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LATEINAMERIKA/1350: El Salvador - Indigene erreichen Verfassungsreform (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Mai 2012

El Salvador: Indigene erreichen Verfassungsreform - Kulturelle Ausdrucksformen anerkannt

von Edgardo Ayala



San Salvador, 16. Mai (IPS) - Nach jahrzehntelanger Diskriminierung durch Staat und Gesellschaft haben die Indigenen El Salvadors im Kampf um ihre Rechte eine Verfassungsreform erreicht. Im neugefassten Artikel 63 werden erstmals Ureinwohnersprachen und andere kulturelle Ausdrucksformen anerkannt.

"Die Verfassungsreform ist wichtig, weil sie den Staat zumindest dazu verpflichtet, an politischen Strategien zur Stärkung unserer Weltsicht, Werte und Spiritualität zu arbeiten", resümierte Betty Pérez vom Nationalen Salvadorianischen Indigenen Koordinationsrat (CCNIS), in dem rund 20 Ureinwohnerorganisationen zusammengeschlossen sind.

Das am 1. Mai neu zusammengetretene Einkammerparlament mit 84 Abgeordneten muss nun die Ende April von dem Vorgängerparlament beschlossene Reform ratifizieren. Da die Wahlen im März das Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen nicht verändert haben, rechnen Ureinwohnerführer fest damit, dass der Verfassungszusatz im Juni oder Juli gebilligt wird. Dazu ist eine Zweidrittel-Mehrheit notwendig.

Die konservative ARENA-Partei lehnt die Reform zwar ab, verfügt aber nicht über genügend Sitze, um sich gegen die Befürworter aus den Reihen der linken Regierungspartei Nationale Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) und ihrer Verbündeten durchzusetzen.


Ignoriert

El Salvador gehört zu den Unterzeichnern der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Indigenen Völker, die von der UN-Vollversammlung im September 2007 gebilligt wurde. Der zentralamerikanische Staat hat bisher allerdings kein Interesse daran gezeigt, die Grundsätze dieser Erklärung umzusetzen.

Wie aus dem von dem Weltkinderhilfswerk UNICEF veröffentlichten Soziolinguistischen Atlas Indigener Völker in Lateinamerika hervorgeht, gibt es bisher keine sozioökonomischen Strategien, die diesen ethnischen Gruppen direkte Vorteile bringen. Laut Artikel 2 der UN-Erklärung sind indigene Völker und Individuen frei und anderen Völkern und Individuen gleichgestellt und haben ein Anrecht darauf, ihre Rechte, insbesondere diejenigen, die Identität und Herkunft betreffen, frei von Diskriminierung auszuüben.

Der Anthropologe Carlos Lara von der Universität El Salvador sieht die Reform als großen Fortschritt. "Dieses Land hat die Existenz einer indigenen Bevölkerung stets abgestritten. Alle Rechte von Ureinwohnern wurden damit abgeschafft", kritisierte er. In dem Land herrsche bisher die Ansicht vor, dass Ureinwohnervölker der Vergangenheit angehörten. Demnach seien sie entweder ganz verschwunden oder hätten sich im Laufe der Geschichte mit der übrigen Bevölkerung vermischt.

Folgt man dieser Sichtweise, so sind die etwa 6,1 Millionen Salvadorianer 'Mestizen' - eine ethnische Mischung aus Ureinwohnern und Nachfahren der Spanier, die das Land seit 1524 kolonisierten. Die Existenz indigener Gemeinden wird damit geleugnet. Lara zufolge stellt die Verfassungsreform die Dinge richtig, "dass nämlich El Salvador ein multikultureller und multiethnischer Staat ist".

Laut einer 2007 durchgeführten Volkszählung machen Ureinwohner lediglich 0,2 Prozent der Bevölkerung aus. Indigenenvertreter berufen sich jedoch auf eine Haushaltsumfrage des Wirtschaftsministeriums von 2005, der zufolge 17 Prozent der Salvadorianer Ureinwohner sind. Die meisten gehören dem in der Landesmitte und im Westen beheimateten Volk der Nahua-Pipil und den im Osten lebenden Lenca und Cacaopera an. Wie Lara erklärte, sind in manchen kleinen Städten wie Santo Domingo de Guzmán in der südwestlichen Provinz Sonsonate bis zu 80 Prozent der Einwohner Indigene.

Die Ureinwohner wurden von den spanischen Kolonialherren und später von der einheimischen Elite der 'Criollos' versklavt und ausgebeutet. Die 'Criollos' beherrschten El Salvador, nachdem das Land 1821 von Spanien unabhängig geworden war. "Etwa Mitte des 20. Jahrhunderts wurden indigene Völker nicht mehr als solche betrachtet. Dies war der Zeitpunkt, als sich ein falsches Bild von 'Zivilisation' durchzusetzen begann", sagte Lara.


Sprachverlust nach Massaker

1932‍ ‍ließ der damalige Diktator Maximiliano Hernández Martínez eine Bauernrevolte im Westen des Landes niederschlagen. Konservativen Schätzungen zufolge wurden dabei zwischen 10.000 und 30.000 Menschen getötet. Nach dem Massaker verbargen viele Ureinwohner ihre Herkunft und hörten auf, ihre von der Regierung verbotene Sprache Nahuat zu sprechen.

Die Sprache hatte sich im zehnten Jahrhundert nach Christus, vom heutigen Zentralmexiko herkommend, in Zentralamerika ausgebreitet. Während sie in Mexiko nach wie vor gesprochen wird, ist sie in El Salvador inzwischen nahezu verschwunden.

Der von der UN-Kulturorganisation UNESCO erstellte Atlas der gefährdeten Weltsprachen verzeichnet in El Salvador nur noch etwa 200 Menschen, die die Ureinwohnersprache beherrschen.

Auch die Lebensbedingungen der Indigenen machen deutlich, dass diese im Laufe der Jahrhunderte an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Der Soziolinguistische Atlas von UNICEF belegt, dass sich die Armutsrate unter den Ureinwohnern in El Salvador 2009 auf 38 Prozent belief und damit weit über dem nationalen Durchschnitt von knapp 19 Prozent bewegte. 67 Prozent der indigenen Familien sind zudem nicht an das staatliche Wassersystem angeschlossen. Der nationale Mittelwert liegt hingegen bei 39 Prozent.

Die Verfassungsreform allein wird aus Sicht der Ureinwohner noch längst nicht alle Probleme lösen. Laut Shandur Kuatzín, dem Vorsitzenden der Vereinigung der Indigenen Gemeinden von Guacotecti Cushcatan muss der Kampf um die Wiedererlangung des von Großgrundbesitzern Anfang des 19. Jahrhunderts beschlagnahmten Gemeindelandes erst noch beginnen. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
https://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/DRIPS_en.pdf
http://www.unesco.org/culture/languages-atlas/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100715
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107776

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2012