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EUROPA/819: Verhaltene Positionierung - Labour und Europa (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012

Verhaltene Positionierung
Labour und Europa

Von Christian Krell



Welche Europapolitik vertritt die britische Labour Party? Welche Position hat sie zu einer möglichen Finalität der Union, zur politischen Integration, zu einer Wirtschaftsregierung oder einer gemeinsamen Sozialpolitik? Eine erste - hypothetische - Antwort könnte sein: Keine! Das ist überraschend, zeichnete sie sich bisher doch gerade durch eine Reihe sehr klarer europapolitischer Positionen aus.


Als der konservative britische Premier Harold Macmillan Anfang der 60er Jahre Großbritanniens Beitritt zur EWG beantragte, sprach sich der damalige Labour-Vorsitzende Hugh Gaitskell deutlich dagegen aus. Der Beitritt werde das Ende des Königreichs als unabhängiger Staat sein: "lt means the end of a thousand years of history." Trotz allem war es die Labour-Regierung unter Harold Wilson, die 1967 ein weiteres Beitrittsgesuch zur EWG vorantrieb. 1983 schließlich, 10 Jahre nach dem Beitritt, forderte die Labour Party wiederum den Austritt aus der EG. Das Wahlmanifest "New Hope for Britain" versprach im Falle eines Labour-Wahlsiegs unmittelbare Verhandlungen zum britischen Austritt. Nicht zuletzt aufgrund dieser radikalen Forderung wurde das Wahlprogramm als "the longest suicide note in history" beschrieben. Angesichts dieser Geschichte klarer europapolitischer Positionierungen ist überraschend, dass sich Labour unter ihrem jungen Vorsitzenden Ed Miliband zur Zeit kaum durch klar formulierte und kommunizierte Politikkonzepte zur Eurokrise und zu den Perspektiven der europäischen Integration auszeichnet. Zwar kritisiert sie deutlich das europapolitische Dilemma der Konservativen. Weite Teile der Tories, insbesondere Hinterbänkler und Basis, würden den Austritt aus der EU lieber heute als morgen vollziehen, während die Parteiführung in Regierung, Koalition und bestehende Verträge so eingebunden ist, dass sie einen Austritt Großbritanniens aus der EU nicht ernsthaft erwägen kann. Doch abgesehen von Kritik an der Regierung bleibt die Labour Party uneindeutig und blass in Bezug auf konkrete Handlungsansätze zur Eurokrise oder den Perspektiven Europas. Warum?


Schwache Profilierung

Im Wesentlichen gibt es drei Gründe für diese schwache Profilierung europapolitischer Themen:

Erstens, die Diskussion um die Neuausrichtung der Partei nach der verlorenen Wahl 2010, zweitens, der Fokus einer Oppositionspartei auf innenpolitische Themen und drittens, die geringe Popularität Europas bei der britischen Bevölkerung.

Zum ersten Punkt: Die Partei diskutiert nach 13 Jahren an der Regierung und fast zwei Jahrzehnten unter der Chiffre New Labour breit und mit bis dato nicht absehbarem Ergebnis, wie die Regierungsphase zu bewerten ist und welche Politik die Partei künftig verfolgen soll. Die Einen beschreiben die Regierungszeit von Tony Blair und Gordon Brown in der Summe als erfolgreiche und bemerkenswerte Phase. Noch nie in der britischen Geschichte konnte die Arbeiterpartei so lange regieren. Und in dieser Regierungsphase konnten zahlreiche Erfolge realisiert werden. Beispiele sind der massive Ausbau der öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheitswesen, aber auch in der Bildung, die Einführung eines Mindestlohns oder die deutliche Reduzierung von Armut. Andere verweisen darauf, dass New Labour die Annahmen des Neoliberalismus unkritisch übernommen hat und sich der andauernden Krisenanfälligkeit eines zu wenig regulierten Kapitalismus nicht klar war. Aus dieser Perspektive müssen mindestens zwei Fehler benannt werden. Einerseits ein diskursives, andererseits ein funktionales Versagen. Diskursiv hat sich Labour so sehr an den Mustern des Neoliberalismus orientiert, dass es nicht nur nicht gelang Großbritannien ideologisch nach links zu verschieben und mehr Unterstützung für soziale Gleichheit oder gestaltende Eingriffe in das Marktgeschehen zu erzeugen. Im Gegenteil: Die Einstellungen der britischen Bevölkerung haben sich unter Labour deutlich messbar nach rechts verschoben. Funktionales Versagen kann New Labour attestiert werden, da sich die sozio-ökonomischen Grundannahmen Labours als falsch erwiesen haben. Das Modell, auf Grundlage möglichst freier Marktkräfte und eines dynamischen Finanzsektors den öffentlichen Dienst auszubauen und Armut zu reduzieren, ist mit der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise ab 2008 gescheitert.

Wie Labour mit diesem Erbe umgeht, ist noch offen. Verschiedene Flügel ringen zur Zeit um Deutungshoheit und Mehrheiten in der Partei. Die unter dem Label "Blue Labour" firmierenden Akteure vertreten eine nicht widerspruchsfreie Melange aus konservativen Positionen im gesellschaftlichen Bereich und korporatistischen Ansätzen im ökonomischen Bereich. Andere betonen, dass sich Labour vor dem Hintergrund der konservativ-liberalen Koalitionsregierung als sozialliberale Kraft im Mitte-Links-Spektrum profilieren müsse. Fest steht allerdings, dass bei der Diskussion um die Neuorientierung Labours die Europapolitik keine wesentliche Rolle spielt.

Der zweite Grund für diesen Umstand ist die Oppositionsrolle der Partei. Die Opposition ist in Großbritannien aufgrund des unitaristischen Staatsaufbaus und der hohen Machtverschränkung noch weit stärker von der Macht ausgeschlossen, als etwa im föderalen deutschen System. Oppositionsparteien versuchen nur selten sich über außen- oder europapolitische Themen zu profilieren. In der Regel versuchen sie die Regierung im Bereich der Innenpolitik zu stellen. Thematisiert werden so etwa soziale Themen wie Bildungs- oder Gesundheitspolitik, Themen aus dem Bereich der inneren Sicherheit oder wirtschaftspolitische Aspekte. Dieses Grundmuster wird auch in Zeiten der Eurokrise kaum durchbrochen. Die Labour Party stellt keine Ausnahme von diesem Muster dar. Zwar kritisiert sie die Europapolitik der Regierung an verschiedenen Stellen, rückt die Europapolitik aber keineswegs in den Vordergrund ihrer Oppositionsstrategie.

Drittens resultiert die schwache Thematisierung europapolitischer Themen daraus, dass sich jede politische Kraft in Großbritannien mit einem besonders europaskeptischen Klima in der öffentlichen Meinung konfrontiert sieht. Korrespondierend mit politisch-kulturellen Tiefenstrukturen und historischen Erfahrungen steht die Mehrheit der britischen Bevölkerung der europäischen Integration skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Eurokrise wird als Bestätigung dieser Skepsis gewertet. Regierungen wie Oppositionsparteien haben diese Tendenzen in den vergangenen Jahren eher aufgenommen und verstärkt anstatt für das europäische Projekt zu werben. Der "beefwar", den John Major 1996 im Zusammenhang mit der BSE-Krise gegen die EU ausrief, ist nur ein Beispiel dafür. Selbst Tony Blair, der wahrscheinlich europafreundlichste britische Premier, den es je gab, hat es nie gewagt, offensiv eine proeuropäische Kampagne zu starten. Diese Grundhaltung vertritt auch die aktuelle Labour-Führung. Im Bemühen, öffentliche Zustimmung zu gewinnen und beispielsweise bei den Kommunalwahlen zu punkten, vermeidet sie bewusst zu offensichtlich proeuropäische Festlegungen und kommuniziert europapolitische Themen nicht offensiv.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Europapolitik - trotz Eurokrise - keine entscheidende Rolle in der Politikentwicklung Labours spielt. Dennoch kann die oben skizzierte erste Antwort auf die Leitfragen dieses Artikels keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Zwar ist es richtig, dass die Labour Party kaum klare europapolitische Positionen kommuniziert. Dennoch können bei genauer Analyse einige Grundmuster festgehalten werden.

So steht Labour tendenziell einer umfassenderen politischen Integration etwa mit gemeinsamer Sozialpolitik skeptisch gegenüber. Gleichwohl gibt es Politikfelder, etwa in den Bereichen Klimapolitik oder der Regulierung der Finanzmärkte, in denen sich Labour klar für europäische Lösungen ausspricht. Besonders bei Intellektuellen im Umfeld der Partei zeigt sich ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass sich ein neues, stärker reguliertes Kapitalismusmodell mit einem Mindestmaß an sozialem Schutz und einem Fokus auf nachhaltiges Wachstum viel besser in, mit und durch die EU verwirklichen lässt, als außerhalb der EU. Teilweise wird sogar eine gemeinsame europäische Wirtschaftsregierung diskutiert. Unabhängig von Einzelfragen muss anerkannt werden, dass in der Eurokrise bisher kein relevanter Labour-Politiker versucht hat, auf Kosten Europas Stimmung zu machen.

Im Vergleich mit den anderen politischen Kräften des Königreichs - den gespaltenen Conservatives und den in der Regierung mit den Conservatives gefangenen Liberalen - kann Labour so momentan am ehesten eine realistisch-pragmatische proeuropäische Orientierung zugeschrieben werden. Diese ist klar beschränkt durch die typischen Muster britischer Europapolitik: Skepsis gegenüber Souveränitätsübertragungen, Stärkung des Binnenmarktes, nachdrückliche Betonung nationaler Interessen. Aber zugleich ist die Haltung Labours rationaler und berechenbarer und nicht zuletzt anknüpfungsfähiger für den Rest Europas als die zwischen Isolationismus, Populismus und bestenfalls gelegentlicher Sachorientierung hin- und hergerissene Regierung Camerons.


Christian Krell (* 1977) leitet die Akademie für Soziale Demokratie der FES und ist Lehrbeauftragter der Universität Siegen.
(christian.krell@fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012, S. 39-42
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2012