar und die "Republik Ostturkestan" (1944-1949) im Gebiet des heutigen Kasachischen Autonomen Bezirks Ili.

Beide Republiken entstanden in einem Xinjiang, das als Provinz zur damaligen Republik China gehörte und waren unterschiedliche Reaktionen auf die verfehlte Politik und relative Schwäche der Kuomintang, der damals in China herrschenden Partei. War die erste noch der Versuch, einen islamischen "Gottesstaat" zu errichten, bestand die zweite aus heterogenen Kräften, darunter viele, die mit der angrenzenden Sowjetunion sympathisierten. In dieser Zeit und in diesem historischen Zusammenhang entstand auch die uigurische kommunistische Bewegung. Schon nach dem Sieg Chinas im zweiten Weltkrieg nahm die Möglichkeit einer progressiven Orientierung auf ein zukünftiges, neues China konkrete Gestalt an. Mit Gründung der Volksrepublik China wurde daraus Realität. Die reaktionären Kräfte in der Regierung der "Republik Ostturkestan" spalteten sich ab und gingen schließlich unter. Die anderen schlossen sich der jungen Volksrepublik an und Xinjiang wurde friedlich befreit.

Wenn auch dieser letzte Schritt zur Einheit Chinas gewaltfrei verlief, so war doch die Geschichte Xinjiangs während der Qing-Dynastie (1644-1911) und der Republik China (1912-1949) von Gewalt, von Bürgerkriegen, von Aufständen und ihrer jeweiligen Niederschlagung, geprägt. Diese Zustände waren immer wieder von den imperialistischen Staaten, vor allem Großbritannien, dem zaristischen Russland und den USA zur Einflussnahme genutzt worden. So übernahm die Volksrepublik China ein schweres Erbe, da insbesondere viele Uiguren jeder politischen Herrschaft, die ihnen von Han-Chinesen dominiert schien, zutiefst misstrauten. Die uigurischen Kommunisten hatten keinen leichten Stand. Als am 1. Oktober 1955 die "Provinz Xinjiang" in ein "Uigurisches Autonomes Gebiet" umgewandelt wurde, war die staatliche Integration formal abgeschlossen. Doch viele Widersprüche blieben.

Das konnte auch gar nicht anders sein. Erstens war Xinjiang historisch vom Islam geprägt, wurde von turksprachigen Völkern kulturell dominiert und war ökonomisch selbst für damalige chinesische Verhältnisse extrem unterentwickelt. Landwirtschaft und Wanderviehzucht dominierten, Industrie war so gut wie überhaupt nicht vorhanden. Das damalige Xinjiang als "feudalistisch" zu bezeichnen, wirkt vor dem Hintergrund eines europäischen Feudalismus noch beschönigend. In einem Staat, dessen Bevölkerung zu knapp 92 Prozent aus Han-Chinesen besteht und der in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Aufbau des Sozialismus begann, war Xinjiang zwangsläufig ein Sonderfall, vergleichbar höchstens mit Tibet. Zweitens war Xinjiang zwar historisch seit über 2 000 Jahren eng mit China und der chinesischen Geschichte verbunden, die Herrscher der kaiserlichen Dynastien hatten aber mit lokalen Herrschern zusammengearbeitet und meistens wenig Einfluss auf "innere Angelegenheiten" der Region genommen. Nun wurde Xinjiang Bestandteil eines modernen Einheitsstaates, und jede Politik der Zentralregierung in Peking wirkte sich auch unmittelbar auf die regionale und lokale Situation aus. Dies war auch der Grund, dass drittens Xinjiang Teil der wechselhaften Geschichte der VR China wurde. Ob "Großer Sprung nach vorn" oder "Kulturrevolution", jede politische Bewegung - im Guten wie im Schlechten - betraf auch Xinjiang. Als nun Anfang der 80er Jahre in China die Reformpolitik begann und auch die Nationalitätenpolitik der KP vergangene Fehler korrigierte und zu ihren theoretischen Wurzeln zurückkehrte, entstanden unter den Uiguren, vor allem unter Intellektuellen, panturkische und panislamische politische Bewegungen, die - historisch rückwärtsgewandt - die Frage einer Unabhängigkeit "Ostturkestans" erneut auf die Tagesordnung bringen wollten.

In den 90er Jahren gerieten einige dieser Gruppen auch in das Fahrwasser des islamistischen Terrorismus. Dabei war ausgerechnet die Unterstützung für afghanische Rebellen, die der damals antisowjetischen Politik der chinesischen Führung entsprang, ein Katalysator. Einige Uiguren gingen nach Afghanistan, wo sie geschult wurden und afghanische Rebellen gaben einen Teil der Waffen, die sie von der chinesischen Regierung erhalten hatten, unter der Hand an uigurische Untergrundgruppen weiter. Die Regierung in Peking war davon ausgegangen, dass die Reform ihrer Nationalitätenpolitik die Lage entspannen würde. Nun schien das Gegenteil der Fall zu sein. Doch tatsächlich wurden die Widersprüche nur sichtbarer und die Notwendigkeit, darauf politisch zu reagieren deutlicher.

Heute ist die Frage einer Abtrennung Xinjiangs von China kein Gegenstand seriöser Diskussionen mehr. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, auch eine Mehrheit der Uiguren, sieht eine anstrebenswerte Zukunft Xinjiangs nur innerhalb des chinesischen Staates. Dazu trug maßgeblich die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre bei, von der auch Xinjiang massiv profitierte. Die separatistischen Exil-Uiguren und die im Untergrund arbeitenden uigurischen Oppositionsgruppen in Xinjiang haben ihre politischen Ziele bereits selbst nachhaltig diskreditiert. Weder die Terroranschläge gegen Zivilisten mit insgesamt hunderten von Toten in den letzten 20 Jahren noch das rassistische Pogrom im Juli 2009, bei dem 197 Tote, überwiegend Han- und Hui-Chinesen, zu beklagen waren, sind geeignet Sympathien zu erwecken, auch nicht in der uigurischen Bevölkerung. Hinzu kommen peinliche Äußerungen von Rebiya Kadeer, der Präsidentin des sogenannten "Weltkongresses der Uiguren" (mit Sitz in München), die z. B. in einem Interview mit einer italienischen Journalistin sagte: "Siehst du, du gestikulierst wie ich, du hast die gleiche weiße Haut wie ich: du bist Indoeuropäerin, möchtest du von einem Kommunisten mit gelber Haut unterdrückt werden?" (La Stampa, 8. Mai 2009). Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass rassistische Äußerungen dieser Art (und positive Bezugnahmen auf den Hitler-Faschismus) in Gesprächen mit antichinesisch eingestellten Uiguren leider keine Seltenheit sind.

Doch auch die Politik der chinesischen Regierung hat Schwächen und es werden immer wieder schwere Fehler begangen, die nicht zur Entspannung der Situation beitragen. Oft überschreitet die Repression, die auf Anschläge oder andere Zwischenfälle folgt, jede vernünftige Grenze und bringt Menschen gegen Partei und Regierung auf, die zuvor gemäßigte Standpunkte vertreten hatten. Jemanden wie Professor Ilham Tohti (Zentrale Nationalitäten-Universität in Peking) zwischenzeitlich festzunehmen und seine Internet-Aktivitäten einzuschränken schadet der chinesischen Politik weitaus mehr als irgendwelche separatistischen Aktivitäten. Gerade mit Intellektuellen wie Tohti könnte die Kommunistische Partei ihre Xinjiang-Politik reformieren. Sie benötigt dringend bessere uigurische Kader, die ein höheres Ansehen in der Bevölkerung haben. Die neue Führung von Xi Jinping und Li Keqiang gibt durchaus Anlass zu der Hoffnung, dass sie mehr von den Problemen der Nationalitätenpolitik versteht, als ihre Vorgänger der letzten 20 Jahre.


In memoriam Burhan Shahidi (1894-1989) und Seypidin Ezizi (1915-2003), uigurische Kommunisten und chinesische Patrioten!

Unser Autor Dr. Ingo Nentwig ist promovierter Sinologe und Ethnologe. Er lehrt und arbeitet am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich und am Kolleg für Ethnologie und Soziologie der Zentralen Nationalitäten-Universität in Peking.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 42 vom 18. Oktober 2013, Seite 13
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2013