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NAHOST/619: Defence for Children International - Interview mit Rifat Kassis (EI)


The Electronic Intifada, 15. Februar 2010

Defence for Children International: Die palästinensischen Kinder verteidigen

Interview mit Rifat Kassis von Adri Nieuwhof


Defence for Children International-Palestine Section (DCI) hat zum Ziel, die Rechte der Kinder und Jugendlichen zu schützen, die im besetzten Palästina leben. Rifat Kassis wurde 2005 zum Präsidenten des Exekutivrates von DCI gewählt und hat z.Zt. seine 2. Amtszeit.


Adri Nieuwhof (AN): Können Sie uns über DCI-PS und ihre Arbeit dort erzählen?

RK: DCI-PS arbeitet jetzt seit 19 Jahren hier. Ich gründete mit anderen die Organisation. Was anfangs eine bescheidene Organisation war, ist heute eine große Organisation, auf die ich stolz sein kann. Unsere Hauptarbeit besteht aus rechtlichem Beistand, Kontrolle und Dokumentation von Verletzungen der Rechte der Kinder und internationale Fürsprache. Wir vertreten 30-40% der Kinder, die von Israel gefangen gehalten werden, und wir haben ziemlich viel Erfolg, die Strukturen der EU und der UN zu beeinflussen. Wir haben verschiedene Programme für die Rechte der Kinder, die unter der Jurisdiktion der israelischen militärischen Besatzung leben und auch derer unter palästinensischer Jurisdiktion. Außerdem arbeiten wir mit der palästinensischen Polizei und den relevanten Ministerien und Anwälten in Palästina zusammen, um juristische Standards für Jugendliche/Kinder einzuführen.

DCI-PS kümmert sich auch um den Schutz der Kinder als Opfer häuslicher Gewalt. Z.B. arbeiten wir zusammen mit dem (palästinensischen) Erziehungsministerium, um körperlich Strafen zu verbieten. Mit Organisationen der Gemeinden arbeiten wir zusammen, wie man Kinderrechte in ihr Programm integrieren und die Kinder auffordern, daran teilzunehmen, wie sie ihre Rechte zu Hause einfordern können, wie häusliche Gewalt und körperliche Strafen gestoppt werden können.

AN: Welches sind die Hauptanklagen gegen palästinensische Kinder in israelischen Gefängnissen?

RK: Nach unsern Aufzeichnungen werden fast 700 Kinder jedes Jahr nach dem israelischen Militärgerichtssystem verhaftet. Einige Kinder sind erst 12 Jahre alt. Die Mehrheit - etwa 26 % - der Kinder werden wegen Steinewerfens angeklagt. Es gibt auch noch ein paar andere Gründe z.B. Teilnahme an verbotenen politischen Aktivitäten oder Demonstrationen.

AN: Können Sie etwas über die Erfahrungen der palästinensischen Kinder sagen, die in israelischer Haft waren?

RK: Wir fanden jedes Mal dieselbe Prozedur, die in eidesstattlichen Erklärungen von den Kindern selbst, ihren Familien und von Anwälten beschrieben werden: Soldaten kommen in der Nacht oder am frühen Morgen mit viel Lärm und brechen gewalttätig ins Haus ein. Sie holen das Kind, ohne der Familie eine Erklärung zu geben. Andere Kinder werden an den Checkpoints verhaftet. Aber wenn Kinder aus den Wohnungen verhaftet werden, schreien die Soldaten: "Wo ist Mohammed?" und egal wie alt er ist, ob 12 oder 13, er wird gestoßen und die Augen werden ihm verbunden, die Hände schmerzvoll mit Plastikhandschellen gefesselt und dann werden das Kind hinten in den Militärjeep gesteckt. Dort wird es weiter von Soldaten gestoßen und geschlagen. Das verursacht eine Menge psychologischen Schaden beim Kind. In der Haftanstalt wird das Kind in eine Zelle gesteckt oder gleich zum Verhör gebracht. Während des Verhörs dieselbe Behandlung: schlagen und stoßen. Dann wird auch es auch beschimpft und bedroht, dass seine Familie verletzt wird, seine Mutter vergewaltigt.

In den meisten Fällen bekennen die Kinder nach zwei bis drei Stunden Verhör. Der Verhörende wird dem Kind ein Stück Papier mit einem hebräischen Text geben, den es nicht versteht. Dann wird das "Eingeständnis" unterschreiben. Im Militärgericht werden fast 95% der Kinder für schuldig erklärt, ob sie das "Verbrechen" begangen haben oder nicht. Der ganze Prozess geschieht gegen das internationale Recht und die Konventionen für die Rechte der Kinder. Im letzten Jahr wurde eine militärische Order von Israel veröffentlicht, um ein Rechtssystem für Jugendliche in den Militärgerichten einzurichten. Seit Oktober soll es in Kraft sein. Es war eine Reaktion auf Anklagen der Illegalität durch alle palästinensischen Anwälte. Aber meine Anwälte werden ihnen sagen, dass sich nichts verändert hat. Kinder werden weiter mit Erwachsenen transportiert und sie werden weiter vor Militärgerichte für Erwachsene gebracht. Es gibt kein Rechtsystem für Jugendliche vor (israelischen) Militärgerichten,

AN: Wie viele Kinder sind auf Grund der Gewalt der israelischen Besatzung getötet worden?

RK: Seit Beginn der 2. palästinensischen Intifada (Sept. 2000) wurden bis jetzt etwa 1000 Kinder getötet, die 348 im Gazakrieg (2008/2009) getöteten Kinder nicht mitgerechnet. Wir haben dokumentiert, wie diese Kinder getötet wurden. Entweder durch gezieltes Töten in den Kopf oder in lebenswichtige Organe oder sie werden getötet, weil sie neben jemandem stehen, den Israel zu ermorden versucht, oder ein Gebäude bombardiert oder ein Haus zerstören will. Wir sollten auch die Tatsache nicht vergessen, dass Kinder getötet werden, weil sie keinen schnellen Zugang zu Krankenhäusern haben. Da gibt es Zahlen, aber ich hasse Zahlen, als ob es sich nur um Zahlen handeln würde - Kinder sind menschliche Wesen.

Nun, mit der Blockade des Gazastreifens ist es für Menschenrechtsorganisationen schwierig, die Todesursachen der Kinder zu dokumentieren. Z.B. dokumentieren wir ein Kind nicht, wenn es anämisch ist oder nicht genügend zu essen hat und deshalb stirbt. Es sind so viele Kinder auf viele verschiedene Weisen durch Israelis umgebracht worden. Z. B. durch die Gewalt der Siedler. 2008 wurden mehr als 20 Kinder nur durch Brutalität der Siedler verletzt und einige sogar getötet. Wir schrieben darüber im November 2008 einen Bericht: "Siedlergewalt gegen palästinensische Kinder in den besetzten Gebieten".

AN: Können Sie etwas über Israels zunehmende Kritik an ausländischen Spendern und Regierungen sagen, die die Menschenrechtsorganisationen unterstützen?

RK: Israel ist ein Land, das sich auf seine militärische Macht verlässt , auf die loyale blinde Unterstützung der USA und der EU und seine PR-Maschine. Israels Image als "der einzigen Demokratie im Nahen Osten" ist seine Rechtfertigung für seine Existenz. Wenn palästinensische Organisationen über Menschenrechtsverletzungen schreiben, weist dies Israel ab und verknüpft dies mit politischen Fraktionen. Wenn es internationale Organisationen oder Internationale sind, die in lokalen Organisationen mitarbeiten, wird es für Israel schwieriger, die Kritik abzuweisen.

Wenn Israel seine Macht auf der Westbank oder im Gazastreifen zeigen will, stellen sie eine Medieneinheit in der Armee zusammen, um die Geschichte zu erzählen - ausländischen Medien verbietet man den Zutritt, um zu berichten. Die internationalen Organisationen und die Internationalen in unsern Organisationen haben uns geholfen, sich mit dem Goldstone-Bericht näher zu befassen. Wir "besiegten" die palästinensische Behörde, die den Bericht auch abweisen wollte, und wir belästigten Israel weiter mit dem Bericht. Die internationale Präsens hat damit zu tun. Israel will sie nicht hier haben. Es macht sein Leben leichter, wenn die Internationalen nicht hier sind. Israel will die Internationalen auch aus Jerusalem weg haben. Sie wollen nicht über Jerusalem verhandeln. Ich klage nicht Israel an. Ich klage die EU an, die dem israelischen Druck nachgibt und ihre eigenen Werte verrät. Ich hoffe dass die internationalen Spender und Regierungen nicht dem Druck nachgeben. Ich hoffe, sie stehen für ihre Überzeugung und bleiben bei der Unterstützung der Menschenrechtsorganisationen.



Übersetzung aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs

Englischer Originaltext:
Defending Palestinian children: An interview with Rifat Kassis
Adri Nieuwhof, The Electronic Intifada, 15 February 2010
http://electronicintifada.net/v2/article11076.shtml
© Adri Nieuwhof


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Quelle:
The Electronic Intifada, 15.02.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2010