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ITALIEN/001: Regierungskrise als Demokratiekrise (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2011

Italien - Regierungskrise als Demokratiekrise

Von Gregor Fitzi


Silvio Berlusconi verfügt über keine parlamentarische Mehrheit mehr. Wie das Vertrauensvotum am 14. Dezember zeigte, kann er sich die fehlenden Stimmen höchstens hinzukaufen. Erst zweieinhalb Jahre zuvor hatten er und sein ehemals treuester Verbündeter Gianfranco Fini ihre Parteien im Popolo della libertà (PDL) aufgehen lassen. Nun spaltete sich Finis neue Gruppierung Futuro e libertà per l'Italia (FLI) davon ab und zog die Delegation aus der Regierung zurück. Damit ging ein Tauziehen zu Ende, das seit dem Frühjahr andauerte. Doch wie sieht die politische Zukunft Italiens aus?


Der ehemals aus der neofaschistischen Bewegung Movimento Sociale Italiano kommende Gianfranco Fini hat in den letzten Jahren durch seine Neupositionierung als Rechts-Liberaler immer wieder für Aufruhr gesorgt. Die Kritik von Mussolinis Rolle bei der Shoah, die Würdigung von Minderheitsrechten sowie tolerante Stellungnahmen in Migrationsfragen oder Fragen der Bioethik zählen zu Finis Brüchen mit dem Mainstream der italienischen Rechten. Je mehr sich Berlusconi mit dem Rechtspopulismus der Regionalpartei Lega Nord identifiziert, umso mehr scheint Fini bemüht, sich davon bewusst abzusetzen.

Das Mitte-Rechts-Bündnis gewann die Parlamentswahlen 2008 mit einer so überwältigenden Mehrheit, dass es kaum verständlich ist, wie es zwei Jahre später vor einem solchen Scherbenhaufen stehen kann. Der Rausch monopolistischer Machtausübung scheint Berlusconi inzwischen über alle Maßen gepackt zu haben, sodass sich an allen Fronten "altrömische Dekadenzerscheinungen" anhäuften. Dass seine absolute Vorherrschaft in der Partei in Frage gestellt wird, toleriert er nicht.

Inzwischen musste Fini mit ansehen, wie seine traditionelle law and order-Klientel zur Partei des ehemaligen Richters der "Sauberen Händen" Antonio Di Pietro abwanderte, die zum Mitte-Links-Bündnis gehört. Im Süden kam es zur Bildung von Regionalparteien, die sich vom PDL abspalteten, um gegen die von der Lega Nord gesteuerte Politik der Regierung anzukämpfen.

Nachdem Fini im Frühjahr 2010 Berlusconi daran erinnerte, dass es an der Zeit wäre, einen Parteitag des PDL abzuhalten, letzterer jedoch andere Prioritäten hatte, wurden Finis Stellungnahmen zunehmend kritischer, bis sie für Berlusconi mit einem Verbleib in der gemeinsamen Partei nicht mehr kompatibel waren. Auf einer Vorstandssitzung Ende April kam es zum Eklat. Auf Finis Frage: "Und was machst Du, schmeißt Du mich aus der Partei?" - folgten die Fakten. Denn Berlusconi betrachtet seine Partei, wie übrigens den Staat und das Land, als seien sie sein Unternehmen. Er ist der Inhaber, wer Kritik anmeldet, wird entlassen. Die Hoffnung bestand darin, dass nur die wenigsten Fini folgen würden. Und in der Tat blieben die ängstlichen historischen Weggefährten Finis bei Berlusconi hängen. Aber eine Gruppe von 36 Abgeordneten und 10 Senatoren bildete die neue parlamentarische Fraktion der FLI (Futuro e libertà per l'Italia).


Berlusconis Auf- und Abstieg

Man kann die Frage, ob sich Berlusconis Zeitalter vor diesem Hintergrund dem Ende zuneigt, womöglich nur unter der Voraussetzung beantworten, dass man versteht, welche Rolle er im politischen System Italiens bislang spielte. Dies setzt einen historischen Rückblick auf den Wandel von der Ersten zur sogenannten Zweiten Republik in den 90er Jahren voraus.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Résistance zur Gründungsmythologie des italienischen Staates avancierte, geschah dies aus zwei Gründen. Es galt einerseits die Leistung der Freiheitskämpfer zu würdigen und die aufständischen Tendenzen ihres radikalen Flügels zu vereiteln. Andererseits sollte Italien zur Seite der Opfer des Krieges wechseln, um die neu entstandene Republik mit einer intakten Identität zu versehen. Dies hat bis heute nicht nur die Bewältigung der faschistischen Vergangenheit unmöglich gemacht, sondern auch dafür gesorgt, dass es nie zur Bildung von gemeinsamen republikanischen Werten kam. Den Wertekanon der Ersten Republik hat eine große Anzahl der Italiener nie geteilt. Denn für sie waren es die Werte derjenigen, die aus dem Bürgerkrieg von 1943 bis 1945 als Gewinner hervorgingen. Als 1989 die Mauer fiel und sich die KPI bemühte, von ihrer kommunistischen Vergangenheit Abschied zu nehmen, nutzte die italienische Rechte die Gelegenheit, um mit den Werten der Ersten Republik insgesamt abzurechnen. Unter maßgeblicher Mitwirkung linker Intellektueller, die keine mehr sein wollten, wurde somit nicht nur die Verankerung des Staates in der Résistance-Mythologie aufgegeben, sondern auch der Wertekanon einer demokratisch und solidarisch verfassten Nationalgemeinschaft liquidiert. Parallel zu diesem Legitimationsverlust verlief die Aufdeckung der Korruptionsaffären der Regierungsparteien durch die sogenannten "Sauberen Hände". Die gesamte politische Elite des Landes war innerhalb weniger Monate diskreditiert. Niemand sorgte mehr für die Synthese der unzähligen lokalen, ständischen, korporatistisch verfassten Interessen, aus denen sich das Land zusammensetzt, wie dies die christdemokratische Führungsriege 50 Jahre erfolgreich getan hatte.

In diesem historischen Moment trat Berlusconi auf den Plan. Er hatte ein dringendes Problem. Sein monopolistisches Medienimperium war durch ad hoc-Gesetze der Regierungen legalisiert worden, deren Tätigkeit nun Gegenstand strafrechtlicher Ermittlung war. Ein Machtwechsel, im schlimmsten Fall unter der Vorherrschaft der Postkommunisten, wäre ihm teuer zu stehen gekommen. Die christdemokratische Mehrheitspartei der Ersten Republik existierte nicht mehr. So sahen viele in Berlusconis Marketing-Produkt Forza Italia einen möglichen Katalysator für die disparatesten Interessen und Renditepositionen, die unter einer Neugründung des Landes im reformistischen Sinne gelitten hätten. Berlusconis Rechnung ging auf. Ob die separatistischen Interessen des Nordens, die Unterstützungswünsche des Südens, die allgemeine Neigung zur Steuerhinterziehung und zur halblegalen Wirtschaft oder die christlich konservative Gesinnung, alle fühlten sich von Berlusconis verflüssigtem Politikprojekt angesprochen.

Trotz aller Konflikte mit seinen ehemaligen Verbündeten übt Berlusconi am Tiefpunkt seiner politischen Laufbahn diese Katalysatorfunktion immer noch aus. Sie könnte ihm sogar einen erneuten Sieg in den vorgezogenen Wahlen bescheren. Doch das Land hat sich in den letzten Jahren verändert. Die soziale und regionale Fragmentierung hat bedeutend zugenommen. Die Weltwirtschaftskrise hat auch im reichen Norden Italiens ihre Opfer gefordert. So vertritt die Lega eine noch rabiatere Abspaltungspolitik, mit der sie auf Kosten des PDL Stimmengewinne in den Regionalwahlen verbuchen konnte. Im Süden zogen es manche Landesfürsten von Berlusconis Partei vor, sich selbstständig zu machen und gingen Zweckbündnisse mit Mitte-Links-Parteien ein. Da er sich vom rassistisch-ideologischen Kreuzzug der Lega gegen Migranten, Sinti und Roma und Süditaliener nicht distanzierte, kehrte schließlich auch die katholische Kirche, die es Leid war, seine Eskapaden zu dulden, Berlusconi den Rücken.


Die Konsensbasis bröckelt

Auf den Machtverlust reagiert Berlusconi zunehmend nervös. In den Zeitungen, die er besitzt oder die ihm nahe stehen, häuften sich die Rufmordkampagnen gegen Fini, gegen den Herausgeber der Zeitung der Bischofskonferenz Boffo und schließlich gegen die Präsidentin des Arbeitgeberverbandes Marcegaglia, die die Regierungspolitik kritisierten. Die Machenschaften dieser Journalisten grenzen an Erpressungsversuche. Denjenigen, die nicht bereit sind, die Regierungspolitik in einem Exklusivinterview positiv zu bewerten, wird eine Schmutzkampagne in Aussicht gestellt. Dabei geht es oft um das Allerheiligste der Italiener, um die Familie. Dies hat wichtige Machtzentren Italiens zu erbitterten Gegnern Berlusconis gemacht. Seine Konsensbasis bröckelt langsam. Unter Mitwirkung des Vatikans läuft die Suche nach einem neuen Katalysator für die politische Mitte inzwischen auf Hochtouren. Fini will sich maßgeblich daran beteiligen, was seine neue politische Linie teils erklärt. Damit soll der Status Quo der konsolidierten Interessen und Renditepositionen in ein neues Gleichgewicht gebracht werden.

Was Italien fehlt, ist allerdings eine politische Alternative. Doch wer einen Blick auf das Mitte-Links-Bündnis wirft, sieht folgendes Bild: Die Entideologisierung der Linken hat die Ziele verfehlt, die ihre Verfechter vor Augen hatten. Eine politische Kraft, die ausgehend von linksliberalen Freiheits- und Gerechtigkeitsprinzipien eine neue Vision für das Gemeinwohl des Landes entwirft, ist nicht entstanden. Die Demokratische Partei gleicht einer Ansammlung von Gefolgschaften einzelner Führungspersonen, die aber Berlusconis populistischer Ausstrahlung bei Weitem unterlegen sind. Sie führen einen politischen Diskurs, der auf Versammlung und Gemeinsamkeit pocht, hinter den Kulissen bekämpfen sie sich jedoch unerbittlich. Dies bleibt der Stammwählerschaft natürlich nicht verborgen, so dass die Politikverdrossenheit weiter steigt. Das Projekt, alle Reformorientierten in einem politischen Verbund zu versammeln, ist am Wertefundament der Christsozialen gescheitert. So hatte der Vatikan leichtes Spiel, alle minderheitsrechtlich und bioethisch relevanten Gesetzesentwürfe des Mitte-Links-Bündnisses zu vereiteln. Nur in den traditionellen Linksregionen Mittelitaliens hält sich die politische Linke. Damit avanciert sie zur Regionalpartei, die in der Vertretung lokaler Interessen, Gesinnungen und Lebensformen zutiefst verankert ist. Diese sind zwar bei Weitem demokratischer und solidarischer als die Fragmentierungsvisionen der Lega Nord. Sie haben es aber trotzdem bislang nicht geschafft, die Mehrheit der Italiener für sich zu gewinnen. So werden erst die nächsten Parlamentswahlen zeigen, ob sich Italien aus der aktuellen Erstarrung seiner Demokratie lösen kann, oder dazu bestimmt ist, in das Korsett eines protomodernen Ständestaates eingepfercht zu werden.


Gregor Fitzi (* 1963) ist zur Zeit am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg und Chercheur associé am Centre Marc Bloch in Berlin. Bei Campus erschien zuletzt: Max Weber zur Einführung.
gregor.fitzi@uni-oldenburg.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2011, S. 11-14
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2011