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NAHOST/1069: Die Rolle der Kurden im Syrien"konflikt" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016

Die Rolle der Kurden im Syrien"konflikt"

Von Kenan Engin


Mit der Beteiligung zahlreicher internationaler Akteure ist aus dem Syrienkonflikt ein internationaler Krieg geworden. Dementsprechend wird hinsichtlich einer Lösung auf internationaler Ebene auf der Grundlage völlig unterschiedlicher Ansätze diskutiert, etwa, ob man mit Präsident Baschar al-Assad kooperiert oder eine Lösung nur ohne ihn möglich ist. Jedoch blieben bisher diese Bemühungen wie etwa der Plan von Kofi Annan vom März 2012, das Genfer Treffen Anfang 2014 und der Wiener Gipfel im Oktober 2015 ohne Erfolg.

Ursprünglich umfasste der Syrienkonflikt ausschließlich Assads Regierung und die lange unterdrückten Bevölkerungsgruppen wie die Mehrheit der Sunniten und sozial schwache Schichten, war also ein innersyrischer. Im Laufe der Zeit wandelte er sich jedoch durch die Involvierung externer Mächte zu einem internationalen Konflikt bzw. zu einem Stellvertreterkrieg, der drei Hauptallianzen hervorgebracht hat. Die erste Allianz besteht aus den EU-Staaten und den USA, die mit lokalen Gruppen wie den Kurden zeitweise kooperieren und lange auf eine Ohne-Assad-Lösung bestanden. Die zweite Allianz bildete sich aus den Staaten Türkei, Katar und Saudi-Arabien, die den Konflikt nur durch die Entmachtung von Assad gelöst sehen und dementsprechend Organisationen wie dem IS und der Al-Nusra-Front direkt oder indirekt Unterstützung anbieten. Die dritte Allianz schließlich ist ein schiitischer Block, der von Russland unterstützt und aus Assads Regierung, dem Iran, dem Irak und der Hisbollah im Libanon besteht.

In dieser Komplexität profilierten sich die Kurden rasch als eine sehr wichtige Kraft und ein politischer Akteur in der Region. Erstens sind sie eine schlagkräftige und verlässliche Macht gegen den IS auf syrischem Boden, mit der der Westen kooperieren kann. Zweitens können die Kurden bei der Migrationsproblematik eine große Rolle spielen, da die kurdischen Gebiete, die eine gewisse Stabilität und semi-demokratische Strukturen aufweisen, in der Lage wären, die unaufhaltsame Flucht der Menschen einzudämmen.

Progressiv oder repressiv?

Im Zuge des Arabischen Frühlings bot der Zerfall Syriens den Kurden eine günstige Möglichkeit, sich politisch und militärisch zu organisieren. Schon zu Beginn der Auseinandersetzungen im Jahr 2012 begannen sie kontinuierlich - teils mit Duldung von Damaskus - die nördlichen Teile Syriens, in denen etwa 2,5 Millionen Kurden leben und lange als Staatenlose galten, unter ihre Kontrolle zu bringen. Diesem Territorium, das als autonome Selbstverwaltungseinheit agiert und nach schweizerischem Modell in drei Kantone (Cizire, Kobane und Efrin) eingeteilt ist, gaben sie 2014 den kurdischen Namen "Rojava" (Westkurdistan). Die politischen und strukturellen Grundlagen der Kantone fußen auf der Gesellschaftsideologie von Abdullah Öcalan, dem Chef der Partîya Karkerén Kurdîstan (Arbeiterpartei Kurdistans; PKK). Diese enthält in vielen Bereichen, z.B. hinsichtlich der Beziehung zwischen Staat und Religion, der Frauenrechte, Minderheitenrechte oder der Beteiligung von Randgruppen an politischen Prozessen, progressive Denkansätze. Jedoch wird das System insgesamt von Menschenrechtsorganisationen und oppositionellen Kräften in "Rojava" aufgrund der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und der Nichtduldung oppositioneller Kräfte als repressiv eingestuft.

Kürzlich erlangten die Kurden weltweite Beachtung - weniger wegen des von ihnen aufgebauten Verwaltungssystems in Nordsyrien, sondern vielmehr wegen ihres Kampfes gegen den selbsternannten "Islamischen Staat" und die sogenannte Al-Nusra-Front. Zu Beginn des syrischen Konfliktes schlug die der PKK nahestehende PYD (Partei der Demokratischen Union) einen dritten Weg ein, indem sie Auseinandersetzungen sowohl mit der Regierung als auch mit der Opposition vermied. Auf diese Weise konnte sie zum einen aus existierenden militärischen und politischen Kräften in Nordsyrien unbemerkt eine Allianz bilden. Zum anderen war sie in der Lage, in den von den Regierungstruppen kampflos verlassenen Gebieten einen Quasi-Staat aufzubauen und ihre Machtposition weitgehend zu festigen. Anfänglich nahm der IS die kurdischen Gebiete nicht ins Visier und schlug zudem ein Nichtangriffsabkommen vor. Gegen Ende 2014 aber gab er diesen Vorsatz auf und attackierte die Kurden. Die Bedrohung durch den IS und die Al-Nusra-Front stärkte jedoch wiederum die Machtstellung der PYD - auch deshalb, weil sich die Bevölkerung (Kurden, Araber, Sunniten, Christen, Jesiden) von ihr Schutz versprach. Daraus entwickelte sich eine Machtposition, die auf der Verflechtung militärischer und gesellschaftlicher Strukturen beruht, die es der PYD ermöglichte, rasch und effektiv gegen den IS vorzugehen. Mit dem Rückhalt in der nordsyrischen Gesellschaft konnte die PYD zügig polizeiliche und militärische Einheiten aufbauen. Die Mitgliederzahl der Asayis (Polizei) und der YPG (Yekîneyên Parastina Gel; Volksverteidigungseinheiten) wuchs in kürzester Zeit auf über 50.000 Personen an (Stand August 2015). Etwa 30 % davon bestehen aus Fraueneinheiten (YPJ, Yekîneyên Parastina Jinan). Seit 2014 sind sie im Kampf gegen den IS verbündet mit den assyrisch-aramäischen Milizen (Sutoro-Einheiten), Einheiten der Freien Syrischen Armee sowie kleinen oppositionellen Gruppierungen wie dem "Vulkan des Euphrat", obwohl die Vorstellungen der einzelnen Akteure über die Zukunft Syriens unterschiedlich sind. Insgesamt betrachtet ist der militärische Arm der PYD derzeit die einzig wohlorganisierte militärische Kraft, die in Nordsyrien den IS erfolgreich bekämpft.

Die PYD wird zwar wegen ihrer ideologischen Nähe zur PKK oftmals kritisiert, genießt aber gleichzeitig internationale Anerkennung. Insbesondere die USA und mittlerweile auch Russland erleichtern das militärische Vorgehen der PYD gegen den IS durch die Ausrüstungshilfe und Luftangriffe auf Stellungen der Terrororganisation. Durch diese Hilfe kontrollieren die YPG derzeit einen durchgängigen Streifen vom Euphrat bis zum Tigris entlang der türkischen Grenze. Durch die Kooperation zwischen den USA und den Kurden konnte ferner die Eroberung des Sindschar-Gebirges durch den IS verhindert werden. Dadurch wurde ein drohendes Massaker an der Volksgruppe der Jesiden vereitelt.

Ankaras Haltung verschiebt die Allianzen

Es darf dabei nicht unerwähnt bleiben, dass die Zusammenarbeit zwischen den USA und der PYD bzw. YPG zum Teil der politischen Haltung der Türkei gegenüber dem IS zu verdanken ist. Es kann nicht nur von einer fehlenden Bereitschaft Ankaras gesprochen werden, gegen den IS zu kämpfen, sondern vielmehr gewährt die Administration in Ankara den IS-Kämpfern Unterschlupf und versorgt sie mit Waffen und anderen logistischen Mitteln, um vor allem die mögliche Errichtung einer zweiten Kurdenautonomie, diesmal auf syrischem Boden, zu verhindern. Dies führte zu einer Verschiebung der Allianzen, sodass die YPG, früher wegen ihrer Affinität zur PKK als terroristische Organisation eingestuft, einer der wenigen verlässlichen Partner des Westens auf syrischem Boden gegen den IS wurde. Eine militärische oder friedliche Lösung des Syrienkonfliktes ist ohne die Kurden nicht mehr denkbar.

Darüber hinaus verleiht ihre geostrategische Lage den Kurden in der Weltpolitik zusätzliche Bedeutung, denn sie kontrollieren etwa zwei Drittel des Gebietes der syrisch-türkischen Grenze. Erstens laufen durch diese Gebiete die Hauptrouten der Flüchtlinge. Eine Stabilisierung dieses Gebietes und der Aufbau könnten vor allem die Fluchtbewegungen aus den inneren Städten Richtung Türkei verhindern. Zweitens könnten diese Gebiete, in denen mehrere Großstädte wie z.B. Hasaka, Qamischli und Efrin liegen, für die Binnenflüchtlinge, deren Zahl derzeit auf etwa acht Millionen geschätzt wird, einen Zufluchtsort bieten. Damit könnten zunächst Fluchtbewegungen reduziert, sowie die gegenseitige Abhängigkeit mit der Türkei in Bezug auf die Lenkung der Migrationsströme verschoben werden.

Da die westlichen Staaten die Bedeutung der Kurden in Syrien allmählich zur Kenntnis nehmen, konnte die PYD nicht nur mit den USA, sondern auch mit EU-Staaten wie Frankreich und Italien diplomatische Beziehungen aufnehmen. Mit anderen EU-Staaten blieben diese allerdings bisher eher sperrig, da diese die PYD als einen Ableger der PKK betrachten, welche in der EU als Terrororganisation gilt. Zum Beispiel verweigert Deutschland diplomatische Beziehungen auf unterster Ebene. Denn einerseits möchten besagte EU-Staaten ihre Beziehungen zur Türkei nicht gefährden, andererseits wollen sie sich nicht mit den Arabern in Syrien und in den Nachbarstaaten verfeinden. Da die PYD nicht wie erhofft Unterstützung in Europa findet, ist zu erwarten, dass sie zukünftig stärker mit den USA zusammenarbeiten wird. Auch die USA sind auf die Kooperation mit der PYD angewiesen, da sie sie als einzige verlässliche Bodentruppe gegen den IS betrachten. Die halbherzige Unterstützung der EU-Staaten führte die Kurden Mitte 2015 auch zur Kooperation mit Russland. Da Russland die Bedeutung der Kurden für die Region erkennt, lud das russische Außenministerium den Chef der PYD, Salih Muslim, zum Gespräch über eine mögliche Zusammenarbeit nach Moskau ein. Dies bietet den Kurden mehr Spielraum, mit den anderen internationalen Akteuren zu verhandeln. Ob dadurch der Einfluss der EU in der Region reduziert wird, ist nicht abzusehen.

Vor dem Hintergrund, dass die PYD in der Region eine stabilisierende Rolle einnimmt, sollten die EU-Staaten intensivere bilaterale Beziehungen mit ihr aufnehmen, um sowohl die Macht des IS einzudämmen als auch durch die Errichtung einer sicheren Zone in Syrien die Fluchtbewegung aus dem Land zu mildern.


Kenan Engin ist promovierter Hochschuldozent an der Fachhochschule Mainz und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bonner Institut für Migrationsforschung. Forschungsschwerpunkte: Konflikte und Migrationsbewegungen im Mittleren Osten.
engin.kenan@lbajh-mainz.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016, S. 18 - 20
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2016

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