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LATEINAMERIKA/1843: Erschießungen durch den "gatillo fácil" - Argentinien legalisiert tödliche Repression (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Argentinien Gatillo Fácil: Tödliche Repression wird legalisiert

Von Giuliana Sordo


(Buenos Aires, Dezember, la primera piedra/poonal) - Die derzeitige argentinische Regierung ist - seit der Rückkehr zur Demokratie - für die meisten Tötungen durch staatliche Sicherheitskräfte verantwortlich. Jetzt wurde unter der verantwortlichen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich eine gesetzliche Regelung erlassen, die den staatlichen Sicherheitskräften einen nicht genau bestimmten, aber viel größeren Spielraum einräumt, tödliche Schüsse auf Verdächtige abzugeben. Diese Bestimmung verstößt gegen die argentinische Verfassung und mehrere internationale Abkommen; in der Praxis ist der "gatillo fácil" (vorschnelles Schießen) jedoch bereits Gang und Gäbe. Die argentinische Koordinationsgruppe gegen Polizeiliche und Institutionelle Repression CORREPI (Coordinadora Contra la Represión Policial e Institucional) verzeichnete in den drei Regierungsjahren unter Macri 1100 Tötungen durch den "gatillo fácil".

Am 3. Dezember 2018 wurde die neue gesetzliche Bestimmung 956/2018 offiziell bekannt gegeben. Damit forderte Patricia Bullrich die Demokratie ein weiteres Mal heraus: mit einem Repressionsapparat, der bereit ist zu töten und die Handlungsbefugnisse der Sicherheitskräfte weiter ausdehnt. Die Erschießung von Rafael Nahuel vor etwas mehr als einem Jahr oder die Ermordung Javier Chocobars im Jahr 2009 lösten Entsetzen aus [1]. Nun zeigt sich, dass dieses Vorgehen Teil einer sich ausweitenden Praxis ist. Bereits einige Tage vor Beginn des G20-Gipfels in Buenos Aires drang die Entscheidung Bullrichs, die Befugnisse der staatlichen Sicherheitskräfte zur Benutzung von Schusswaffen auszuweiten, an die Öffentlichkeit. Damals erklärte der Sprecher des Sicherheitsministeriums, dass dies lediglich ein außerordentliches Mittel sei, um die Sicherheit der ausländischen Besucher*innen während des Gipfels zu garantieren. Dennoch wurde die gesetzliche Bestimmung 956/2018 erst nach dieser Ankündigung veröffentlicht und ist bereits in Kraft getreten.


Gegen jede Norm

Die argentinische Koordinationsgruppe gegen Polizeiliche und Institutionelle Repression CORREPI (Coordinadora Contra la Represión Policial e Institucional) hat sämtliche Gesetzesartikel aufgelistet, gegen die die neue Resolution verstößt. Unter ihnen befinden sich die Richtlinien des "Verhaltenskodex für Beamte mit Polizeibefugnissen" der Vereinten Nationen (Res. 34/169, 17/11/1979), die festlegen, dass "Beamte mit Polizeibefugnissen dazu verpflichtet sind, die Menschenwürde zu achten und zu schützen und die Menschenrechte aller Personen zu wahren und zu verteidigen".

Die gesetzliche Regelung verstößt außerdem gegen die "Grundprinzipien der Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit Polizeibefugnissen" der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1990. Diese legen fest, dass Beamte mit Polizeibefugnissen "nur dann Gewalt anwenden oder von Schusswaffen Gebrauch machen dürfen, wenn andere Mittel erfolglos bleiben oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen". Die Grundprinzipien weisen die Beamten an, beim Einsatz von Waffen Zurückhaltung zu üben und die Verhältnismäßigkeit gegenüber der Schwere der Straftat zu wahren sowie den Schaden und die Verletzungen auf ein Mindestmaß zu beschränken und das menschliche Leben zu achten und zu wahren.

Zugleich setzt die neue Bestimmung die Regularien der argentinischen Bundespolizei aus dem Jahr 2002 außer Kraft. Diese legen fest, dass "bei allen Techniken und Taktiken der Polizei der Schutz des Lebens und die körperliche Unversehrtheit der Menschen an erster Stelle steht" und "der Gebrauch von Schusswaffen das letzte verfügbare Mittel zum eigenen Schutz und zum Schutz Dritter (...) ist". Explizit heißt es auch: "Eine Flucht rechtfertigt nicht den Waffengebrauch, außer die flüchtige Person schießt auf ihrer Flucht weiterhin auf Polizeipersonal". Dann muss die flüchtige Person notfalls auch mit Waffengewalt aufgehalten werden, um das eigene Leben oder das Dritter zu schützen.

Amnesty International Argentinien argumentiert in die gleiche Richtung: "Laut internationalem Recht rechtfertigt die bloße Tatsache, dass eine Person sich der Festnahme entzieht oder flieht, während sie sich in Polizeigewahrsam befindet, niemals den Schusswaffengebrauch. Eine tödliche Waffe darf nur verwendet werden, wenn die Flucht der Person eine schwere und anhaltende Bedrohung für das Leben anderer Personen darstellt, wie zum Beispiel, wenn die flüchtende Person das Feuer eröffnet."


Schießen um zu töten

Die neue Gesetzesbestimmung zeigt die verschiedenen Situationen auf, in der staatliche Sicherheitskräfte einen tödlichen Schuss abgeben dürfen, ohne sich strafbar zu machen: "Wenn sich eine Gruppe aus zwei oder mehr Personen bildet und ein Mitglied eine Waffe besitzt oder Schüsse abgegeben hat oder Dritte verletzt hat"; "wenn jemand versucht an eine Waffe heranzukommen, mit der vermuteten Absicht, dass sie gegen die Sicherheitskraft oder Dritte eingesetzt werden soll"; "wenn es zu Bewegungen kommt, die auf einen bevorstehenden Gebrauch der Waffe schließen lassen"; "wenn jemand flieht, nachdem diese Person andere getötet oder schwer verletzt hat, bzw. es versucht hat". Das sind nur einige Beispiele.

Die genannten Situationen sollen als Rechtfertigung für die Sicherheitskräfte dienen, wenn sie wegen Mordes angeklagt sind. Bei Gerichtsverhandlungen gegen Sicherheitskräfte und Polizist*innen ist es heute an der Tagesordnung, dass die Berichte über Auseinandersetzungen von der Vorstellung begleitet sind, dass ihr*e Gegenüber hätte bewaffnet sein können. Es wird von verdächtigen Bewegungen gesprochen. Mehrheitlich wird diesen Versionen von Zeug*innen und Überlebenden widersprochen. Diese Versuche, die Erschießung nicht bewaffneter Personen zu rechtfertigen, sind die klassischen Werkzeuge der Justiz, um Verfahren gegen angeklagte Staatsdiener*innen einzustellen oder diese frei zu sprechen. Damit machen sie sich zu Kompliz*innen des "gatillo fácil". Mit dieser neuen gesetzlichen Regelung der Regierung Cambiemos werden Morde, die unter der Annahme begangen werden, dass die verdächtige Person eine Waffe besitzen könnte, juristisch nicht mehr in Frage gestellt.


Legalisierung der gängigen Praxis

In der Praxis überrascht dieses Vorgehen nicht. Seit 1983 war Repression staatliche Politik aller Regierungen und auch bei dieser Regierung ist es nicht anders. Die Cambiemos-Regierung hat allerdings schon in ihrem ersten Regierungsjahr alle Rekorde des Mordens gebrochen und Tag für Tag verstärkt sie ihre Repression in den Vierteln, unterdrückt den sozialen Protest und jetzt legalisiert sie die mörderische Rolle ihrer Agenten.

Wie schon erwähnt wurde, unterscheidet sich die polizeiliche Praxis - vor allem in den ärmeren Vierteln - vor und nach der neuen gesetzlichen Regelung nicht sonderlich. Doch sie ist ein effizientes Mittel, um den sozialen Protest auf noch brutalere Weise zu unterdrücken. Einen sozialen Protest, der sich mit der Zunahme der ausschließenden Politik der Regierung weiter zuspitzt.


Wie mit einem mörderischen Staat umgehen?

"Die Befugnis der Sicherheitskräfte, ihre Feuerwaffen zu nutzen, sollte gesetzlich geregelt werden", sagt Amnesty International AI hinsichtlich der neuen gesetzlichen Bestimmung, denn diese erfüllt im internationalen Rechtsverständnis streng genommen nicht den Status eines Gesetzes. AI ruft dazu auf, dass die gesetzliche Regelung mit Norm-Charakter genau festlegen solle, unter welchen Umständen und mit welchem Ziel der Einsatz von Gewalt erwogen werden könne. Außerdem sollten deutlichere Grenzen für den Gebrauch von Feuerwaffen festgelegt werden als für andere Gewaltanwendungen. Die bisherige Bestimmung erfüllt diese Forderungen nicht.

Der Richter Roberto Gallardo hat zwei Verfassungsbeschwerden, die die neue Bestimmung für unrechtmäßig erklären, stattgegeben. Der Abgeordnete Leonardo Grosso fordert ebenfalls eine Aufhebung der neuen Bestimmung und schlägt "eine gesetzliche Regelung vor, die den Schutz des Lebens, der Freiheit und der Sicherheit der Personen in den Mittelpunkt stellt, verbunden mit der persönlichen Pflicht, die öffentliche Sicherheit und den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten".

Doch noch ist diese gesetzliche Bestimmung gültig und die Diskurse der Regierung unterstützen weiterhin das repressive und mörderische Vorgehen. Der Staat wird weiterhin töten und die Schuldigen genießen die von Patricia Bullrich initiierte Straflosigkeit.

Spanischsprachige Audios zum Thema bei unserem Partnerradio La Tribu:
http://fmlatribu.com/noticias/2018/12/18/no-al-gatillo-facil-y-la-represion/


Anmerkung:
[1] https://www.npla.de/poonal/2017-ein-jahr-voller-repression-und-unterdrueckung/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/gatillo-facil-toedliche-repression-wird-legalisiert/


Der Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2018

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