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LATEINAMERIKA/1265: Haiti - Katastrophenkapitalismus geht in nächste Runde (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. April 2011

Haiti: Präsident von Washingtons Gnaden - Katastrophenkapitalismus geht in nächste Runde

Von Kanya D'Almeida


Washington, 28. April (IPS) - Während auf Haiti Hunderttausende Menschen unter den Folgen des Erdbebens und des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs leiden, läuten der neu gewählte Präsident Michel Martelly und die USA nach Ansicht von Kritikern eine neue Phase des 'Katastrophenkapitalismus' ein.

Bei Martellys jüngstem Besuch in Washington am 20. April drückte US-Außenministerin Hillary Clinton ihre Zuversicht aus, dass es dem neu gewählten Präsidenten des karibischen Inselstaats gelingen werde, den Wiederaufbau des Landes zu bewerkstelligen.

Das Vertrauen in die Fähigkeiten eines Mannes, der über keinerlei politische Erfahrung verfügt, mutet angesichts der immensen Probleme, mit denen Haiti geschlagen ist, befremdlich an: Die Hauptstadt Port-au-Prince liegt seit dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 in Schutt und Asche, und 750.000 Menschen sind nach wie vor Flüchtlinge im eigenen Land. Darüber hinaus naht die nächste Hurrikansaison, die neues Unglück über den Inselstaat bringen könnte.

Menschenrechtsaktivisten, Wissenschaftler und andere Experten aus dem In- und Ausland hatten massive Zweifel an der Legitimität und den Fähigkeiten der haitianischen Wahlkommission erhoben, die die populäre 'Fanmi-Lavalas-Partei' von den Wahlen ausgeschlossen hatte. Dennoch erkannte Clinton das Ergebnis der Wahlen vom 20. März an und sicherte Martelly zu, ihn künftig auf seinem politischen Weg zu begleiten.

Doch auf die Unterstützung Washingtons konnte 'Sweet Mickey', wie der gewählte Präsident in Anspielung auf seine Vergangenheit als Sänger genannt wird, bereits vor dem Urnengang zählen. So schrieb Roger Annis, Journalist der Wochenzeitschrift 'Haiti Liberté', diesen Monat in einem Beitrag, dass Martellys sechs Millionen US-Dollar teure Wahlkampagne weitgehend von "Freunden in den USA" finanziert wurde.


Zahlstunde

Das Treffen zwischen dem haitianischen Wahlsieger und der US-Außenministerin sei somit der nächste logische Schritt und eine von den USA seit langem praktizierte Vorgehensweise, um aus ihrer Wahl- und Entwicklungshilfe für das ärmste Land der westlichen Hemisphäre den größtmöglichen Profit zu schlagen, so Annis. Für diese Form der Ausbeutung hat die Journalistin Naomi Klein in ihrem Buch 'Die Schock-Strategie' den Begriff des Katastrophenkapitalismus (disaster capitalism) geprägt.

Bereits Anfang April, Wochen vor Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses auf Haiti, hatten die USA Martelly mit Vorschusslorbeeren bedacht. Nach dem Amtsantritt der neuen Regierung, seien Reformen unerlässlich, um der haitianischen Bevölkerung eine Teilhabe an der formellen Wirtschaft zu ermöglichen, erklärte die Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des US-Repräsentantenhauses, Ileana Ros-Lehtinen. Dann schwärmte sie von den Möglichkeiten für US-Unternehmen, in einem von Martelly geführten und im Wiederaufbau befindlichen Land Geschäfte zu machen.

Wie aus einer Mitteilung der US-Botschaft in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince hervorgeht, "unterstützen die Vereinigten Staaten die Menschen von Haiti in ihren Bemühungen, ihr Land wiederaufzubauen und ihre Vision von einem stabilen, demokratischen und wohlhabenden Land zu verwirklichen".


Geschichte einer Ausbeutung

"Seit wann kümmert die so genannte internationale Gemeinschaft, was die Mehrheit der Haitianer will", fragte Alex Dupuy, Soziologieprofessor an der Wesleyan-Universität in Middletown, Connecticut, und Autor etlicher Bücher über den karibischen Inselstaat. "Als eine riesige Massenbewegung Jean Bertrand Aristide in den 1990er Jahren mit einem alternativen Programm an die Macht brachte, das viel progressiver war als das jetzige, wurde er erst vom Westen abgesetzt und dann gezwungen, ein destruktiveres Projekt durchzuführen", erinnerte er.

Gerade die USA hätten die Wünsche der haitianischen Bevölkerung nie respektiert, wenn sich diese nicht mit den Profitvorstellungen Washingtons für Haiti in Einklang bringen ließen, unterstrich der Professor. So sei die Umwandlung der haitianischen Wirtschaft von der Subsistenz-Landwirtschaft in eine Ansammlung städtischer Super-Slums mit ehemaligen Bauern, die für weniger als einen US-Dollar am Tag in den Fabriken US-amerikanischer Unternehmen wie 'Levi Strauss & Co', 'The Gap' und 'American Eagle' produzierten, eine Geschichte, die aus der Sicht der Abzocker und nicht aus der Perspektive der Opfer erzählt werde.

Die Entscheidung, Haiti zu zwingen, die Zölle für Reisimporte aufzuheben, die zur Überschwemmung des haitianischen Marktes mit subventioniertem US-Dumpinggetreide führte und die lokalen Bauern um ihre Existenz brachte, ist von unzähligen Experten bedauert worden. Das gilt auch für den ehemaligen US-Präsidenten und UN-Sondergesandten für Haiti, Bill Clinton, der nach eigenen Angaben mit den von ihm zu verantwortenden Folgen leben muss, dass Haiti keinen Reis mehr für die eigene Bevölkerung produzieren kann.

Nach Ansicht von Kim Ives, der ebenfalls für Haiti Liberté schreibt, wurde bisher nichts unternommen, um diese verfehlte Politik zu korrigieren. Vielmehr erwecke Martelly den Eindruck, dass er einer weiteren Zusammenarbeit zu Gunsten der USA und der haitianischen Elite nicht im Wege stehe.


Unerfahrener Politiker vor riesigen Herausforderungen

Wie Francois Pierre-Louis, Dozent für Politikwissenschaften an der 'City University of New York' (CUNY), erklärte, ist Martellys Wahlsieg für die haitianische Bevölkerung auch aus anderen Gründen keine gute Nachricht. "Sweet Mickey geht weitgehend planlos und unerfahren in sein neues Amt. Da er nicht für eine Partei ins Rennen ging, hat er auch keine realistische Vorstellung davon, wie er den Wiederaufbau und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit bewerkstelligen will."

Außerdem gehörten etliche Vertreter seines Teams zu den schlimmsten anti-demokratischen Kräften des Landes, fügte Pierre-Louis hinzu. Damit meinte er Personen aus dem Umkreis der berüchtigten Diktatorenfamilie Duvalier, die Haiti von 1957 bis 1986 regierte, und nun auf die politische Bühne zurückkehren könnte.

Dem Professor zufolge wird sich die Tatsache, dass Haiti seit den 1990er Jahren nicht mehr in die Landwirtschaft investiert hat, nachhaltig rächen. Mit der bisherigen Handelspolitik weiterzumachen wie bisher, ohne die versprochenen Agrarreformen durchzuführen, werde kurzfristig in die Ernährungskrise führen. Die Folge seien Proteste, die weitere Entwicklungsversuche zum Stillstand bringen und Martelly auf die Rolle beschränkten, die Menschen in Schach zu halten.


US-Unternehmen profitieren vom Wiederaufbau

Dass haitianische Unternehmen von der internationalen Wiederaufbauhilfe für Haiti profitieren werden, halten Experten für unwahrscheinlich. "Von den 1.500 US-Verträgen im Wert von 267 Millionen Dollar gehen gerade einmal 20 Verträge im Wert von 4,3 Millionen Dollar an haitianische Firmen", meint der Soziologieprofessor Dupuy. "Den Rest teilen sich US-Unternehmen, die fast ausschließlich auf US-amerikanische Lieferanten zurückgreifen werden."

Wie sich die USA den Wiederaufbau Haitis vorstellen, hat US-Außenministerin Clinton während des jüngsten Martelly-Besuchs angedeutet. Sie verwies bei dieser Gelegenheit auf gemeinsame Bemühungen der USA und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IadB) um den Aufbau eines neuen Industrieparks in der Nähe der haitianischen Hafenstadt Cap Haitien. Es gebe sogar schon einen ersten Pächter, nämlich die globale Textilfirma 'Sae-A Trading', betonte Clinton stolz. Erwartet wird, dass das südkoreanische Unternehmen, das Kleidung für den US-Markt produzieren will, 20.000 feste Arbeitsplätze schafft.

Doch in seinem Essay 'Katastrophenkapitalismus als Rettung: Die internationale Gemeinschaft und Haiti nach dem Erdbeben' ('Disaster Capitalism to the Rescue: The International Community and Haiti after the Earthquake') warnt Dupuy davor, die Möglichkeiten der Fertigungsindustrie zu überschätzen. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten in den 1980er Jahren habe sie nie mehr als sieben Prozent der Haitianer beschäftigt und somit nicht zu einem bemerkenswerten Rückgang der Arbeitslosigkeit in den Städten beigetragen. Der Professor kritisiert, dass die duale Strategie städtischer Ausbeuterbetriebe und vernachlässigter Landwirtschaft nun als neues Wiederaufbauprogramm verkauft werde. (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2011