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ASIEN/976: Wem gehört die Stadt? Wettstreit um progressive Städte in Asien (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2017

Wem gehört die Stadt?
Wettstreit um progressive Städte in Asien

von Sergio Grassi


Die indonesische Redewendung Tua di Jalan bedeutet übersetzt »auf der Straße alt werden« und beschreibt den täglichen Geduldsmarathon im Straßenverkehr von Jakarta. In der indonesischen Hauptstadt bestimmt nämlich der Dauerstau den Rhythmus der Metropole und den Lebensalltag der Bewohnerinnen und Bewohner.

Zur Erholung gehen diejenigen, die es sich leisten können, in eine der 180 Shoppingmalls der Megacity. Hierbei handelt es sich häufig um Konsumtempel, in denen es neben exklusiver europäischer Mode und internationalen Restaurants auch riesige, kostenpflichtige Spielplätze gibt, von denen einige das Ausmaß von Rummelplätzen annehmen und mit Riesenrad, Autoscooter und Eislaufbahn ausgestattet sind. Auch Ausstellungen und Freizeitkurse werden in der Mall angeboten, die aus Mangel an Alternativen zum primären öffentlichen Raum in Jakarta geworden sind. Öffentliche Parks, Spielplätze und selbst begehbare Bürgersteige haben hingegen Seltenheitscharakter. Der Anteil der Grünflächen ist von 35 % im Jahr 1983 auf aktuell lediglich 6 % reduziert worden. Öffentlicher Raum ist somit hauptsächlich Bewohner/innen mit ausreichend Kaufkraft vorbehalten, während er für die anderen exklusiv ist. Öffentliche Dienstleistungen wie Bildung, Transport und Wasserversorgung unterliegen dem Trend zunehmender Privatisierung.

Ebenso exklusiv ist die Situation auf dem Immobilienmarkt; die Innenstadt Jakartas ist zunehmend von teuren Bürokomplexen und Luxusappartments geprägt, während die traditionellen Viertel (kampungs) aus dem Stadtbild verschwinden und deren Bewohner/innen in die Außenbezirke gedrängt werden. Mit ihnen verschwinden auch die zugrundeliegenden sozialen und kommunikativen Netzwerke sowie das Prinzip der gegenseitigen Unterstützung (gotong royong), die der indonesische Präsident Joko Widodo (der auch »Jokowi« genannt wird) stets als Essenz der indonesischen Gesellschaft und Nation bewirbt. Seit 2005 gibt es in Indonesien u. a. das sogenannte »1.000 Türme-Projekt«, dessen vorgegebenes Ziel der Bau von Hochhaus-Appartmenthäusern für Menschen mit geringen Einkommen war. Unklarheiten bei den Bodenrechten nutzten private Investoren jedoch für den Bau weiterer Luxusimmobilien aus, während selbst die einfacheren Apartments nur von denjenigen Kunden gekauft wurden, die aufgrund ihrer Einkommenssituation einen Bankkredit vorweisen konnten.

Smart City vs. Social City

Jakartas Gouverneur Basuki Tjahaja Purnama - genannt Ahok - ist für sein robustes Auftreten, seine Durchsetzungsfähigkeit und für seine Modernisierungsfortschritte bekannt. Als Stellvertreter des damaligen Gouverneurs Jokowi hatte Ahok 2014 das Amt übernommen, nachdem Jokowi aufgrund seiner Popularität als bürgernaher und progressiver Selfmademan zum Präsidentschaftskandidaten nominiert und anschließend zum Präsidenten gewählt wurde. Der chinesischstämmige Christ Ahok gilt als Macher, dem es zugetraut wird, anspruchsvolle und dringend benötigte Infrastrukturprojekte in Jakarta umzusetzen. Neben dem Bau eines Kanalisationssystems steht hierfür exemplarisch die seit 20 Jahren geplante und jetzt wieder im Bau befindliche U-Bahn. Vermutlich das wirksamste Rezept gegen den täglichen Verkehrskollaps in der Megametropole. So wird dem amtierenden Gouverneur über soziale, ethnische und religiöse Grenzen hinweg hoch angerechnet, dass die Stadtverwaltung seit seiner Amtsübernahme vergleichsweise effizienter wurde, die Korruption vermeintlich abgenommen hat, die Stadtreinigung verbessert wurde, sich die jährlich auftretenden Überflutungen drastisch reduziert haben und der stark verschmutzte Stadtfluss Ciliwung gesäubert wurde.

In den Hintergrund gedrängt: Datenschutz, soziale Aspekte, Bürgerrechte

In seinem Amtssitz präsentiert Ahok Besuchern mit Stolz seinen neu in Betrieb genommenen »Jakarta Smart City Kontrollraum«. Direkt über seinem Büro werten dort bis zu 90 Mitarbeiter/innen Daten von den in der ganzen Stadt aufgestellten Videoüberwachungskameras sowie von eingehenden Nachrichten der sogenannten »Netzbürger« (Netizens) auf einem überdimensionierten Kontrollbildschirm aus. Das futuristische Kontrollzentrum spiegelt einerseits die in ganz Asien weit verbreitete Technikfaszination und -affinität wider. So können Smartphones und IT-Anwendungen tatsächlich viele Erleichterungen im Alltag bieten - gerade wenn die vorhandene Infrastruktur Defizite aufweist. Gleichzeitig verdeutlicht es, dass sich Jakartas Gouverneur wie viele andere Stadtväter in Asien das benachbarte Singapur zum Vorbild genommen hat. Die Smart City befriedigt allerdings primär die Interessen von Technologie- und Bauunternehmen sowie weiteren Privatinvestoren. Der Datenschutz, vor allem aber auch die sozialen Aspekte der Stadtentwicklung werden hingegen in den Hintergrund gedrängt und die soziale Funktion der Stadt degradiert. Bei der urbanen Mittelschicht erfreute sich Ahok aufgrund seiner durchgreifenden Art dennoch lange Zeit hoher Beliebtheit.

Als Ahok jedoch Ende September 2016 öffentlichkeitswirksam mit Verweis auf den Koran mahnte, dass die Menschen sich nicht einreden lassen sollten, sie dürften ihn als Muslime aufgrund seiner Religion nicht wählen, wurde dies von verschiedenen islamischen und islamistischen Gruppen sowie seinen beiden Gegenkandidaten um das Gouverneursamt mehr oder weniger unterschwellig als Blasphemie gebrandmarkt. Aufgrund dieses Verdachts wurde der amtierende Gouverneur in der Folge zunehmender gesellschaftlicher Spannungen offiziell angeklagt. So kam es zu mehreren Massendemonstrationen in Jakarta, deren Urheberschaft sich nicht klar zuordnen lässt und deren politischen Implikationen für das gesamte Land noch nicht absehbar sind.

Für Kritik - wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß - hatte Ahok allerdings auch schon zuvor mit den von ihm angeordneten Zwangsräumungen von Armensiedlungen gesorgt, bei denen die dort lebenden Menschen abrupt von Polizei und sogar Militärs aus ihren Behausungen vertrieben wurden. In dem im Oktober 2016 auf der UN-Konferenz Habitat III zum Thema »Wohnen und nachhaltige urbane Entwicklung« in Quito präsentierten nationalen Report Indonesiens liest man, dass der Schutz vor Zwangsräumungen ein Bürgerrecht sei und diese in Indonesien drastisch abgenommen hätten. Die vermeintlichen Ausnahmen in Jakarta werden seitens der involvierten Regierungsstellen jedoch als Flutprävention und mit der offiziellen »No-Slum-Politik« gerechtfertigt. Nach Schätzungen der Jakarta Legal Aid Foundation haben alleine in den vergangenen zwei Jahren mehr als 16.000 Familien mit geringen Einkommen ihre Unterkunft in Jakarta verloren, während lediglich 30 % eine alternative Unterkunft angeboten bekommen haben. Die sich dadurch verschärfende gesellschaftliche Spaltung ist ein Grund dafür, warum Ahok neben seinem mangelnden diplomatischen Feingefühl schon länger polarisiert. Nicht zuletzt befeuert seine Unterstützung exklusiver Großbauprojekte die Vorurteile gegenüber der chinesischstämmigen Minderheit und ihre vermeintliche Vormachtstellung in Indonesiens Wirtschaft.

Der Wunsch nach einer inklusiven Stadt

Bei Veranstaltungen indonesischer NGOs wurde dementsprechend unlängst der Wunsch nach einer lebenswerteren, inklusiveren und sozialeren Stadt artikuliert, während Ahok eine stadtplanerische, gesellschaftliche und kulturelle Gesamtvision für das zunehmend exklusive Jakarta abgesprochen wird. Das Konzept einer »sozialen Stadt« würde sich nach Aussage des indonesischen Vize-Bildungsministers Hilmar Farid - vormals Geschichtsprofessor und politischer Aktivist - mit der Vorgabe von Präsident Jokowi decken, das Land »von der Peripherie her« zu entwickeln. So lasse sich dies auch auf die Stadt übertragen, wo den Menschen am Rande der Gesellschaft geholfen werden sollte. Darüber hinaus rät Farid dazu, die Kultur zukünftig als ein wichtiges Instrument zur Transformation der Stadt zu betrachten. So leben die Menschen in Jakarta auf verschiedenen historischen und kulturellen Grundlagen (layern) - darunter vorkolonialen, kolonialen, modernen, und privatkapitalgetriebenen -, die es zu verbinden gilt. Im Rahmen eines integrierten Stadtentwicklungskonzepts könnten Künstler/innen neben den Stadtplanern/innen eine wichtige Rolle spielen. Nicht zuletzt spricht sich Farid, der als Gefolgsmann Jokowis erstmalig ein politisches Amt bekleidet, gemeinsam mit indonesischen Stadtentwicklungsexpert/innen dafür aus, mehr Bürgerbeteiligung von unten zu stärken.

Wie es auch anders geht, zeigt bereits eindrucksvoll die Entwicklung der koreanischen Hauptstadt Seoul. Dort hat der progressive Bürgermeister Park Won-Soon seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2011 nach eigener Aussage einen bewussten Paradigmenwechsel eingeleitet. Anstatt Seoul weiterhin als »Wettbewerbsstadt« den Privatinvestoren zu überlassen, strebt er danach, die koreanische Megametropole, in dessen Großraum die Hälfte der südkoreanischen Bevölkerung lebt, in eine »inklusive Stadt« umzuwandeln. Durch verschiedene Interventionen hat er den politischen Gestaltungsanspruch der Stadt gegenüber den Privatinvestoren verdeutlicht. Durch mehr Bürgerbeteiligung und das bewusste Zurückerobern öffentlicher Räume ist die Stadt nach Aussage koreanischer Stadtentwicklungsexpert/innen und Vertreter/innen der Zivilgesellschaft tatsächlich wieder deutlich lebenswerter Geworden. Im Stadtbild lässt sich dieser Paradigmenwechsel u. a. an neuen Parks und Begegnungsstätten, breiten Bürgersteigen und Künstlerprojekten, Dienstleistungen der Sharing Economy sowie Initiativen zum Denkmalschutz nachvollziehen.

Gesamtgesellschaftlicher Wettkampf

Die Stadt ist für viele Menschen mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und sozialen Aufstieg verbunden. Stadtentwicklung ist dementsprechend alles andere als rein technisch und politisch neutral. So spiegelt sich nicht nur im Stadtbild asiatischer Metropolen der Wettkampf politischer Lager und deren Ideologien wider. Die progressive Stadtverwaltung von Seoul zeigt mit ihrem Konzept der »inklusiven Stadt« vorbildlich, dass sie die Stadt wieder für die Bewohner/innen zurückerobern will, um deren Lebensqualität zu verbessern. In Jakarta wie in vielen anderen Städten Asiens ist dies noch Wunschdenken. Das vermeintliche Vorbild Singapur repräsentiert für viele Nachbarländer in Asien das Modell einer hocheffizienten und hochtechnologisierten Wettbewerbsstadt.

Seit 2014 leben erstmals mehr Menschen in Städten als in ländlichen Gebieten. Bis 2050 soll sich der Anteil der Stadtbewohner/innen an der Weltbevölkerung auf 66 % erhöhen - in Asien sogar auf 75 %. Denn nirgendwo sonst auf der Welt wachsen die Städte so rasant wie in Asien und nirgendwo entstehen mehr Megastädte. Wenn Politiker wie Seouls Oberbürgermeister Park, oder zuvor Jokowi als Gouverneur in Jakarta zentrale Weichenstellungen in ihren Städten vornehmen, können sie mit ihrer progressiven und toleranten Regierungsführung den politischen Takt für das gesamte Land vorgeben.

Der politische Wettkampf darum, ob Städte in Asien von Privatinvestoren und deren marktliberalen Unterstützern, von konservativen und radikal-religiösen Gruppen oder von progressiven Politikern als soziale und inklusive Städte entwickelt werden, berührt somit zunehmend gesamtgesellschaftliche Fragen von sozialer Kohäsion, sozialer Gerechtigkeit, sozialer Teilhabe, sozialer Mobilität und Chancengerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit und nicht zuletzt partizipativer Demokratie. Mit der weltweiten Perspektive rasanter Urbanisierung, an der Asien den größten Anteil hat, bildet die Entwicklung in den Städten Asiens somit einen Mikrokosmos globaler politischer Weichenstellungen. Eine integrierte, soziale und damit inklusive Stadtentwicklung in Asien wäre in diesem Sinn ein wesentlicher Beitrag, um die UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals) der Agenda 2030 zu verwirklichen.


Sergio Grassi
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Jakarta und ist ebenfalls zuständig für die Arbeit der FES in Malaysia. Er war mehrere Jahre für die FES in Peking tätig und arbeitete in den Referaten Internationale Politikanalyse und Subsahara-Afrika.
sergio@fes.or.id

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2017, S. 13 - 16
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Kurt Beck,
Sigmar Gabriel, Klaus Harpprecht (†), Jürgen Kocka,
Thomas Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2017

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