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LATEINAMERIKA/1456: Venezuela - Menschenrechte niedergeknüppelt, Gewalt beherrscht Straßenproteste (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Februar 2014

Venezuela: Menschenrechte niedergeknüppelt - Gewalt beherrscht Straßenproteste

von Humberto Márquez


Bild: © Estrella Gutiérrez/IPS

Angehörige und Studenten tragen ein Transparent mit den Namen einiger der jungen Leute, die im Zuge der landesweiten Demonstrationen uns Leben kamen
Bild: © Estrella Gutiérrez/IPS

Caracas, 27. Februar (IPS) - Die zweiwöchigen gewaltsamen Konfrontationen in 30 venezolanischen Städten haben bislang 15 Menschen das Leben gekostet. Dutzende wurden verletzt und 500 festgenommen. Hinzu kommen Folter- und Repressionsvorwürfe gegen Sicherheitskräfte und regierungsnahe Gangs sowie gewalttätige Übergriffe auf Journalisten.

Der Staat habe die 1990 in Havanna angenommenen Grundsätze der Vereinten Nationen über den Einsatz von Gewalt und Schusswaffen in den Müll befördert, sagt der Koordinator der Hilfsorganisation 'Provea', Marino Alvarado. Der Generalstaatsanwaltschaft und dem staatlichen Menschenrechtsbüro warf er Untätigkeit vor.

Zeugenaussagen, Presseberichte und Videoaufnahmen, die in den sozialen Netzwerken verbreitet werden, zeigen das ganze Ausmaß der Gewalt auf Venezuelas Straßen: Demonstranten, die von Zivilpolizisten erschossen werden, an den Folgen des Einsatzes von Tränengas und Gummigeschossen sterben und von regierungsnahen bewaffneten Gruppen angegriffen werden.

Zu den bisher letzten Opfern gehört Jimmy Vargas. Der 34-Jährige war am 24. Februar in San Cristóbal, der Hauptstadt des südwestlichen Bundesstaates Táchira an der Grenze zu Kolumbien, aus dem zweiten Stock eines Gebäudes gestürzt und kurz darauf gestorben. Nach Angaben seiner Familie hatte er das Gleichgewicht verloren, nachdem er bei einem Angriff der Nationalgarde mit Gummigeschossen und Tränengas getroffen worden war.

Am 23. Februar erhielt der Systemingenieur Alejandro Márquez einen tödlichen Schlag, als er mit seinem Handy Aufnahmen in der Nähe einer Barrikade im Zentrum der Hauptstadt Caracas machte. Vermutet wird, dass dafür Nationalgardisten verantwortlich waren.

Aber auch die Aktivitäten einiger gewaltbereiter Demonstranten kosteten Menschenleben. So stürzte am 21. Februar der Verkäufer Elvis Durán von seinem Motorrad, weil Protestierende ein Kabel über seine Straße gespannt hatten.


Foltervorwürfe

In Valencia, einer Industriestadt westlich von Caracas, berichteten junge Folteropfer, dass man einem von ihnen, Juan Carrasco, einen Gewehrlauf in den Anus getrieben habe. "Mein Sohn wurde von Männern in Uniform misshandelt, vergewaltigt und gedemütigt", erklärte die Mutter Rebeca Gonazález de Carrasco. "Sie haben sein Leben und das vieler anderer zerstört."

Geraldine Moreno Orozco wurde aus nächster Nähe von einem Gummigeschoss im Gesicht getroffen, nachdem eine erste Ladung sie zu Boden gestreckt hatte. Auch diese junge Frau verstarb.

In verschiedenen Städten wurden Vorfälle gemeldet, denen zufolge junge Leute nach ihrer Festnahme mit Benzin übergossen und mit dem Feuertod bedroht worden waren. Andere wurden mit Stromschlägen traktiert. Ferner wurden Tränengaskanister in Wohnungen geworfen.

Die ersten Todesfälle ereigneten sich am 12. Februar zum Ende eines Protestmarsches. Nach Angaben des venezolanischen Staatspräsidenten Nicolás Maduro waren Demonstranten in die Schusslinie der politischen Polizei geraten, die sich weigerten, in eine Kaserne einzuziehen. Dem Staatschef zufolge starben 50 Personen, die aufgrund der errichteten Barrikaden nicht rechtzeitig medizinisch versorgt werden konnten.


Juristen bereiten Klagen vor

Anwaltsvereinigungen wie das Strafrechtliche Forum Venezuelas und die Stiftung für Rechte und Gleichheit sind bereits dabei, Klageschriften vorzubereiten, die sie internationalen Organisationen vorlegen wollen. "Staatliche Akteure müssen damit rechnen, wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt zu werden", erklärte die Juristin Elenis Rodríguez.

Die Massendemonstrationen begangen am 6. Februar in der Hauptstadt von Táchira. Dort protestierten Studierende gegen die zunehmende Kriminalität an ihrer Universität. Zuvor war eine Kommilitonin beinahe vergewaltigt worden.

Die Auflösung des Protestmarsches zog eine weitere, größere Polizeiaktion nach sich. Drei junge Leute, die Steine gegen die Residenz des Gouverneurs José Vielma schleuderten, einem Militär a. D. und Mitglied der regierenden Vereinigten Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (PSUV), warten in einem Gefängnis in der nordwestlichen Stadt Coro auf ihren Prozess.

Auf die Festnahmen folgte eine weitere Kundgebung, die in Windeseile auf andere Städte übergriff, wo sich Tausende Menschen mit den Studenten solidarisierten. Am 12. Februar, dem venezolanischen Tag der Jugend und dem 200. Jahrestag einer Schlacht im Rahmen des Unabhängigkeitskrieges, organisierten Studentenbewegungen landesweite Proteste. Zudem forderte der Runde Tisch für demokratische Einheit, eine von Leopoldo López angeführte Oppositionsbewegung, die Maduro-Regierung zum Rücktritt auf. Inzwischen wurde López wegen Unruhestiftung und anderer Vorwürfe festgenommen.

Analysten zufolge werden die Massenproteste von jungen Leuten der Mittelschicht angeführt, die ihrer Unzufriedenheit über die häufigen Versorgungsengpässe, Korruption, Inflation und grassierende Kriminalität Luft machen. Auch wenn das Gros der Demonstrationen friedlich verläuft, kommt es mitunter zu Situationen, in denen Steine geworfen oder Straßenbarrikaden in Brand gesetzt werden.

Die Regierung hat Kampfflugzeuge und Militärhubschrauber nach Táchira entsandt, die die Demonstrationen überfliegen. Darüber hinaus wurde ein Fallschirmspringerbataillon mit dem Auftrag losgeschickt, die Zufahrtswege nach San Cristóbal freizumachen.


Opposition fordert Auflösung der 'Kollektive'

Ein relativ neues Phänomen sind die bewaffneten 'Kollektive', deren Mitglieder sich auf Motorrädern fortbewegen und gegen Demonstranten und Bewohner oppositionsnaher Stadtviertel vorgehen. Diese Gruppen setzen auf Einschüchterungsmaßnahmen: sie geben Schüsse ab, demolieren Autos und schlagen Fensterscheiben ein. Nach Ansicht von Alvarado handelt es sich hierbei um "linke Paramilitärs", die vorgeben, sich sozial zu engagieren, tatsächlich jedoch politische Gewalt ausüben.

Maduro hat wiederholt vor einer "Dämonisierung der Kollektive" gewarnt, denen er zu verschiedenen Anlässen sein Lob ausgesprochen hat. Tatsächlich sind nicht alle revolutionären oder Chávez-Kollektive, wie die Gruppen aus Anhängern des verstorbenen Staatspräsidenten Hugo Chávez (1999-2013) offiziell genannt werden, bewaffnet und gewalttätig.

Laut Luis Cedeño von 'Aktiver Frieden', einer Nichtregierungsorganisation, bezeichnen sich parapolizeiliche Banden, die in Abwesenheit des Staates bestimmte städtische Gebiete kontrollieren, als Kollektive". Sie agierten wie der bewaffnete Arm der Sicherheitskräfte, um sich auf diese Weise eine gewisse Legitimität und Straflosigkeit zu sichern.

Der Ruf nach einer Entwaffnung und Auflösung dieser Kollektive ist zur Losung der Opposition geworden. In diesem Zusammenhang kritisiert Alvarado, dass sich die Staatsanwaltschaft und das staatliche Menschenrechtsbüro taub stellen und nichts gegen die Vernichtung von Beweismitteln durch die Exekutive unternehmen würden.

Rodríguez und Alvarado werfen den Sicherheitskräften und anderen öffentlichen Stellen vor, das Anti-Folter-Gesetz zu ignorieren, das vor knapp einem Jahr vom Parlament einstimmig beschlossen worden war. "In Venezuela wird nicht gefoltert", erklärte Maduro auf einer Presskonferenz am 22. Februar.

Auch die Medien mussten Schläge einstecken. So berichteten Journalistenorganisationen von 62 gewalttätigen Übergriffen im Rahmen der Proteste in diesem Monat. Darüber hinaus wurde das Empfangssignal des kolumbianischen Nachrichtensenders NTN24 gestört und dem spanischen Dienst von CNN mit einer ähnlichen Maßnahme gedroht. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnoticias.net/2014/02/derechos-humanos-abatidos-en-protestas-venezolanas/

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IPS-Tagesdienst vom 27. Februar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2014