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NAHOST/655: Palästina - "Unsere Zivilgesellschaft hat noch Widerstandskraft" (medico international)


medico international - rundschreiben 02/10

"Unsere Zivilgesellschaft hat noch Widerstandskraft"

Interview mit Majeda Al-Saqqa, Sprecherin der Culture & Free Thought Association, dem medico-Partner in Gaza, über die Auswirkungen der israelischen Blockade auf das soziale und politische Leben.

Die Fragen stellte Tsafir Cohen


Frage: Über drei Jahre nach ihrem Beginn, wird von einer Aufweichung der Blockade gesprochen. Grund zur Freude?

Anwort: Das würde unsere Abhängigkeit von den Waren verringern, die durch die Tunnel aus Ägypten geschmuggelt werden. Da es sich um Schmuggelware handelt, haben Geräte keine Garantien, Medikamente und Lebensmittel falsche Verfallsdaten, und insgesamt ist alles von miserabler Qualität. Die Blockade betrifft alle Lebensbereiche. Unsere Fahrzeuge müssen häufiger für viel Geld in die Reparatur, weil das schlechte Benzin den Motor beschädigt. Die Malstifte, die wir für Kurse nutzen, trocknen nach einmaligem Gebrauch einfach aus. Gerade schreiben alle Schüler ihre Endexamen, doch weil auch die Energiezufuhr nicht reibungslos funktioniert, fällt der Strom etwa acht Stunden am Tag aus, meist abends. Eine bessere und kontrollierte Zufuhr von Hilfsgütern wird aber die Arbeitslosigkeit, die bei über 40% liegt, nicht senken helfen. Auch wird sie die Abhängigkeit von Außenhilfe nicht verringern, die bei 80% liegt. Beides verursacht eine Krise der Würde.

Frage: Wie wirkt diese Krise der Würde aus?

Anwort: Die physische Aussperrung zieht eine mentale Blockade nach sich. Ohne Arbeit sind die Tage eine ständige Wiederholung, die Menschen ziehen sich immer mehr ins Private zurück. Währenddessen wird die öffentliche Sphäre von religiösen Angeboten, etwa der islamischen Universitäten, besetzt. Alternativen dagegen sind immer schwieriger. Früher organisierten wir in unseren Zentren rege, kontroverse politische Diskussionen. Heute undenkbar. Gegenwärtig müssen wir aufpassen, wen wir einladen und welche Themen wir aussuchen, denn es werden Exempel statuiert. Neulich wurde eine befreundete Nichtregierungsorganisation geschlossen. Wahrscheinlich weil sie gemischtgeschlechtliche Angebote hatten. Vielleicht aber auch weil sie mit den islamischen Organisationen konkurrierten. Früher wären Leute auf die Straße gegangen. Heute geht es nicht mehr. Der Protest verlegte sich aber aufs Internet. 12.000 Menschen haben sich diesem Protest angeschlossen, und die Organisation durfte wieder aufmachen. Die Gazaer Zivilgesellschaft hat noch Widerstandskraft. Doch es ist ein Kampf gegen die Zeit. Denn einmal angestoßen, können solche Entwicklungen nur schwer rückgängig gemacht werden. Wenn die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nicht aufgehoben werden, werden wir zu einer geschlossenen, konservativen Gesellschaft mit immer mehr reaktionären Elementen.

Frage: Sind Frauen besonders hiervon betroffen?

Anwort: Eindeutig. Während junge Männer ihre Zeit wenigstens in Cafes verbringen können, dürfen Mädchen kaum dorthin. Gehen sie dahin, etwa mit der Familie, so ist es ihnen mittlerweile in der Öffentlichkeit untersagt, Wasserpfeife zu rauchen. Auch ein Strandbesuch ist mittlerweile nur in familiärer Begleitung üblich. Der Aktionsradius - und damit die Lebenswelt - von Frauen beschränkt sich immer mehr auf das eigene Haus und die (Groß)Familie. Bei sozioökonomisch schwachen Haushalten dürfen Frauen das Haus unbegleitet nur mit gutem Grund verlassen. Etwa wenn medizinische Gründe vorliegen. Etwa für einen Besuch eines unserer Frauengesundheitsprogramme. Hier setzen wir an: Einmal in unserem Zentrum angekommen, nehmen sie an einem Gesundheitscheck oder einem Kurs zu Brustkrebsfrüherkennung teil. Gleichzeitig können sie unsere anderen Angebote wahrnehmen. Sie können einen Vortrag hören, an einem Malkurs teilnehmen, Sport treiben oder einfach mit anderen Frauen im Hamam ausspannen. Für viele Frauen ist unser Zentrum die einzige verbliebene Möglichkeit die eigenen Horizonte zu erweitern.


Projektstichwort:
Die Frauenorganisation "The Culture and Free Thought Association" (CFTA) betreibt im südlichen Gazastreifen sechs Zentren für Frauen, Kinder und Jugendliche. Das Frauengesundheitszentrum befindet sich in Flüchtlingslager Al Bureij, etwa fünf Kilometer südlich von Gaza-Stadt, in dem ca. 30.000 Menschen leben. Das Lager ist gilt als besonders gewalttätiger Ort für Frauen mit einer hohen Rate an schwerer häuslicher Gewalt. medico unterstützt die aktuelle CTA-Kampagne zur Brustkrebsfrüherkennung.
Unser Spendenstichwort für Gaza lautet: "Palästina".
Spendenkonto: 1800, Frankfurter Sparkasse, BLZ 500 502 01.


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Quelle:
medico international - rundschreiben 02/10, Seite 8-9
Herausgeber: medico international
Burgstraße 106, 60389 Frankfurt am Main
Tel.: 069/944 38-0, Fax: 069/43 60 02
E-Mail: info@medico.de
Internet: www.medico.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2010