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LATEINAMERIKA/1516: Mexiko - Untersuchung über Schicksal verschleppter Studenten beginnt wieder bei null (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. September 2015

Mexiko: Untersuchung über Schicksal verschleppter Studenten beginnt wieder bei null

von Daniela Pastrana


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Angehörige der 43 vermissten Studenten am 6. September in Mexiko-Stadt
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

MEXIKO-STADT (IPS) - Fast ein Jahr nach der Entführung von 43 Studenten in Mexiko steht die Regierung mit ihren Ermittlungen wieder am Ausgangspunkt, seitdem eine Gruppe unabhängiger Experten die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungen angefochten hat.

"Die Ermittlungen müssen vollständig neu ausgerichtet werden", sagte der spanische Psychologe Carlos Beristáin, eines der fünf Mitglieder der Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (IGIE), die am 6. September ihren 550-seitigen Bericht vorgelegt hat.

Die Gruppe war nach einer Übereinkunft mit der mexikanischen Regierung und Angehörigen der Vermissten von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zur Unterstützung der Ermittlungen eingesetzt worden.

Die Studierenden am Lehrerkolleg in Ayotzinapa im Nordwesten des südlichen Bundesstaates Guerrero waren in Bussen unterwegs, als sie nahe der Stadt Iguala in einen Hinterhalt lokaler Polizeikräfte gerieten. Seitdem sind sie verschwunden.


Schlampige Ermittlungen, widersprüchliche Aussagen

Die IGIE hatte von März bis September 115 Prozessakten untersucht. Sie besichtigte den Ort des Überfalls und sprach mit den Familien der Studenten. In ihrem Report weisen die Experten nun auf zahlreiche Fehler und Versäumnisse bei den Ermittlungen unter Aufsicht der Generalstaatsanwalt hin. So wurden Spuren nicht weiterverfolgt, Beweise vernichtet und falsche Schlussfolgerungen gezogen.

Auch bei den Zeugenaussagen stellte das Team Widersprüche fest. Es bemängelte ferner, dass die Untersuchung des Überfalls nicht mit den Ermittlungen über den Verbleib der verschleppten Studierenden verbunden worden sei.

Vor allem wird in dem Bericht die zentrale These des früheren Generalstaatsanwalts Jesús Murillo Karam widerlegt, nach der die Verschleppten ermordet und ihre Leichen auf einer Müllhalde in Cocula nahe Iguala über einen Zeitraum von zwölf Stunden verbrannt worden seien.

Die Behörden hatten ihre Erkenntnisse auf Aussagen von drei mutmaßlich an dem Massaker beteiligten Männern gestützt, die erklärten, die Leichen verbrannt und die verkohlten Überreste zermalmt und danach in Müllsäcken in einen nahegelegenen Fluss geworfen zu haben.

"Die Opfer wurden nicht auf der Müllkippe verbrannt. Ein solches Ereignis hat nicht stattgefunden", erklärte der chilenische Rechtsanwalt Francisco Cox. Die Schlussfolgerungen der IGIE basieren auf den Nachforschungen von José Torrero, Brandschutztechnikexperte an der Universität von Queensland in Australien.

Torrero zufolge wären 30 Tonnen Holz, 13 Tonnen Autoreifen und 60 Stunden Zeit erforderlich gewesen, um 43 Leichen zu verbrennen. Die Flammen wären sieben Meter und der Rauch 300 Meter hoch gestiegen. Aufgrund der geographischen Lage wäre ein Waldbrand unvermeidlich gewesen. In einem solchen Fall wäre eine so große Hitze entstanden, die jeden, der sich dem Ort genähert hätte, verbrannt hätte.


Überfall der Sicherheitskräfte verlief koordiniert

Der Bericht klärte zudem Zweifel hinsichtlich der Anwesenheit der Armee an mindestens zwei möglichen Orten des Verbrechens. Die Hypothese, dass die Studenten versehentlich angegriffen worden seien, wurde damit widerlegt. "Die Studierenden wurden von den staatlichen Behörden und der Armee beobachtet", berichtete die guatemaltekische Anwältin Claudia Paz. "Sie wussten sehr wohl, um wen es sich handelte. Die Studenten waren nicht bewaffnet, kein Polizist wurde verletzt."

Paz schloss zudem aus, dass die Opfer, wie zunächst von den Behörden behauptet, eine Demonstration von Anhängern der Frau des damaligen Bürgermeisters von Iguala, José Luis Abarca, stören wollten. María de los Angeles Pineda werden Verbindungen zur Drogenmafia nachgesagt.

Andererseits ließen die staatlichen Ermittler einen Hinweis außer Acht, der sich auf einen auf rätselhafte Weise verschwundenen Bus bezog. Dieser "fünfte Bus", in dem sich ebenfalls Studenten befanden, hatte als letzter den Abfahrtsort verlassen und war in eine andere Richtung als die übrigen Busse gefahren.

Laut IGIE ist Iguala eine Drehscheibe für den Heroinschmuggel in Richtung USA. Einige der Studenten könnten sich unwissentlich in einem Bus mit Drogen an Bord befunden haben. "Dies würde eine so brutale Reaktion und einen so massiven Angriff erklären." Den Experten zufolge müssen unterschiedliche Polizeieinheiten an neun verschiedenen Orten im Einsatz gewesen sein. Dies lässt den Rückschluss zu, dass das Verbrechen geplant und koordiniert wurde.


Zusammenhang mit Drogenschmuggel vermutet

Die Expertengruppe kritisiert das Versäumnis, die Ermittlungen zusammenzulegen. An einem bestimmten Punkt der Untersuchung hätten 52 Staatsanwälte daran gearbeitet, ohne sich gegenseitig abzusprechen. IGIE empfahl, die Untersuchungen zusammenzuführen und gegen Beamte zu ermitteln, die Nachforschungen behindert oder blockiert haben. Im Zentrum der Untersuchung müsse die Hypothese stehen, dass Drogengeschäfte der Hauptgrund für den Hinterhalt gewesen seien.

Der mexikanische Staatspräsident Enrique Peña Nieto erklärte in dem sozialen Netzwerk Twitter, er habe die Ermittler angewiesen, die Ergebnisse des Berichtes zu beherzigen. Die im März eingesetzte Generalstaatsanwältin Arely Gómez stellte kürzlich neue Untersuchungen auf der Müllhalde in Aussicht und kündigte an, den Einsatz von IGIE um weitere sechs Monate zu verlängern.

Die Eltern der Opfer wollen sich nicht damit zufriedengeben, dass ihre Kinder nach offizieller Lesart lediglich vermisst werden. Sie forderten Nieto auf, sich mit ihnen zu treffen. Außerdem verlangen sie, dass die IGIE solange weitermacht, bis der Verbleib der Verschwundenen geklärt sei.

Einige Beobachter äußerten sich allerdings wenig zuversichtlich. Die Gewalt gegen junge Leute, die an ländlichen Universitäten studieren, beschränkt sich nicht allein auf den Fall der 43 vermissten Studenten. Sechs weitere wurden regelrecht exekutiert. Zwei der Opfer waren aus nächster Nähe erschossen worden. An einem weiteren Leichnam wurden Folterspuren entdeckt. Weitere 40 Studenten wurden verletzt, zwei von ihnen liegen im Koma.

Laut IGIE wurden in Mexiko im Laufe von acht Jahren 148 Fälle von Verschwindenlassen dokumentiert, 82 davon allein in Iguala. 55 ereigneten sich in der Amtszeit des ehemaligen Bürgermeisters José Luis Abarca. Seit Oktober 2014 sind mehr als 100 Personen festgenommen worden, darunter auch Abarca und seine Frau. Keiner von ihnen wurde jedoch bislang verurteilt. (Ende/IPS/ck/10.09.2015)


Links:

http://www.ipsnews.net/2015/09/investigation-of-43-missing-mexican-students-back-to-zero/
http://www.ipsnoticias.net/2015/09/vuelve-al-inicio-la-investigacion-sobre-43-estudiantes-mexicanos/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 10. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2015

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