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NAHOST/660: Türkei - Feuer in Kurdengebieten, Hilfe bleibt aus (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Juli 2010

Türkei: Feuer in Kurdengebieten - Hilfe bleibt aus

Von Jake Hess


Sirnak, Türkei, 16. Juli (IPS) - Die Forstbehörde der Türkei hat den Kampf gegen Waldbrände zur höchsten Priorität erklärt. Dafür wendet sie nach eigenen Angaben mindestens die Hälfte ihres Etats auf. Bei den Feuern jedoch, die das Militär in den Kurdengebieten entfacht, ist niemand zur Stelle.

Diesen Vorwurf erheben die Bewohner der Dörfer Ikizce and Toptepe in der südöstlichen Provinz Sinak nahe der Grenze zum Irak. "Das Feuer brach aus, nachdem Soldaten von der Militärbasis nahe Ikizce wahllos Raketen auf die Wälder der Cudi-Berge abgefeuert hatten", so der Hirte Cem Guney. Da sie nur am ersten Tag bei den Löscharbeiten geholfen hätten, greife das Feuer weiter um sich, berichtete Baver Senlik, einer der Dorfältesten.


Alljährliches Ritual

Der türkischen Armee zufolge, deren Arsenale auch mit Waffen aus den USA und Europa bestückt sind, brachen die Brände nach Zusammenstößen mit kurdischen PKK-Rebellen aus. Doch nach Angaben der Dorfbewohner finden in der Region keine Kämpfe statt. Wie sie berichten, kommt es seit acht Jahren mit Ausnahme 2009 immer zur gleichen Zeit und unter ähnlichen Umständen zu solchen Bränden. Die Feuer hätten eindeutig einen politischen Hintergrund.

Die Menschen in Ikizce und Toptepe befürchten nun, dass sie ihre Dörfer - wie schon auf dem Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Armee und der PKK in den 1990er Jahren - verlassen müssen. Die Waldbrände haben ihre ohnehin schon schwierigen Lebensbedingungen weiter verschlechtert.

Die Dörfer in der Provinz Sirnak hängen mehrheitlich von der Viehzucht ab. Ikizce und Toptepe sind da keine Ausnahme. Doch die meisten Weiden sind nach den jüngsten Bränden nicht mehr nutzbar. "Nichts ist übrig geblieben, kein Baum, kein Strauch", so der Schäfer Sivan Aslan aus Toptepe. "Alles ist verbrannt und wir sind gezwungen, Futter für unsere Tiere zu kaufen." Auch die Obstbäume seien verkohlt. Er schätzt den Schaden für jeden Haushalt auf 1.000 bis 1.500 Euro. Das ist viel Geld in einer Region, in der die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Die lokale Bevölkerung wirft der Armee zudem vor, den Zugang zu den höher gelegenen Weiden willkürlich zu regeln. So werden die Einwohner von Ikizce dazu genötigt, ihre Tiere jeden Tag noch vor Sonnenuntergang von den Weiden zu holen. Die Menschen in Toptepe hingegen dürfen ihre Tiere über Nacht dort belassen, obwohl die Entfernung zu den Weiden erheblich geringer ist.


Schikane

"Obwohl es seit einigen Jahren zu keinen Zusammenstößen mehr gekommen ist, wird uns der Zugang zu unserem Weideland versperrt", kritisiert Senlik. "Selbst Ende der 1980er Jahre, als die Kämpfe am schlimmsten waren, konnten unsere Tiere in Ruhe grasen."

Die jährlichen Feuersbrünste und eingeschränkten Möglichkeiten, das Vieh zu weiden, haben die Viehwirtschaft in Ikizce an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Senlik zufolge sind von den einst 15.000 Tieren des Dorfes nur noch 1.000 übrig geblieben.

"Wir haben aber keine anderen Einkommensmöglichkeiten. Wenn wir unser Vieh nicht ernähren können, sind auch wir vom Hunger bedroht und können unsere Kinder nicht länger zur Schule schicken", sagt Senlik erbittert. "Wir überlegen uns, ob wir nicht wegziehen sollen. Wenn man alles genau betrachtet, sieht es aus, als will man uns loswerden."

Am dritten Juli, einen Tag nach dem Ausbruch der Brände, hatte die Bezirksregierung von Sirnak ein Expertenteam in die Region entsandt, das die Ursachen für das Feuer identifizieren und die Flammen löschen sollte. Berichten zufolge zündeten Soldaten nur 200 Meter von der Delegation entfernt weitere Raketen, die das Feuer auf die bis dahin verschonten Gebiete ausbreiteten.


Artilleriegeschütze

"Wenn es im Westen der Türkei brennt, unternimmt die Regierung alles Menschenmögliche und schickt sogar Hubschrauber, um die Feuer zu löschen", sagt der Bürgermeister von Sirnak, Ramazan Uysall, der die Delegation begleitet hatte. "Wenn wir versuchen, dass Feuer zu löschen, richten sie die Artillerie gegen uns."

Vertreter von Ikizce und Toptepe haben bisher vergeblich etlichen staatlichen Stellen einschließlich des Militärs, der Provinzregierung und der Ministerien für Agrar- und Forstwirtschaft ihr Leid geklagt. Dennoch unternahm die Regierung nichts, um die Feuer unter Kontrolle zu bringen. Jetzt sind sie es so groß, dass sie nur noch mit Hilfe von Hubschraubern aus der Luft eingedämmt werden können. "Auch die Forstbehörde hat ein paar Leute geschickt, die sich erst umsahen und dann nichts unternahmen", berichtet Guney. "Diese Untätigkeit zeigt, dass wir (Kurden) in diesem Land als Bürger zweiter Klasse betrachtet werden."

Zwei Wochen vor dem Ausbruch des Feuers in den Cudi-Bergen hatte sich Taybet Inan zu ihrem Weizenfeld nahe der Stadt Sirnak aufgemacht. "Kurz darauf flog ein Hubschrauber über mein Feld hinweg und schoss zwei Brandprojektile ab", berichtet sie. Man habe das Feuer zwar schnell löschen können, dennoch beliefen sich die Verluste auf 250 Euro.

Ähnliche Brände werden aus anderen Regionen in den Kurdengebieten berichtet. Menschenrechtler konnten in einer Untersuchung von Bränden in drei Dörfern nahe der Stadt Hankeyf nachweisen, dass das Feuer im Umkreis einer Militärbasis seinen Anfang nahm, ohne dass es dort etwa zu Kampfhandlungen gekommen wäre. Die Soldaten krümmten keinen Finger, um die Flammen zu löschen. (Ende/IPS/kb/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010