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FRAGEN/027: Tadschikistan - Dr. Tim Epkenhans im Interview (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Tadschikistan zwischen Islam, autoritärem Säkularismus und wirtschaftlich-sozialer Schieflage

Von Milena Rampoldi, 6. März 2016


Iranist und Tadschikistanexperte Dr. Tim Epkenhans - Bild: © Dr. Tim Epkenhans

Bild: © Dr. Tim Epkenhans

Dr. Tim Epkenhans, Iranist und Tadschikistanexperte an der Universität Freiburg erzählt uns im Interview über den Islam, die Geschichte, die muslimischen Gemeinden und die sozialen und wirtschaftlichen Probleme und das Scheitern der Demokratie in Tadschikistan.


Milena Rampoldi: ProMosaik e.V. ist überzeugt, dass die muslimische Welt sehr viele interessante kulturelle, sprachliche, zivilisatorische Unterschiede aufweist. Wie würden Sie den Islam kulturell in Tadschikistan beschreiben?

Tim Epkenhans: Im Rahmen der Sowjetunion war Tadschikistan sehr wenig eigenständig. Aber der Islam hat in der tadschikischen Bevölkerung seine Bedeutung. Die Menschen sind sich in Tadschikistan weitgehend dessen bewusst, dass sie sie zum zentralasiatischen Islam gehören, dass sie Teil der hanafitischen Schule sind. Auf der kulturellen Ebene ist die Dichtung in Tadschikistan von der religiösen Komponente durchdrungen. Sprachlich gesehen greift sie sehr stark auf persische und türkische Elemente zurück. Die Menschen sind Teil einer kulturellen Tradition. Im Alltag hingegen geht es weniger um islamische Kultur, sondern eher um Fragen rund um die moralisch-ethische Beratung, um die Vorschriften und um die Regulierung des alltäglichen Lebens. Man fragt sich einfach, wie man im Islam leben soll. Es kann hierbei auch um grundsätzliche Themen wie Gebet, Almosensteuer und Geschlechterbeziehung gehen. Regulierung nach den islamischen Vorschriften spielt in diesem Sinne in der tadschikischen Bevölkerung eine wichtige Rolle. Aber politisch gesehen ist Tadschikistan kein freies, sondern ein von einer dominanten Elite autoritär regiertes Land.

Als Tadschikistan noch Teil der Sowjetunion war, gehörte es zu einer Supermacht im Rahmen der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges. Aus dieser Vergangenheit schöpfen viele Tadschiken noch ihre Identität. Aber auf weltpolitisch-globaler Ebene hat sich in den letzten Jahren sehr viel verändert.

Geographisch und somit auch geopolitisch betrachtet besitzt Tadschikistan eine sehr lange Grenze zu Afghanistan. Durch die Nähe zu Afghanistan ist den Menschen in Tadschikistan bewusst geworden, dass sie weltpolitisch etwas mit der "Befriedung" Afghanistans zu tun haben. Daher haben die Tadschiken auch Ressourcen aus der EU und aus den USA erhalten.

Eine weitere lange Grenze des Landes verläuft zu China. China ist der wirtschaftlich wichtigste Akteur in Tadschikistan. Daher sehen sich die Tadschiken weitgehend als global vernetzt. Sie sehen, dass sie nicht zentral sind, aber dass die irgendwie zum Ganzen dazugehören.


Kahle, bergige Landschaft mit Fluß und ein wenig Grün im Vordergrund - Bild: © Dr. Tim Epkenhans

Bild: © Dr. Tim Epkenhans

Ein großes Problem in Tadschikistan ist die Zensur der sozialen Netzwerke, die teilweise auch nicht erreichbar sind.

Der Islam ist für die Tadschiken eine Option in einem System, in dem die Rechtsstaatlichkeit weitgehend fehlt. Der Islam hilft ihnen, um ihr alltägliches Leben und ihre moralischen Werte zu leben und zu regeln. Die islamische Moral widersetzt sich auch in einem Land, in dem die Korruption allgegenwärtig ist, dieser ungerechten Verteilung des Eigentums. Das islamische Gebot der Zakah unterstützt die Armen.

Die Situation der Frauen ist aber in Tadschikistan aus verschiedenen Gründen katastrophal. Die tadschikischen Geschlechterbeziehungen haben sich im Lande verschoben. Tadschikistan ist ein patriarchalisches Land. Es gibt keine Kinderehen. Das Heiratsalter ist wegen der wirtschaftlichen Lage eher höher. Die Regierung ist säkular. Aber viele Menschen tragen ihre Kinder nicht beim Standesamt ein. Es gibt auch viele islamische Ehen (nikah), die nicht registriert werden. Somit kann die Frau nichts einklagen und hat somit keine Rechte, weil der Staat das islamische System nicht als staatlich anerkennt.

Aber das große Thema ist im Lande die Arbeitsmigration des Großteils der Männer. Bis 2014 wies Tadschikistan weltweit den höchsten Prozentsatz von Arbeitsmigranten aus Russland auf. Dies hat sich natürlich aufgrund der Sanktionen gegen Russland sehr stark verändert. Tatsache ist, dass zwei Drittel der Männer nicht im Lande sind. Die unregulierte Mehrehe ist verbreitet. Arbeitsmigranten haben oft eine zweite Frau in Russland. Die Frauen bleiben alleine mit den Kindern zurück. Viele Ehemänner kehren nicht mehr nach Hause zurück. Durch die Sanktionen gegen Russland ist auch die Wirtschaft des Landes zusammengebrochen. 60% der Rücküberweisungen fallen aus. Es gibt in Tadschikistan immer mehr junge Männer ohne Perspektive. Das Risiko dieser Situation ist, dass Unruhe ausbrechen wird. Aber die hierarchische Gesellschaft konnte bis heute einen zweiten Bürgerkrieg (der von 1992-1997 war eine Katastrophe für das Land gewesen) verhindern.

Die ländlichen Strukturen werden weitgehend durch den Islam aufgefangen. Der Islam setzt sich dafür ein, soziale Ordnung zu schaffen. Viele appellieren an den Islam und festigen die islamischen Strukturen, um sozialen Unruhen vorzubeugen.

Auch auf dem Niveau des tadschikischen Staates wurde ein Paradigmenwechsel vollzogen.

Man fokussiert auch auf Staatsebene auf den Aufbau einer zentralasiatischen Struktur des Islam. Denn der Islam dient auch zur Selbsterhaltung des Staates. Der Staat hat sich dramatisch autoritär verändert. Der Präsident strebt eine lebenslängliche und dann dynastische Herrschaft an. Der Islam wird somit manipuliert, um die staatliche Herrschaft zu erhalten. Nach dem Ende des Bürgerkrieges gab es eine islamische Opposition im Parlament. Nun ist diese verboten worden und gilt als terroristische Organisation.

Tadschikistan steht aufgrund der Wirtschaftskrise eine sehr unruhige und autoritäre Zeit bevor.

Es gibt wenig Landflucht, weil es keine großen Städte gibt. Die Hauptstadt Dushanbe hat 800.000 Einwohner. Außerdem bieten die Städte in Tadschikistan für die Menschen kaum Perspektiven. Da es keine Industrie und wenig Gewerbe gibt, dienen sie nur als Durchgangsorte, um nach Russland weiterzufahren.


Breite, befestigte Straße, die ins 'Nirgendwo' führt. Links und rechts kahle Berge - Bild: © Dr. Tim Epkenhans

Bild: © Dr. Tim Epkenhans

Wie schwierig waren die Neunziger Jahre im Land auf der Suche nach Unabhängigkeit und Identität?

Nach 1991 wurde Tadschikistan unabhängig. Es war aber keine freiwillige Unabhängigkeit. Es gab zwar Autonomieströmungen im Lande, aber es war keine Herauslösung aus der Sowjetunion angedacht, weil Tadschikistan einfach die Ressourcen fehlen, um unabhängig leben zu können. An die Macht wollen einerseits die islamischen Kräfte und andererseits die alten kommunistischen Eliten. Aber die Sicherheitskräfte und Geheimdienste brachen zusammen. Viele slawische Offiziere verließen das Land. Somit wurde das politische Vakuum von politischen Kriminellen und organisierten Kriminellen gefüllt. Dies führte zu einem verheerenden Bürgerkrieg von fünf Jahren. 1997 wurde dann der Friedensschluss durch die Vereinten Nationen verhandelt, was zu einer graduellen Veränderung führte. Es wurde eine Staatsgründungssymbolik erarbeitet. Das Land war vollkommen zerstört. Aber es gab keine nationale Versöhnungskommission. Der Bürgerkrieg wurde im Land überhaupt nicht aufgearbeitet. Über die Opferzahlen zwischen 40.000 und 120.000 spricht niemand.

Zunächst trat 1997 Ruhe im Lande ein. Dies wurde auch durch die Einbindung der Opposition ins System möglich. Bis 2005 funktionierte das Ganze auch einigermaßen.

Aber nach 2005 verliert der internationale Parameter des Westens an Interesse. Es kommen andere Akteure ins Spiel. China kommt zurück. Putin kommt in Russland an die Macht. Die tadschikische Regierung überlegt sich nun autoritäre Methoden, um die Opposition auszuschalten. Es fließen chinesische Kredite ins Land. Die USA und die EU werden nicht mehr gebraucht, weil es attraktivere Partner gibt. Außerdem blicken die Tadschiken nach Irak und sehen, was die USA durch ihre Angriffe anrichten. Der Westen fällt negativ auf, und man verliert das Vertrauen. Somit wird auch die demokratische Transformation der Gesellschaft als kritisch angesehen. Dasselbe geschieht mit dem Arabischen Frühling. Auch dieser wird negativ gesehen. Er führt zu Spiralen der Gewalt, zum Islamischen Staat und zu endlosem Krieg. So denken sich die Tadschiken, dass sie diese demokratischen Spielregeln im Lande nicht mehr brauchen und schalten in den letzten fünf bis sechs Jahren die Opposition vollkommen aus, z.B. durch die Ermordung von Oppositionspolitikern.

Berichten Sie uns bitte über die wichtigsten Bereiche Ihrer Tadschikistanforschung?

Ein wichtiges Thema war der Bürgerkrieg. Ich habe die Ursprünge und den Hergang des Bürgerkriegs analysiert. Ein zweiter Bereich meiner Forschung betrifft die Ulama, die religiösen Eliten im Lande von der späten Sowjetzeit bis in die letzten Jahre. Ich erforsche die Netzwerke und analysiere, welcher der größere Kontext ist, in den sie sich einordnen. Grundsätzlich geht es um die religiöse Rechtsleitung nach dem koranischen Prinzip "Gebiete das Richtige und Verbiete das Verbotene". Der Kontext der Rechtsleitung ist in Tadschikistan oft das Freitagsgebet, in dem Fragen des Publikums zugelassen werden. Ich analysiere, wie sich diese Fragen in den letzten Jahren verändert haben, um welche Themen es den Menschen geht.

Wichtig ist im Bereich der Rechtsleistung auch die Erforschung der tadschikischen, religiösen Netzwerke im Internet, vor allem auch für die tadschikischen Migranten im Ausland. Nicht nur die Moschee gilt als Mittelpunkt der religiösen Rechtsleistung, sondern auch die elektronischen Varianten in Form von Webseiten und Apps für Smartphone.

Durch die Arbeitsmigration kommt es auch zur Veränderung der muslimischen Gesellschaft in Tadschikistan. Weibliche Gläubige fordern in den letzten Jahren mehr Raum an, vor allem in Internet sind Frauen auf religiösen Webseiten der Rechtsleitung präsenter. In den Moscheen ist das nicht der Fall, weil sie für Frauen kaum zugänglich sind.

In Tadschikistan kann man aber nicht von islamischem Feminismus sprechen. Die Frauen werden aber zunehmend zu einer wichtigen Klientel für die muslimischen Rechtsgelehrten, da zahlreiche Männer nicht im Land sind und ihre Gemeinde zunehmend weiblich ist.

Die Frauen bleiben zurück und leiden unter der sozialen Schieflage. Männer haben mehrere Frauen, heiraten auf ungeregelte Weise. Drogenhandel ist weit verbreitet. Venerische Krankheiten kommen aus dem Ausland. Frauen werden infiziert. Es gibt im Lande kein medizinisches System für die Erkennung dieser Krankheiten. Dazu kommt häusliche Gewalt.

Es gibt in diesem bedauerlichen Kontext aber religiöse, moderate Würdenträger, die sich für die Frauen einsetzen. Sie nehmen Stellung zur häuslichen Gewalt, sagen, dass man Frauen nicht schlagen darf, und einige Zuhörer beherzigen das. Sie sprechen sich auch gegen die ungeregelten Mehrehen aus. Sie erklären den Frauen, dass die Krankheiten behandelt werden müssen, dass sie zum Arzt gehen müssen, dass Tuberkulose nicht von Allah gewollt, sondern heilbar ist. Die neue Generation der tadschikischen Muslime sucht Antworten auf wichtige Probleme des tadschikischen Alltags. Das ist noch kein Feminismus. Aber es ist doch ein wichtiger Schritt, die Probleme der Frauen in die ländliche Gemeinde zu bringen. Denn wenn ein Geistlicher sagt: "Frauen schlagen geht nicht", so bringt das was für den einen oder anderen Gläubigen in der Gemeinde. Die muslimische Gemeinde in Tadschikistan fängt somit die Schieflagen in der Gesellschaft auf. Frauen sind immer wichtiger, weil die Männer wenig sind. Wenn die tadschikischen Gemeinden der Muslime heute nicht anfangen, auf Frauen zu fokussieren, zerbrechen ihre Gemeinden an den Veränderungen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Tadschikistan?

Ich wünsche mir für Tadschikistan mehr Freiheit, mehr Rechtsstaatlichkeit, dass die Menschen selbst entscheiden können, ein wenig Wohlstand, gerechtere Verteilung, Meinungsfreiheit.

Partizipation und keine Exklusion. Denn Menschen werden sozial, wirtschaftlich und politisch ausgeschlossen. Ich hingegen wünsche mir Inklusion.

Welche sind die wichtigsten Probleme Tadschikistans im Spannungsfeld zwischen Islam und Modernität?

Der Islam ist in Tadschikistan nicht das Problem. Das Problem ist hier eher das Verständnis von Modernität. Tadschikistan ist aber in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Der hoffnungsvolle Trend der Neunziger Jahre bestand im demokratischen Wandel. Und in vielen Ländern hat es ja auch geklappt mit der Demokratie. Nun gibt es aber eine Regression. Die Länder werden autoritärer. Das ist die zentrale Herausforderung. Die Herausforderung für Tadschikistan ist nicht der Islam, sondern wie man mit einer transparenten Regierung umgeht.


Über die Autorin

Dr. phil. Milena Rampoldi ist freie Schriftstellerin, Buchübersetzerin und Menschenrechtlerin. 1973 in Bozen geboren, hat sie nach ihrem Studium in Theologie, Pädagogik und Orientalistik ihren Doktortitel mit einer Arbeit über arabische Didaktik des Korans in Wien erhalten. Neben ihrer Tätigkeit als Sprachlehrerin und Übersetzerin beschäftigt sie sich seit Jahren mit der islamischen Geschichte und Religion aus einem politischen und humanitären Standpunkt, mit Feminismus und Menschenrechten und mit der Geschichte des Mittleren Ostens und Afrikas. Sie wurde verschiedentlich publiziert, mehrheitlich in der deutschen Sprache. Sie ist auch die treibende Kraft hinter dem Verein für interkulturellen und interreligiösen Dialog Promosaik www.promosaik.com


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2016

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