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LATEINAMERIKA/1485: Mexiko - Gewalt gegen Studierende ländlicher Lehrerkollegs (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Oktober 2014

Mexiko: Gewalt gegen Studierende ländlicher Lehrerkollegs

von Daniela Pastrana


Bild: © Pepe Jiménez/IPS

Die Raúl-Isidro-Burgos-Lehrerschule im mexikanischen Ayotzinapa. Studierende der Einrichtung wurden am 13. Oktober in der Stadt Iguala im Bundesstaat Guerrero von der Polizei angegriffen. Sechs der jungen Leute wurden getötet, 25 verletzt und 43 gelten seither als vermisst
Bild: © Pepe Jiménez/IPS

Mexiko-Stadt, 24. Oktober (IPS) - Die Bilder auf den Titelseiten der Tageszeitungen vom Februar 2000 sind vielen Mexikanern noch präsent: Sie zeigen 61 halbnackte, an den Handgelenken gefesselte Polizisten, die auf dem zentralen Platz der Stadt Tepatepec im Bundesstaat Hildalgo niederknien, während ihnen die lokale Bevölkerung damit droht, sie bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Das genaue Datum war der 19. Februar 2000. Der Grund für den Volkszorn war die Besetzung der Normalen Ländlichen Luis-Villarreal-Schule für Lehrer in El Mexe und die Festnahme von 176 Studierenden, die gegen die Ankündigung der bundesstaatlichen Behörden protestiert hatten, die Zahl der Studienplätze zu verringern.

Zwischen diesem Ereignis und dem Brandanschlag von Lehrern und Studierenden auf ein Regierungsgebäude in der Stadt Ayotzinapa im südwestlichen Bundesstaat Guerrero am 13. Oktober liegt eine lange Geschichte der Repression und Kriminalisierung der landesweit ärmsten Studierenden: der Söhne und Töchter von Kleinbauern, die in den ländlichen Schulen unterrichten wollen.


Demontierungsversuche

"Dieser Zorn hat sich aufgebaut", meint dazu Etelvina Sandoval, Wissenschaftlerin an der Nationalen Pädagogischen Universität, Mexikos Hochschule für Lehrer. "Seit Jahren sind die ländlichen Ausbildungsstätten für Grundschullehrer Zielscheibe von Versuchen, sie auszuhebeln. Die Lehrer und die jungen Leute werden für das, was sie tun, verachtet. Und niemand hilft ihnen. Denn es geht ja nur um die Zukunft von Kindern armer Leute."

Guerrero ist der drittärmste und zugleich politisierteste Bundesstaat Mexikos. Er gilt als der Geburtsort der Sozialbewegungen, und vor vier Jahrzehnten war er eine der Hauptzielscheiben des 'schmutzigen Krieges' - der Verfolgung von Dissidenten durch die damalige Militärregierung. Bis heute ist die genaue Zahl der Toten und Verschwundenen unbekannt.

Der Bundesstaat ist zudem einer der gewalttätigsten. Und seit dem 26. September, als die Sicherheitskräfte in der Stadt Iguala drei Busse mit Studierenden der Normalen Ländlichen Raúl-Isidro-Burgos-Lehrerschule angriffen, steht er wieder im Mittelpunkt der nationalen Aufmerksamkeit. Während die Umstände für den Polizeieinsatz weiterhin unbekannt sind, gibt es Berichte, denen zufolge die Beamten etliche der verhafteten Studenten an das Beltrán-Leyva-Drogenkartell übergeben haben.

Bei den Zusammenstößen kamen sechs Menschen ums Leben, 25 wurden verletzt und 43 Studierende, hauptsächlich Erstsemestler, werden vermisst. Mitverantwortlich für den Vorfall werden der Bürgermeister José Luis Abarca und seine Frau María de los Ángeles Pineda gemacht. Beide sind untergetaucht. Den Ermittlungen zufolge sollen sie auf der Gehaltsliste des Drogenkartells stehen.

Auf der Suche nach den verschollenen Studierenden stießen die Ermittler auf 23 Massengräber mit Dutzenden Leichen. "Diese willkürliche Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die wir in der sechsjährigen Regierungszeit von Felipe Calderón (2006-2012) erlebt haben, richtet sich seit dem Regierungswechsel gegen die sozialen Bewegungen. Was in Iguala geschah, war nur eine Frage der Zeit", meint dazu Héctor Cerezo, ein Mitglied des Cerezo-Komitees, das Verschwindenlassen und andere Verbrechen dokumentiert.

Junge Leute, die an den ländlichen Lehrerschulen unterrichten, sind die ärmsten Studierenden im Lande. Sie werden zu Grundschullehrern ausgebildet, um nach ihrem Abschluss arme Campesinos in den entlegenen bäuerlichen Gemeinschaften zu unterrichten. Städtische Lehrer haben in der Regel kein Interesse daran, in die Dörfer zu ziehen.

Die Studierenden sind allesamt Bauern, deren einzige Chance auf eine Lehrerausbildung die sogenannten 'Normalen Schulen' darstellen. Sie wurden 1921 gegründet und sind die letzte Bastion der sozialistischen Bildung der Jahre 1934 bis 1945. Diese Lehreinrichtungen, an denen die Studierenden Mahlzeiten und ein Stipendium in Höhe von drei bis sieben Dollar am Tag erhalten, werden von den Studierenden selbst verwaltet. Sie nehmen direkt Einfluss auf die administrativen Entscheidungen und sind über die Vereinigung der sozialistischen bäuerlichen Studierenden Mexikos mit anderen Schulen vernetzt. Dieser ältesten Studentenorganisation Mexikos wurde mehrfach vorgeworfen, Rebellen ausgebildet zu haben.

Aus ihren Reihen sind legendäre Guerillaführer wie Lucio Cabañas, Gründer der 'Armenpartei' (1967), und Genaro Vázquez hervorgegangen. Beide hatten am Ayotzinapa-Lehrer-Kolleg studiert. Misael Núñez Acosta war ein Student an der 'Normalen Schule' in Tenería im Bundesstaat Mexiko. Nachdem er 1979 die Lehrergewerkschaft Nationale Koordinationsstelle für die Beschäftigten des Bildungssektors gegründet hatte, wurde er ermordet.


Politisches Bewusstsein

"Die Schulen dienten dem Zweck der politischen Arbeit und Bewusstseinsbildung. Die Studierenden sind sehr unabhängig denkende Menschen [im Vergleich zu ihren Kommilitonen der städtischen Normalen Schulen]", meinte Sandoval. "Die ländlichen Lehrerkollegs waren den Regierungen schon immer ein Dorn im Auge." Von den ursprünglich 46 sind nur noch 15 übrig geblieben. Die Hälfte der Normalen Schulen wurde von dem damaligen Staatspräsidenten Gustavo Díaz Ordaz (1964-1970) nach der Bildung der Studentenbewegung geschlossen.

Die übrig gebliebenen versuchen seit 1999 ihre Umwandlung in Berufsfachschulen zu verhindern. Die bundesstaatlichen Behörden drehen ihnen den Geldhahn zu. Als Begründung heißt es, das Land brauche angesichts der sinkenden Geburtenrate keine weiteren Grundschullehrer mehr.

Dies hat dazu geführt, dass die Schulgebäude und -installationen verfallen. In der Folge kommt es immer wieder zu Bränden und anderen Unfällen. 2008 starben zwei Studenten infolge eines Kurzschlusses an der ersten dieser ländlichen Grundschulen Lateinamerikas, der Normalen Ländlichen Vasco-de-Quiroga-Schule im nordwestlichen Bundesstaat Michoacán.

"Es gibt nicht genügend Lehrer in den entlegenen Gebieten", meint Sandoval. "Es gibt Dörfer, die Monate lang ohne Lehrer auskommen müssen. In einigen Gebieten versuchen Nicht-Lehrer die Lücken vorübergehend zu schließen - ohne Vertrag oder festem Stundenplan."

Der Angriff auf die Busse mit Studierenden der Ayotzinapa-Schule stellt die Menschenrechtspolitik von Präsident Enrique Peña Nieto auf die Probe. Der Übergriff ereignete sich vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen, die durch Versuche der letzten Regierungen, die Schule zu schließen, entstanden waren.

Im Januar 2007 versuchte der Gouverneur Zeferino Torreblanca die Zahl der Studienplätze zu senken. Den Schritt kündigte er an als Maßnahme, die "Studentokratie" zu verringern. Im November des gleichen Jahres löste die Polizei die Proteste der Studierenden vor dem Parlament des Bundesstaates gewaltsam auf.

Am 12. Dezember 2011 töteten die Sicherheitskräfte zwei normale Studierenden. Gabriel Echeverría de Jesús und Alexis Herrera Pino hatten an einer Straßenblockade teilgenommen, um damit gegen Kürzungen des Schulbudgets zu protestieren. 25 weitere Studierende wurden verletzt.


Straffreiheit

"Ayotzinapa erhebt sich, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Die akademische Kompetenz, die wir anstreben, darf nicht von unserer politischen Unterwerfung abhängen", hieß es damals in einer Stellungnahme der Vereinigung der sozialistischen bäuerlichen Studenten Mexikos. Bis heute wurde niemand für den Tod der Studierenden zur Rechenschaft gezogen.

Knapp drei Jahre später gerieten Studierende des Normalen Ländlichen Raúl-Isidro-Burgos-Lehrer-Kollegs vor ihrer Abfahrt nach Mexiko-Stadt, wo sie an einer Demonstration zur Erinnerung an das Massaker von Tlatelolco am 2. Oktober 1968 an Studierenden teilnehmen wollten, in Ayotzinapa in einen Hinterhalt der Lokalpolizei. Die Ermittlungen ergaben, dass sie einer kriminellen Bande übergegeben worden sind, mit der der Bürgermeister kooperierte. Seither gibt es von den 43 Vermissten kein Lebenszeichen. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/10/mexicos-cocktail-of-political-and-narco-violence-and-poverty/

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IPS-Tagesdienst vom 24. Oktober 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2014