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NAHOST/667: Türkei will regionale Führungsmacht werden - Doch die Konkurrenz schläft nicht (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Juli 2010

Nahost: Türkei will regionale Führungsmacht werden - Doch die Konkurrenz schläft nicht

Von Jacques N. Couvas


Ankara, 27. Juli (IPS) - Seit Juni sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel deutlich angespannt. Ankara wartet auf eine formelle Entschuldigung von Premier Benjamin Netanjahu für den israelischen Angriff auf einen internationalen Schiffskonvoi, der die Seeblockade des Gazastreifens durchbrechen wollte. Das diplomatische Tauziehen macht deutlich, wie sehr die Staaten in der Region untereinander darum wetteifern, eine entscheidende Rolle im Nahost-Friedensprozess einzunehmen.

Neun türkische Friedensaktivisten an Bord der 'Mavi Marmara' wurden bei der Attacke getötet. Nachdem Netanjahu alle Forderungen nach Entschädigungen und internationalen Ermittlungen brüsk zurückgewiesen hatte, entzog Ankara der israelischen Luftwaffe die Überflugrechte, sagte alle gemeinsamen Manöver ab und zog seinen Botschafter aus Jerusalem ab. Dies bedeutete aber auch einen empfindlichen Rückschlag für die Pläne der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan , die Türkei nach dem Zusammenbruch des Irak 2003 zur neuen regionalen Führungsmacht aufsteigen zu lassen.

In zahlreichen Reden und in seinem Buch 'Strategische Tiefe' hat der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu wiederholt seine Vision von derTürkei als wichtigstem politischen Akteur im Nahen Osten, auf dem Balkan und in Zentralasien dargelegt. Der Politiker setzte sich dabei auch für störungsfreie Beziehungen zu allen Nachbarstaaten ein. Das derzeit gute Verhältnis zu den früheren 'Erbfeinden' Griechenland, Syrien und Iran geht maßgeblich auf sein Engagement zurück.


Nahost im Blickpunkt

Im Mittelpunkt der türkischen Diplomatie steht der Nahe Osten. Auf zwei Gebieten kann Ankara dort punkten: bei der Vermittlung zwischen Syrien und Israel im Friedensprozess und bei der Hilfe beim iranischen Atomabkommen mit Brasilien und der Türkei, das internationale Sanktionen gegen Teheran wegen seiner Urananreicherung verhindern sollte.

Die Vereinigten Staaten reagierten auf den Schulterschluss mit Teheran mit der deutlichen Aufforderung an Ankara, den Fall Iran der Internationalen Atomenergiebehörde und den fünf ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrats plus Deutschland zu überlassen.

Ende Juni forderte US-Präsident Obama im kanadischen Toronto Erdogan auf, die Beziehungen mit Israel wieder zu kitten. Es gab daraufhin zwar ein Treffen zwischen Davutoglu und einem Vertreter Israels in Brüssel. Beide Seiten näherten sich einander jedoch nicht an.

Die Pläne des türkischen Außenministers für eine Führungsrolle seines Landes in der muslimischen Welt sind damit ins Stocken geraten. Seit dem 1996 geschlossenen Militärabkommen zwischen Israel und der Türkei konnte Ankara zwischen Jerusalem und dessen Nachbarn und Feinden in der Region vermitteln. Die Türkei genoss das Vertrauen der Araber und der Perser und war gleichzeitig der einzige Verbündete Israels im Nahen Osten.

Die israelisch-türkischen Beziehungen nahmen jedoch bereits mit der 'Operation Gegossenes Blei' der israelischen Streitkräfte gegen die Hamas im Gazastreifen Ende Dezember 2008 deutlichen Schaden. Erdogan sah sich von Netanjahu nicht rechtzeitig informiert und beendete seine Vermittlung im Friedensprozess.


Affront auf großer Bühne

Beim Weltwirtschaftsforum 2009 in Davos kam es zum öffentlichen Eklat, als Erdogan während einer Diskussion mit Israels Präsident Shimon Peres demonstrativ die Bühne verließ. Seit dem Bruch mit Jerusalem scheint Ankara für Iran und Syrien als diplomatischer Partner deutlich an Wert verloren zu haben, da das Land weder Einfluss auf Netanjahu noch auf Obama hat.

Nach Ansicht politischer Beobachter in der Region sind die arabischen Regierungen außerdem zunehmend darüber verstimmt, dass die Türkei aufgrund ihres Konfrontationskurses bei der Bevölkerung dieser Staaten hohe Popularität genießt. Denn vor allem die Staatschefs in Ägypten und Saudi Arabien wollen lieber selbst als Verteidiger der palästinensischen Sache auftreten.

Anfang Juli deutete Syriens Präsident Bashar Al Assad bei einer Pressekonferenz neue Verhandlungen mit Israel an, allerdings ohne eine wichtige Rolle für Ankara vorzusehen. Beobachter gehen davon aus, dass Damaskus einen westlichen Vermittler suchen will - möglicherweise in Frankreich.

Staatspräsident Sarkozy hat bereits angedeutet, einen früheren französischen Botschafter in Syrien mit der Aufgabe zu betrauen. Das scheint auch im Sinne Netanjahus zu sein, der in der vergangenen Woche seinen Generalstabschef mit Frankreich und Italien über Möglichkeiten militärischer Zusammenarbeit beraten ließ. Bis Mai war hingegen noch die Türkei der bevorzugte Gesprächspartner Israels auf diesem Gebiet gewesen.

Assad änderte nun allerdings erneut seine Position. Syrien könne der Türkei als Vermittler vertrauen, sagte er kürzlich. Sofort machte sich Außenminister Davutoglu zu einem Blitzbesuch bei dem führenden Hamas-Mitglied Khaled Meshal auf, um eine Annäherung zwischen der Organisation und der palästinensischen Selbstverwaltungsbehörde herbeizuführen.

Und auch der libysche Machthaber Muammar al Gaddafi will mitreden. Einer seiner Söhne hatte sich mit einem Schiff an der versuchten Blockadebrechung im Mai beteiligt. Kommentatoren sehen darin den Beginn einer Reihe von Initiativen Gaddafis, Israel zu Zugeständnissen an die Hamas zu zwingen und sich gleichzeitig als Vorkämpfer der palästinensischen Sache zu profilieren.

Der palästinensische Präsident Abbas zögert noch, direkte Gespräche mit Netanjahu aufzunehmen. In diesem Zusammenhang könnte die Türkei als Vermittler ein Comeback versuchen. Allerdings muss sie dafür rhetorisch zurückrudern, sonst kann Ankara nicht darauf zählen, dass Netanjahu mitspielt. (Ende/IPS/sv/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010