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LATEINAMERIKA/1496: Mexiko - Massenvertreibung durch Machtkämpfe der Drogenmafia (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. Februar 2015

Mexiko: Massenvertreibung durch Machtkämpfe der Drogenmafia

von Daniela Pastrana



Bild: © Daniela Pastrana /IPS

Eine der leeren Straßen der Geisterstadt Santa Ana del Águila im mexikanischen Bezirk Ajuchitlán
Bild: © Daniela Pastrana /IPS

Ajuchitlán, Mexiko, 9. Februar (IPS) - Zwei Jahrzehnte lang diente der Cerro del Águila, eine Anhöhe in der südmexikanischen Region Tierra Caliente, lokalen Unabhängigkeitskämpfern als Rückzugsort. Doch inzwischen liefern sich hier berüchtigte Drogenkartelle heftige Gefechte um die Kontrolle des regionalen Schlafmohnanbaus, und die Menschen fliehen aus ihren Dörfern.

Vom Cerro del Águila aus lassen sich sämtliche Bewegungen der Region überblicken. Tierra Caliente erstreckt sich vom Balsa-Flussbecken in Guerrero bis zu den Gebirgshängen von Michoacán und Mexiko. Alle drei Bundestaaten standen im letzten Jahr im Mittelpunkt von Aktivitäten, die mit der Drogenkriminalität zusammenhingen: In Michoacán wurden paramilitärische 'Selbstverteidigungsgruppen' gegründet, in Mexiko mindestens 15 Zivilisten durch die Armee getötet und in Guerrero 43 Studenten von der lokalen Polizei verschleppt und aller Voraussicht nach von Mitgliedern eines Drogenkartells ermordet.

Im Gebirgsdorf Santa Ana del Águila, das zum Bezirk Ajuchitlán del Progreso gehört, hat in den letzten Wochen eine Massenflucht eingesetzt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat die Ortschaft verlassen. Hier gibt es keine Sicherheitskräfte, keinen Priester und auch keinen Ansprechpartner des 'Nationalen Kreuzzugs gegen den Hunger', der wichtigsten Armutsbekämpfungsinitiative der Zentralregierung.


Geisterdörfer

Häuser und Geschäfte sind verrammelt. Vor den Türen des Gesundheitszentrums und der Schulen hängen dicke Vorhängeschlösser. Nur die weiterführende Schule am Ort hatte nach den Weihnachtsferien wieder aufgemacht und dafür einen hohen Preis gezahlt: Am 12. Januar, dem zweiten Schultag, wurde der Lehrer entführt, dessen Familie das geforderte Lösegeld bis heute nicht aufbringen konnte. "Ich selbst habe zwar keine Angst zu sterben, doch tun mir die anderen sehr leid, die so leiden müssen", meint ein Bewohner des Dorfes, das einst 748 Menschen zählte.

Ajuchitlán del Progreso und San Miguel Totolapan sind die beiden Bezirke in Guerrero, die besonders schlimm von der Gewalt des organisierten Verbrechens heimgesucht werden. Dort kämpfen verschiedene Gruppen, darunter die berüchtigten Kartelle 'Familia Michoacana' und 'Guerreros Unidos' um die Kontrolle über die Region, die für den Handel mit dem Schlafmohn besonders wichtig ist.

Wie José Carmen Higuera Fuentes, der Bürgermeister von Ajuchitlán, berichtet, sind die in dem Bezirk begangenen Hauptverbrechen Entführung und Lösegelderpressung. "Ich versuche mein Möglichstes, doch fehlt es an einer wirksameren und operativen Strategie, die auch die Geheimdienste einschließen müsste", betont der Bürgermeister, der keinen Polizeischutz genießt, obwohl seine Amtsvorgänger Raymundo Flores und Esteban Vergara 2013 'verschwanden'.

Wie in vielen anderen Fällen wurden auch diese beiden Entführungen nicht untersucht. "Die Bundesbehörden tun nur so, als unternähmen sie etwas", so Higuera Fuentes im IPS-Gespräch. "Sie schicken uns Soldaten und Bundespolizisten, doch nichts geschieht, weil diese sich nicht aus der Bezirkshauptstadt herausbewegen. Dabei sind es die Dörfer, die geschützt werden müssten."

Im gleichnamigen Bezirk verteilen sich 127 Dörfer über eine Gesamtfläche von 2.000 Quadratkilometer. Ursprünglich lebten hier rund 140.000 Einwohner.


Heroin für die USA

Mexiko produziert fast die Hälfte des Heroins für den US-Markt. In den letzten Jahren hat sich das Land zu Hauptlieferanten der Opiumderivate entwickelt, wie die Nationale Stelle zur Bewertung der Drogengefahr der US-Anti-Drogenbehörde DEA 2014 bekannt gab.

Im Jahresbericht über die Hauptproduzentenländer und den Drogentransit in Richtung USA, den US-Präsident Barack Obama dem Kongress im September zugestellt hat, berichtet die DEA über einen Anstieg der Heroinbeschlagnahmungen in Mexiko im Zeitraum 2009 bis 2013 um 234 Prozent. "Die USA beunruhigt vor allem der Anbau von Schlafmohn als dem Hauptgrundstoff für Opiumderivate in Mexiko", erklärte Obama in dem Bericht.

Die Schlafmohnanbaugebiete befinden sich in den Bundestaaten, die über einen Zugang zum Pazifischen Ozean verfügen. Es geht also um das Gebiet von Oaxaca im Süden Mexikos bis Sinaloa im Norden und einen Teil der Sierra des benachbarten Bundesstaates Chihuahua.

In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings Guerrero, einer der drei ärmsten mexikanischen Bundesstaaten, als Hauptproduzent der Drogen aus Schlafmohn herausgestellt. Dort werden 40 Prozent aller in Mexiko hergestellten Opiate produziert.

Für die Drogenmafia ist die Kontrolle von Tierra Caliente, das über den Zugang zu zwei Häfen verfügt, entscheidend. Doch die Anwesenheit der Kartelle hat Santa Ana del Águila und andere Ortschaften in Ajuchitlán und Totolapan in Geisterdörfer verwandelt. Und jeden Tag werden mehr Menschen von der Gewalt vertrieben. Die letzte 'Welle' der gewaltsamen Zusammenstöße begann kurz nach Weihnachten, wie Einwohner aus Santa Ana und dem nahegelegenen Garzas berichten.

Doch das Problem ist nicht neu. Die Massenvertreibungen in der Region nahmen ihren Anfang im Juli 2013, als ein Bandenkrieg die Flucht von 631 Bewohnern der Ortschaft Villa Hidalgo, einer der Gemeinschaften in Totolapan, bewirkte. Insgesamt kam es in jenen Tagen zur Flucht von mindestens 1.300 Menschen aus sieben Dörfern, wie der Bürgermeister von Totolapan, Saúl Beltrán Orozco, berichtet.

Die staatliche und autonome Nationale Menschenrechtskommission begann daraufhin mit Untersuchungen, und aus einem im Dezember veröffentlichten Sonderbericht über die sogenannten Selbstverteidigungsgruppen und die Unsicherheit in Guerrero geht hervor, dass es zwischen 2013 und 2014 zu 2.393 Fällen von Zwangsvertreibung kam.

Die zweite Welle der Gewalt setzte zwischen Mai und Juli 2014 ein. Im März 2014 flohen 136 Bewohner des Ortes Linda Vista nach Chipalcingo, um in der Hauptstadt von Guerrero, Zuflucht zu suchen. Drei Monate später drangen Bewaffnete in verschiedene Gemeinden ein, zündeten die Häuser an und ermordeten mehrere Menschen. In einem Dorf überlebte lediglich ein altes Ehepaar.

Nach Angaben der Lokalpresse wurden im Zeitraum 2013 bis 2014 4.000 Menschen vertrieben. Ein Abgeordneter gab die Zahl sogar mit 7.000 an.


Dörfer im Stich gelassen

Nach der Entführung von sieben Menschen im Januar wurde nach Angaben des Kommandanten der 35. Militärzone, Juan Manuel Rico Gámez, ein Militärlager am Bezirkssitz Ajuchitlán mit dem Ziel eingerichtet, die Dörfer zu schützen, aus denen in den letzten Wochen mehr als 1.000 Menschen geflohen sind.

Doch die nationalen Sicherheitskräfte - Militärs und Polizisten - verlassen so gut wie nie die Stadt, obwohl aus den nahe gelegenen Dörfern immer neue Horrormeldungen von Mord und Brandschatzung zu hören sind. Dazu meint Bürgermeister Higuera lakonisch: "Besser allein als in schlechter Gesellschaft." (Ende/IPS/kb/2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/02/narcotrafico-deja-reguero-de-pueblos-fantasmas-en-mexico/
http://www.ipsnews.net/2015/02/drug-violence-leaves-a-string-of-ghost-towns-in-mexico/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 9. Februar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2015

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