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LATEINAMERIKA/1445: Kuba - Sichtbarer Wandel, doch an den Ärmsten gehen die Reformen vorbei (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Januar 2014

Kuba: Sichtbarer Wandel - Doch an den Ärmsten gehen die Reformen vorbei

von Patricia Grogg


Bild: © Jorge Luis Baños/IPS

In der kleinen Bar 'El Madrigal' im Havanna-Stadtteil Vedado
Bild: © Jorge Luis Baños/IPS

Havanna, 2. Januar (IPS) - Kubas Städte und Dörfer sind kaum wiederzuerkennen: Wo einst die obligatorischen Wandbilder mit politischen Parolen zu sehen waren, werben nun Restaurants und Herbergen mit bunten Leuchtreklamen um Gäste. Die Lichter bezeugen den bis vor kurzem noch unvorstellbaren Boom des Privatsektors.

Auch die grenzüberschreitende Mobilität hat zugenommen. Aufgrund der 2013 in Kraft getretenen Reiseerleichterungen haben nach offiziellen Angaben Kubas Bürger zwischen dem 14. Januar und 30. November 2013 mehr als 250.000 Reisen ins Ausland unternommen. Da weder Ausreisegenehmigungen noch Einladungsbriefe aus den Zielländern erforderlich sind, können sogar bekannte Dissidenten nach einem Jahrzehnte währenden Reiseverbot aus- und einreisen.

2011 hatten die Kubaner ihre Besitzrechte über ihre Häuser und Autos wiedererhalten, die sie zuvor ausschließlich an den Staat verkaufen durften. Ende letzten Jahres wurde der freie Import und Verkauf von Autos bekanntgeben. Einziger Wermutstropfen: Die Fahrzeuge werden zu marktüblichen Preisen gehandelt und sind somit für viele Kubaner unerschwinglich.

Die 67-jährige Mercedes, die bis zur ihrer Pensionierung in einem Büro gearbeitet hatte, bezieht eine Rente in Höhe von monatlich elf US-Dollar. Sie, die zudem eine behinderte Tochter zu versorgen hat, wird von den Reformen nicht profitieren. "Das Geld reicht ja kaum zum Überleben", sagt sie. Gern würde sie ein Zimmer vermieten, doch fehlt ihr das Geld für die Renovierung.


Ungleiche Start-up-Chancen

"Problematisch ist nicht, dass die Reformen zu langsam vonstatten gehen, sondern dass sie nicht von allen gleichermaßen genutzt werden können", meint die Kommunikationsexpertin Bélkis González. "Trotz aller staatlichen Zusicherungen, dass niemand schutzlos dastehen und es zu keinen 'Schocktherapien' kommen wird, sind die Gefälle und Ungleichheiten nach wie vor groß."

Während der Diskussionen im Vorfeld der Reformen, die 2011 von der Kommunistischen Partei eingeführt wurden, mahnten Experten weiterreichende soziale Sicherungsvorkehrungen als diejenigen, die im Reformpapier enthalten waren, an.

Die Soziologin Mayra Espina weist darauf hin, dass der Anteil der kubanischen Städter, die arm sind beziehungsweise deren Grundeinkommen nicht ausreichen, von 6,3 Prozent 1988 auf 20 Prozent im Jahr 2000 gestiegen ist. Ursache dieser Entwicklung war die Rezession, die den Inselstaat Anfang der 1990er Jahre nach dem Niedergang der europäischen Sozialismusbewegung heimsuchte, von der Kuba abhing.

Dem Zensus von 2012 zufolge lebten damals 76,8 Prozent aller 11.167.325 Millionen Kubaner in Städten. Zwei Millionen waren über 60 Jahre alt. Im gleichen Jahr hatte die Regierung von Staatspräsident Raúl Castro armen Kubanern für die Instandsetzung oder den Bau eigener Wohnungen staatliche Beihilfen bereitgestellt. Parallel dazu wurde die Abschaffung der Bezugsscheine verschoben - ein Subventionssystem zur Unterstützung armer Kubaner, die sich der Staat im letzten Jahr 2,44 Millionen Dollar kosten ließ.

Die Armen können die durch die Reformen geschaffenen Möglichkeiten jedoch nicht nutzen, weil sie weniger gut vorbereitet sind, weil ihnen die Mittel für die Gründung eines Unternehmens fehlen oder aber weil sie nicht in den Genuss von Überweisungen von im Ausland lebenden Kubanern kommen. Diese Überweisungen halfen vielen Familien dabei, den wirtschaftlichen Turbulenzen der letzten Jahrzehnte zu trotzen. Maya Espina zufolge wäre es wichtig, neben Hilfs- und Schutzprogrammen für die Armen auch Maßnahmen zu finanzieren, die den Abbau der Ungleichheiten begünstigen.

Die umfassendste Veränderung betrifft die Landwirtschaft, doch auch hier blieben konkrete Ergebnisse aus. Die Lebensmittelpreise sind nach wie vor hoch. Dass sich die Reformen der letzten fünf Jahre in diesem Bereich nicht ausgezahlt haben, führen Experten auf das Ausbleiben von Maßnahmen zur Förderung der Produktivkräfte und viel zu geringe Entscheidungsfreiheiten zurück.

Derzeit befinden sich 70 Prozent des Landes in der Hand nichtstaatlicher Akteure, die einen Anteil an der Nahrungsmittelgesamtproduktion von 75 Prozent haben. Zu ihnen zählen Kooperativen und private Farmer, die mehr als 57 Prozent pflanzlicher und tierischer Nahrungsmittel herstellen. "Sie alle haben durchaus ihre Effizienz unter Beweis gestellt", meint dazu Wirtschaftswissenschaftler Armando Nova in einem im Internet verbreiteten Interview.


Genossenschaften genießen Priorität

Mehr als 440.000 Menschen arbeiten als Selbstständige in den fast 200 staatlich autorisierten Berufssparten. Die Regierung will nun die Gründung nicht landwirtschaftlicher Kooperativen vorantreiben. Bisher wurden 270 genehmigt, 228 warten derzeit auf grünes Licht. Vizepräsident Marino Murillo erklärte vor dem Parlament, dass den Genossenschaften vor allem deshalb Priorität eingeräumt werde, weil ihre Produktionsweisen und Ressourcenverteilung besonders sozial seien.

Nach den Vorstellungen der Behörden soll die Privatwirtschaft bis 2016 40 Prozent aller Arbeitsplätze bereitstellen. Doch arme Kubaner werden davon kaum profitieren. "Ich weiß, dass (der Ex-Präsident) Fidel (Castro) und Raúl (Castro) an uns denken", meint Mercedes, die dankbar ist, dass sie und ihre Tochter eine kostenlose Gesundheitsversorgung genießen. "Doch sie sind schon über 80. Was wird sein, wenn ihnen andere ins Amt folgen? Werden diese die Nahrungsmittelbezugskarten abschaffen? Was soll dann aus uns werden?" (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnoticias.net/2013/12/las-reformas-cubanas-creen-en-lagrimas/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2014