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LATEINAMERIKA/1468: Chile - Regierung verspricht Abschaffung repressiver Gesetze aus Diktaturzeiten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 26. Juni 2014

Chile: Regierung verspricht Abschaffung repressiver Gesetze aus Diktaturzeiten

von Marianela Jarroud


Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Das Mapuche-Paar Catalina Marileo und Luis Aillapán vor ihrer Hütte in Puerto Saavedra in der zentralen Region Araukanien. 2002 hatten sie und ihre Angehörigen gegen den Bau einer Autobahn auf ihrem Land durch das Militär protestiert. Sie wurden vor Gericht gestellt, nach dem Anti-Terrorismus-Gesetz verurteilt und am Ende wieder freigelassen
Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Santiago, 26. Juni (IPS) - Chile hat sich international dazu verpflichtet, die Menschenrechte in dem südamerikanischen Land zu stärken und repressive Gesetze aus der Zeit der Diktatur (1973-1990) zu überarbeiten. So sollen Fortschritte bei den sexuellen und reproduktiven Rechten erzielt, die Anti-Terrorismusgesetze abgeschafft und die Rechte der indigenen Völker respektiert werden. Außerdem hat die Regierung in Santiago zugesagt, für einen universellen Zugang zu Bildung und Gesundheit zu sorgen.

"Wir beobachten, dass Chile konstant Maßnahmen ergreift, um seinen Verpflichtungen nachzukommen", kommentierte Amerigo Incalcaterra, der regionale Vertreter Südamerikas des UN-Menschenrechtshochkommissariats die Zusagen der Regierung. Am 19. Juni hatte sich Chile zum zweiten Mal im laufenden Jahr der Universellen Periodischen Überprüfung unterzogen, einem vom UN-Menschenrechtsrat initiierten Kontrollmechanismus. Bei ihrem Erscheinen vor dem Rat in Genf akzeptierte die chilenische Regierung 180 der 185 Empfehlungen, die 84 Mitgliedstaaten vorgebracht hatten. Fünf wies sie zurück.


Weitreichender Handlungsbedarf

Chile ist eines der konservativsten Länder Lateinamerikas. Es gehört zu den weltweit sechs Staaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche ausnahmslos verboten sind. Scheidungen sind erst seit 2004 erlaubt, und Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle (LGBTI) kämpfen noch immer um die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.

Hinzu kommt, dass der Zugang zu Bildung und Gesundheit in dem 17 Millionen Einwohner zählenden Land ungleich verteilt ist. Indigenen Völkern wie den Mapuche fehlt zudem die Anerkennung durch die Verfassung. Seit Jahrzehnten kämpfen die Indigenen um die Rückgabe ihrer traditionellen Gebiete, von denen sie vertrieben worden sind.

Die Regierung des ehemaligen Staatspräsidenten Sebastián Piñera (2010-2014) hatte sich kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt im März mit den Empfehlungen auseinandergesetzt und 142 angenommen. 13 wies er zurück und weitere 30 "nahm er zur Kenntnis". Wie er damals erklärte, sei es Sache des Parlaments, letztere anzunehmen. Damit betrat Piñera Neuland, wie Paula Salvo, Anwältin beim Nationalen Menschenrechtsinstitut (INDH) erklärte, das an der Sitzung in Genf teilgenommen hatte. "Bisher war es so, dass Empfehlungen entweder angenommen oder zurückgewiesen wurden."

Am 30. Mai schickte die Regierung von Michelle Bachelet eine Korrektur des vorangegangenen Berichts nach Genf, durch die sie 180 Empfehlungen anerkannte und fünf zurückwies. Abgelehnt wurden unter anderem zwei des Vatikans zu den Rechten des Menschen auf Empfängnis und den Schutz der traditionellen Familien und eine aus Bolivien zugunsten eines Zugangs des Landes zum Pazifik.

Wie Incalcaterra berichtete, sind viele Empfehlungen, die Piñera zurückgewiesen hatte, in Bachelets Regierungsprogramm enthalten, was die Bereitschaft, sie anzunehmen, erkläre. Dazu gehört auch die Entkriminalisierung der therapeutischen Schwangerschaftsabbrüche in Fällen, in denen der Fötus geschädigt, das Leben der Mutter gefährdet und die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande gekommen sei. Ein entsprechendes Gesetz, dass den Abbruch der Schwangerschaft in diesen Fällen erlaubt, wird in der zweiten Jahreshälfte im Parlament diskutiert.

Neben der Legalisierung der Schwangerschaftsabbrüche sollen auch andere Gesetze reformiert werden, die noch aus der Zeit der Diktatur von Augusto Pinochet stammen. Dazu gehört das Anti-Terrorismus-Gesetz, das fast ausschließlich gegen die indigenen Mapuche angewandt wird, die um die Rückgabe ihrer traditionellen Ländereien kämpfen.


Reform von Anti-Terrorismus-Gesetz

Das Gesetz sieht hohe Strafen, duale Verhandlungen vor zivilen und militärischen Gerichten, 'gesichtslose' Zeugen und viele andere Anomalien vor, die gegen die Menschenrechte verstoßen. Die Regierung hat sich gegenüber dem Menschenrechtsrat verpflichtet, das Gesetz nicht mehr gegen das Mapuche-Volk anzuwenden und deren Menschenrechte zu respektieren.

Ein weiteres Überbleibsel der Diktatur 24 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie betrifft die Regelung, dass Militärangehörige - egal ob Opfer oder Täter - ausschließlich vor ein Militärgericht gestellt werden können. Im Rahmen der versprochenen Reform sollen die Sicherheitskräfte, denen gemeine Verbrechen vorgeworfen werden, künftig vor ein Zivilgericht gestellt werden. Gleichzeitig sollen keine zivilen Fälle mehr vor einem Militärgericht verhandelt werden.

Hernando Silva von der Bürgerlichen Beobachtungsstelle brachte gegenüber IPS die Zufriedenheit seiner Organisation über die Annahme dieser Empfehlungen zum Ausdruck. Nun bleibe zu hoffen, dass sie "ein für alle Mal umgesetzt werden". Er erinnerte daran, dass es nicht das erste Mal sei, dass sich Chile zur Reform der Militärgerichtsbarkeit und des Anti-Terrorismus-Gesetzes verpflichtet habe. Doch geschehen sei nichts. "Bachelet selbst hatte während ihrer ersten Amtszeit (2006-2010) versprochen, das Anti-Terrorismus-Gesetz nicht länger gegen die Mapuche anzuwenden, sich aber nicht daran gehalten." Dieses Mal müsse sie ihren Menschenrechtsverpflichtungen umfassend nachkommen.

Incalcaterra zufolge besteht zwar rechtlich keine Verpflichtung, die Empfehlungen des UN-Sicherheitsrats umzusetzen. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass "die gesamte Arbeit, die auf internationaler Ebene geleistet wird, auf der Grundlage des guten Willens basiere." In vier Jahren werde Bilanz gezogen.

Ziel der Universellen Periodischen Überprüfung ist es, die Menschenrechte aller Bürger eines Landes zu fördern. "Wir sollten sie als ein Zusatzinstrument betrachten, um Staaten dabei zu helfen, ihre Gesetze und öffentlichen Strategien in Fällen, in denen es nötig ist, zu verbessern, damit sie die erforderlichen Mittel bereitstellen, Daten sammeln und analysieren sowie Kampagnen organisieren", so Incalcaterra.

Dem INDH kommt die Rolle einer staatlichen Überprüfungsinstitution zu. Dem Institut zufolge besteht ein großer Handlungsbedarf, internationale Menschenrechtsabkommen zu ratifizieren. Gebraucht werde ferner eine staatliche Menschenrechtsorganisation, ein nationaler Menschenrechtsplan und eine Menschenrechtsbildungsoffensive.

Für die vielen Diktaturopfer, die nicht entschädigt wurden, sollte dem INDH zufolge eine ständige Beratungsstelle geschaffen werden, die sich mit den verbliebenen Forderungen befassen soll. Auch sollten Folteropfer rechtlichen und sozialen Beistand erhalten. INDH-Anwalt Salvo plädiert zudem für einen ständigen Revisionsmechanismus, um die Umsetzung der UN-Empfehlungen garantieren zu können. "Denn jetzt", so Salvo, "sind wir intern herausgefordert." (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/06/chile-promete-borrar-la-sombra-de-la-dictadura-en-ddhh/
http://www.ipsnews.net/2014/06/chile-vows-to-dispel-lingering-shadow-of-dictatorship/

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IPS-Tagesdienst vom 26. Juni 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2014