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LATEINAMERIKA/1474: Mexiko - Gesetze, die töten. Mehrere Bundesstaaten gehen gegen Demonstrationsrecht vor (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. August 2014

Mexiko: Gesetze, die töten - Mehrere Bundesstaaten gehen gegen Demonstrationsrecht vor

von Daniela Pastrana


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Schulkameraden auf der Beerdigung des 13-jährigen José Luis Alberto Tehuatlie im mexikanischen Dorf San Bernardino Chalchihuapan im Bundesstaat Puebla
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

San Bernardino Chalchihuapan, Mexiko, 1. August (IPS) - In San Bernardino Chalchihuapan, einer Stadt im zentralmexikanischen Bundesstaat Puebla, herrscht eine Stimmung aus Wut und Trauer. Ein 13-jähriges Todesopfer, ein weiterer Junge, dem drei Finger fehlen, und ein drittes Kind mit gebrochenem Kiefer und ausgeschlagenen Zähnen gehören zu den etwa 40 Opfern eines neuen bundesstaatlichen Gesetzes, das der Polizei den Einsatz von Schusswaffen, Gummigeschossen und Tränengas zur Niederschlagung von Demonstrationen erlaubt.

Die 3.900 Einwohner vom Volk der Nahua hatten gegen ein weiteres Gesetz protestiert, von dem sie sagen, dass es ihre Autonomie untergräbt. In Puebla wurde den beigeordneten Bürgermeistern ('presidentes auxiliares') ihre Funktion als Verwalter der zivilen Melderegister entzogen. Zuständig sind seit Mai die Gemeindebezirke. Doch glaubt man den dortigen Einträgen, wurden seither in mindestens 190 Dörfern keine Kinder mehr geboren und auch keine Ehen mehr geschlossen. Und auch gestorben wurde nicht.

"Es ist nicht richtig, dass man uns auf diese Weise behandelt, nur weil wir den Respekt gegenüber unserem Gemeindeleben und unseren Autoritäten einfordern", kommentierte der Schüler Vianey Varela den ersten Polizeieinsatz nach Verabschiedung des sogenannten 'Gesetzes zum Schutz der Menschenrechte und zur Regulierung des Einsatzes von Gewalt durch die Polizei', das Journalisten 'Ley bala' ('Kugelgesetz') nennen.

In den mexikanischen Gemeindebezirken gibt es neben den Bürgermeistern die Beigeordneten, die für die oftmals weitab vom Sitz der Bezirksregierungen abgelegen Städte und Dörfer zuständig sind. Sie leiten die Amtsgeschäfte, ernennen den örtlichen Polizeichef und waren bis vor kurzem für die Melderegister zuständig. Sie werden direkt von den Gemeindebewohnern gewählt und als volksnahe lokale Führer geschätzt.


Protestschreiben ignoriert

Javier Montes ist seit Mai Beigeordneter von San Bernardino Chalchihuapan. Doch wie er gegenüber IPS erklärte, hat er bis heute kein einziges Dokument unterzeichnet. Zwar sei man im Besitz der Archive, doch fehle es am Allernötigsten, um handeln zu können. "Wir haben die Behörden angeschrieben", sagt Montes, dem seine öffentliche Kritik anonyme Drohungen eingebracht hat. "Sie haben nie geantwortet. Als uns Tinte und Briefpapier ausgingen und unsere Finger vom vielen Tippen wund waren, haben wir protestiert."

San Bernardino Chalchihuapan gehört zum Gemeindebezirk Ocoyucan, in dem vorwiegend Nahua leben. Nach Schätzungen der Nationalen Kommission für die Entwicklung indigener Völker ist Puebla die Heimat von einer Million Ureinwohner, die ein Viertel der Bevölkerung des Bundesstaates stellen.

Am 9. Juli wurde der 13-jährige José Luis Alberto Tehuatlie von einem Gummigeschoss am Kopf getroffen. Er fiel ins Koma, zehn Tage später war er tot. Die Bundestaatenregierung hatte zunächst versucht, den Einsatz von Gummigeschossen zu leugnen. Der Volkszorn war so groß, dass sich der Gouverneur Rafael Moreno zu der Ankündigung gezwungen sah, das Gesetz zu widerrufen.

Puebla ist nicht der einzige Ort in Mexiko, in dem es Bemühungen gibt, Demonstrationen einzuschränken. Im vergangenen Jahr haben die Gesetzgeber von fünf mexikanischen Bundesstaaten ähnliche Gesetze diskutiert. Zum ersten Versuch kam es im Bundesdistrikt, in Mexiko-Stadt, der seit 1997 von der Links-Partei der demokratischen Revolution regiert wird.

In der Hauptstadt wird fast täglich demonstriert. Doch seit Enrique Peña Nieto am 1. Dezember 2012 als neuer mexikanischer Präsident vereidigt wurde, schlagen die Protestmärsche häufig in Gewalt um. Ein Bundesdistriktgesetz zur Regulierung der Demonstrationen, das die Abgeordneten der oppositionellen rechten Nationalen Aktionspartei im Dezember eingebracht hatten, kam jedoch nicht voran.

Der erste Bundesstaat, der schließlich ein solches Gesetz einführte, war Quintana Roo im Südosten des Landes. Er wird von der Partei der institutionalisierten Revolution regiert. Das Gesetz für bürgerliche Ordnung, auch 'Anti-Protest-Gesetz' genannt, ist eine abgeschwächte Variante einer vorangegangenen Initiative, der zufolge Demonstrationen genehmigt und die entsprechenden Anträge mindestens 48 Stunden vor dem geplanten Termin eingereicht werden müssen.

Straßenblockaden sind gemäß dem neuen Gesetz weiterhin verboten, und die Polizei darf zu "angemessenen Mitteln greifen". Ähnliche Bestimmungen, die den Einsatz von Gewalt zur Auflösung von Demonstrationen erlauben, wurden in den Bundesstaaten San Luis Potosí und Chiapas eingeführt.


Internationale Kritik

Globale Menschenrechtsorganisationen wie 'Article 19' und 'Amnesty International' haben heftig gegen die Gesetze zur Regulierung von Demonstrationen protestiert. Sie berichten von Versuchen seit 2012, soziale Proteste zu kriminalisieren.

Bisher hat die staatliche Nationale Menschenrechtskommission nicht von ihrem Recht Gebrauch gemacht, gegen die verfassungswidrigen Anti-Demonstrationsgesetze vorzugehen. Vielmehr empfahl sie im Oktober 2013, dass der Senat Artikel neun der Verfassung ändert, der sich auf das Demonstrationsrecht und den Einsatz öffentlicher Gewalt bezieht.

Der Polizeieinsatz vom 9. Juli hatte die Menschen in San Bernardino Chalchihuapan in Rage gebracht. Zu Hunderten erschienen sie zur Beerdigung von José Luis Alberto Tehuatlie am 22. Juli. Viele forderten den Rücktritt des Gouverneurs. "Warum probiert er die Gummigeschosse nicht an seinen eigenen Kindern aus?", fragte ein Mann nach dem Begräbnis, an dem rund 40 beigeordnete Bürgermeister des Bundesstaates teilnahmen. Bisher wurde niemand für den Tod des 13-Jährigen zur Rechenschaft gezogen. (Ende/IPS/kb/ 2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/07/en-mexico-hay-leyes-que-matan-a-manifestantes/
http://www.ipsnews.net/2014/07/laws-that-kill-protesters-in-mexico/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 1. August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2014