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LATEINAMERIKA/1437: Chile - Große soziale Ungleichheit, geringe Wahlbeteiligung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. November 2013

Chile: Große soziale Ungleichheit, geringe Wahlbeteiligung

von Marianela Jarroud


Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Der Ladeninhaber Don Alejandro erhofft sich von der neuen Regierung mehr soziale Gerechtigkeit
Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Santiago, 14. November (IPS) - In Chile finden am 17. November zum sechsten Mal seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie Wahlen statt. Dann steht die neue Regierung vor der Herausforderung, das Vertrauen in die repräsentative Demokratie wiederherzustellen, das aufgrund der ungleichen Verteilung von Reichtum und Macht stark gelitten hat.

Den Prognosen des Zentrums für öffentliche Studien zufolge wird die ehemalige sozialistische Staatspräsidentin Michele Bachelet (2006-2010) aller Voraussicht nach mehr als 30 Prozent der Wählerstimmen erringen und sich somit gegenüber ihrer Herausforderin Evelyn Matthei, Kandidatin der rechten Regierungspartei, durchsetzen. Bachelet benötigt die Hälfte der Wählerstimmen und eine Zusatzstimme, um sich einen zweiten Durchgang zu ersparen. Seit 1990 konnte nur einmal - 1993 - auf eine Stichwahl verzichtet werden

Den Wahlprognosen zufolge ist mit einer hohen Stimmenthaltung zu rechen. Darauf weist auch der diesjährige Bericht des Meinungsforschungsinstituts Latinobarometer hin. Die geringe Wahlbeteiligung müsse als Kritik an einem politischen System aufgefasst werden, das in den letzten 20 Jahren nur einigen wenigen Chilenen zu Wohlstand verholfen hat.


Großes Armutsgefälle

Der Weltbank zufolge liegt das chilenische Pro-Kopf-Einkommen bei 21.500 Dollar pro Jahr. Einer vierköpfigen Durchschnittsfamilie müssten demnach pro Jahr 86.000 Dollar zur Verfügung stehen. In dem 17 Millionen Einwohner zählenden Land müssen jedoch zwei von drei Haushalten mit monatlich 1.200 Dollar auskommen und sind hoch verschuldet, wie die auf Sozial- und Arbeitsthemen spezialisierte Stiftung Sol herausfand.

Zudem verdienen Fabrikarbeiter keine 500 Dollar im Monat. Im Gegensatz dazu stehen den 4.500 reichsten Familien im Land monatlich mehr als 40.000 Dollar zur Verfügung. Die Armut wird mit Hilfe der sogenannten 'Umfrage zur Charakterisierung der Nationalen Sozioökonomie' gemessen. Sie lag 2011 bei 14,5 Prozent.

Doch die Untersuchung hat einen entscheidenden Schönheitsfehler: Sie berücksichtigt lediglich den monetären Aspekt der Armut. Als arm gelten demnach diejenigen Chilenen, die entweder in einem städtischen Umfeld leben und weniger als 144 Dollar im Monat verdienen, oder die auf dem Land leben und sich mit 100 Dollar begnügen müssen. Diese Kriterien liegen auch der Berechnung des 1987 eingeführten Warenkorbs zugrunde, der die tatsächlichen Bedarfsartikel der chilenischen Verbraucher nicht mehr beinhaltet.

Experten sind sich einig, dass eine Aktualisierung der Methodologie eine Korrektur im Sinne eines deutlich höheren Armutsanteil von über 28 Prozent erfordern würde, der die Unzufriedenheit der meisten Chilenen erklärt. Seit 2011 kommt es in dem südamerikanischen Land zu sozialen Protesten, die Experten zufolge nur dann ein Ende nehmen, wenn die ab März 2014 amtierende neue Regierung auf die Reformwünsche der Demonstranten eingeht.

Dem Wirtschaftswissenschaftler Gonzalo Durán von der Stiftung Sol zufolge ist die Ungleichheit im Lande so groß, dass die Pro-Kopf-Einnahmen der fünf Prozent ärmsten Haushalte 70 Mal geringer sind als die der fünf Prozent reichsten Familien. "Wir haben es hier mit einer sozialen Kluft zu tun, die sich im Zeitraum von 1990 bis 2011 um 100 Prozent vergrößert hat." Durán beruft sich auf eine Studie der Universität von Chile, der zufolge ein Prozent der reichsten Chilenen 30 Prozent der Gesamteinnahmen des Landes akkumuliert.

Wie der Soziologe Alberto Mayol gegenüber IPS erklärte, wird zwar in Chile das Thema Armut diskutiert, nicht aber die Ungleichheit im Lande, die die prekäre Beschäftigung einbezieht, die wiederum dazu geführt habe, dass Millionen Chilenen nicht genug zu essen hätten und sich verschulden müssten, um Nahrungsmittel kaufen zu können. Der Anteil liege bei 60 Prozent.

Don Alejandro und seine Frau Juanita besitzen einen kleinen Lebensmittelladen im Süden der Hauptstadt Santiago. Auch sie kämpfen ums Überleben und hoffen, dass die nächste Regierung auf ihre Bedürfnisse eingehen wird. Nur unter großen Mühen ist es ihnen gelungen, ihren Kindern ein Studium zu finanzieren. Eine Tochter lebt noch unter ihrem Dach, der Sohn springt ein, wenn die Mittel nicht reichen. "Wir haben geschuftet und auf viel verzichtet, damit unsere beiden Kinder studieren konnten", sagt das Ehepaar.

Dem 62-jährigen Alejandro zufolge ist es wichtig, dass Chilenen ihr Demonstrationsrecht in Anspruch nehmen, um ihre Situation zu verbessern. Für seine sechs Jahre jüngere Frau ist es wichtig, dass die rechte Regierung, "die dafür sorgt, dass die Reichen und die Mittelklasse befehlen und uns noch weiter ins Elend stürzen", von der Linken abgelöst wird.


Politik, Wirtschaft und Institutionen in der Legitimitätskrise

Mayol zufolge steckt das wirtschaftliche, politische und institutionelle Modell in einer tiefen Legitimitätskrise. Das Phänomen Bachelet bezeichnete er als "exzentrisch", da die Ex-Staatschefin in jeder Hinsicht unpolitisch sei. "Ihr Wahlsieg ist nur eine Formalität." Sollte sie wie erwartet neue Staatspräsidentin werden, sei sie im Interesse ihrer neuen Koalition Neue Mehrheit gut beraten, mit den Vertretern der sozialen Bewegungen der alten 'Concertación' zusammenzuarbeiten, die das Land von 1990 bis 2010 regierte.

Am 17. November findet auch die Wahl der 120 Parlamentsabgeordneten und der 38 Senatoren des Zweikammerparlaments statt. Darüber hinaus werden erstmals die Regionalräte gewählt, die als Bindeglied zwischen Bürgern und den Regierung agieren sollen.

Bachelet müsste im Fall ihres Wahlsiegs ihre großen Versprechen einlösen und innerhalb von sechs Jahren eine Steuerreform verwirklichen, mit deren Hilfe unter anderem gewährleistet wird, dass Studenten kostenfrei studieren können. Auch stünde die Reform der aus der Zeit des ehemaligen Diktators Augusto Pinochet stammende Verfassung an, die nach wie vor den Staat und die Gesellschaft Chiles reguliert. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.cepchile.cl/dms/lang_1/home.html
http://www.fundacionsol.cl/
http://observatorio.ministeriodesarrollosocial.gob.cl/ipc_pob_descripcion.php
http://www.econ.uchile.cl/uploads/publicacion/306018fadb3ac79952bf1395a555a90a86633790.pdf
http://www.ipsnoticias.net/2013/11/el-chile-de-las-desigualdades-ante-la-eleccion-del-va-mas/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 14. November 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2013