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ASIEN/952: Afghanistan - Hunderte Verletzte nach Taliban-Attacke in Kundus, Ärzte überfordert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Oktober 2015

Afghanistan: Hunderte Verletzte nach Taliban-Attacke in Kundus - Ärzte überfordert


BERLIN/RANGUN, MYANMAR (IPS/IRIN*) - Seit dem Ausbruch heftiger Gefechte in der nordafghanischen Stadt Kundus müssen mehrere Hundert verletzte Zivilisten dringend medizinisch behandelt werden. Nachdem das staatliche Krankenhaus schließen musste, sind derzeit nur Mitglieder der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) in der Lage, Patienten zu versorgen.

Die radikalislamischen Taliban eroberten am 28. September zunächst die gesamte Stadt, in der etwa 300.000 Menschen leben. In der Nacht zum 1. Oktober haben Spezialeinheiten der Armee die Extremisten jedoch aus Kundus vertrieben, teilte ein Sprecher des afghanischen Innenministeriums mit. Nach Angaben der Provinzregierung waren auch NATO-Soldaten an den Gefechten beteiligt. Nach Zeugenaussagen sind allerdings Taliban-Kämpfer in der Stadt untergetaucht und setzen ihre Angriffe fort.


Dutzende verwundete Kinder

"Das MSF-Krankenhaus ist völlig überfüllt, doch es kommen weitere Verletzte an", sagt der Koordinator Renzo Fricke der Nachrichtenagentur IRIN. Da die Gefechte andauerten, sei zu befürchten, dass neue Patienten bald nicht mehr aufgenommen werden könnten. Laut Fricke behandelte die Hilfsorganisation vom Morgen des 28. September bis zum 30. September bereits mehr als 250 Verwundete, unter ihnen 53 Kinder. Die meisten Patienten hatten demnach Schussverletzungen erlitten. 66 von ihnen wurden in einem kritischen Zustand in das Hospital eingeliefert.

Auch zwei Ärzte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz seien "rund um die Uhr" in dem Krankenhaus im Einsatz, erklärte IKRK-Sprecherin Neha Thakkar. "Während sich IKRK bemüht, die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten, fordern wir alle Konfliktparteien auf, das humanitäre Völkerrecht zu achten. Demnach dürfen sie keine Zivilisten und ihr Eigentum angreifen."

Bislang hätten die Taliban keine Gewalt direkt gegen Zivilpersonen angewendet, sagt Lola Cecchinel von der Beratungsfirma ATR mit Sitz in Kabul. "Allerdings haben sie Zivilisten in Gefahr gebracht, weil sie sich in deren Häusern verstecken, um sich unter die normale Bevölkerung zu mischen", heißt es in einer Erklärung der Organisation Amnesty International.

Cecchinel bezeichnete den Vorstoß der Taliban als "großen Schlag gegen den Zentralstaat". Staatspräsident Ashraf Ghani, der am 29. September ein Jahr im Amt war, wurde von mehreren Parlamentsabgeordneten attackiert, die in einer vom Fernsehen übertragenen Debatte seinen Rücktritt forderten. Sie warfen ihm vor, bei dem Kampf um die Kontrolle von Kundus versagt zu haben.

Ghani beschuldigte die Taliban, Zivilisten als lebende Schutzschilde benutzt zu haben. Seine Regierung wolle in jedem Fall verhindern, dass Einwohner von Kundus bei den Kämpfen getötet würden.


Vorwürfe gegen Präsident Ghani

Politische Beobachter sind überzeugt, dass Ghani viel früher gegen die Taliban hätte vorgehen müssen. Es wäre demnach notwendig gewesen, eine wirksame Strategie zur Rückeroberung von Teilen der Provinz Kundus umzusetzen und die Provinzhauptstadt besser zu sichern. "Obwohl Kundus zu den Provinzen gehörte, die ganz oben auf der Prioritätenliste standen, wurde wenig getan, um die dringlichsten Probleme zu lösen", sagte Cecchinel. In Kundus habe es keine klare Führung und nur unzureichende Verwaltungsstrukturen gegeben. Die Macht habe sich in den Händen so genannter Warlords konzentriert.

Auch für den Einsatz von Milizen, die die Regierungsgewalt in der Provinz ausüben sollten, wurde Ghani in diesem Jahr bereits heftig kritisiert. Bewohner von Kundus berichteten, Milizionäre hätten Zivilisten überfallen und erpresst sowie ihren Besitz gestohlen.

"Statt in Krisenzeiten in die staatlichen Streitkräfte zu investieren, unterstützt die Regierung weiterhin bewaffnete Gruppen, die dem Staat gegenüber wenig oder gar keine Loyalität zeigen", sagte Cecchinel. Die Milizen, deren Übergriffe auf die Bevölkerung straffrei blieben, unterhöhlten die Autorität der Regierung.

Der Einmarsch der Taliban in Kundus hatte nicht nur Ghani, sondern auch die USA in eine schwierige Lage gebracht. US-geführte Truppen hatten 2001 die Islamisten-Regierung in Afghanistan gestürzt. Kundus wurde in jenem Jahr als eine der letzten Städte im Land von US-amerikanischen und afghanischen Truppen erobert.

Nachdem die USA den größten Teil ihres Militärs inzwischen aus dem Land abgezogen haben, sehen sie sich nun erneut in das Kampfgeschehen verwickelt. Wie das Pentagon mitteilte, griff US-Militär die Taliban auf ihrem Vormarsch zum Flughafen von Kundus aus der Luft an.

Nach dem Gegenschlag der afghanischen Armee erschien die Lage in der Stadt am 1. Oktober zunächst als ruhig. Viele Bewohner trauten sich auf die Straße, und Geschäfte öffneten wieder. Augenzeugen zufolge haben sich jedoch Taliban-Kämpfer teils in erbeuteten afghanischen Militäruniformen unter die Bevölkerung gemischt und greifen weiterhin an. (Ende/IPS/ck/02.10.2015)

*IRIN ist ein Informationsdienst der Vereinten Nationen


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http://www.irinnews.org/report/102048/doctors-overwhelmed-in-afghan-city-taken-by-taliban

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IPS-Tagesdienst vom 2. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Oktober 2015

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