Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/763: Ägypten - Die Revolution ist nicht mundtot zu machen - Alte Informationswege nutzen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Februar 2011

Ägypten: Die Revolution ist nicht mundtot zu machen - Alte Informationswege nutzen

Von Aprille Muscara


Washington, 2. Februar (IPS) - Ägyptens anhaltende Protestbewegung lässt sich trotz Ausgangssperre, erdrückender Militärpräsenz auf den Straßen und der von Staatspräsident Hosni Mubarak vor Tagen verfügten Internetsperre nicht mundtot machen. Höchst erfolgreich verbreiteten Aktivisten die Ankündigung vom 'Marsch der Millionen' per Telefon oder, wie etwa in den Wohnvierteln der Metropolen Kairo, Alexandria und Suez, auch per 'stiller Post' von Haus zu Haus. Zudem sorgt die internationale Netz-Gemeinde solidarisch und in Echtzeit dafür, dass die Welt über die Vorgänge in Ägypten informiert wird.

"Wir erleben, wie in diesem Land ein Regime alles aufbietet, um das Volk zum Schweigen zu bringen und kein Wort nach außen dringen zu lassen", stellte Amira al Hussaini in einem von Bahrain aus geführten Telefoninterview mit IPS fest. Die junge Journalistin arbeitet für das internationale Blogger-Netzwerk 'Global Voices' und ist Regionalchefin für Nordafrika und Nahost.

Ende Januar hatten Ägyptens Netzprovider mit einer Ausnahme den Dienst eingestellt. Lediglich der für die Börse arbeitende Provider 'Noor' soll Berichten zufolge noch Zugang zu den Banken und zur Finanzwelt haben. Für private Nutzer wurde der Zugang zu Noor jedoch einen Tag vor dem so genannten Marsch der Millionen vom 1. Februar gesperrt.

Als sich die Nachricht vom Abbruch des Internetzugangs in Ägypten und vom Ausbleiben der von Bloggern und Twitterern stammenden Meldungen verbreitete, war es für die internationale Netz-Community Ehrensache einzuspringen und die Welt über die Ereignisse in Ägypten ins Bild zu setzen.

In Ägypten selbst besann man sich auf traditionelle Informationsmethoden und Organisationswege. Web-Aktivisten des internationalen Cyber-Netzes 'Anonymous' stellten eine Liste mit 20 Möglichkeiten zusammen, wie man der Enttarnung im Internet entgeht, etwa über Amateurfunk. "Ägyptens Bloggerwelt ist stark und einfallsreich", berichtete Hussaini IPS. "Um an Informationen zu gelangen oder diese weiterzugeben, nutzt sie Umwege und reaktivierte wegen des Blackouts uralte Technologien."

Für Ägypter ohne Internet-Zugang sammelten Sympathisanten der Protestbewegung, Web-Unternehmen wie Einzelpersonen, weltweit alles, was sie an Informationen über die Vorgänge in Ägypten erhalten, und verbreiteten das Material in Form von Bulletins im ganzen Land.

Die Nachrichtenagentur 'Telecomix' will bei ihr eingehende Faxe weiter versenden, Google verbreitet Voicemails als Twitter an bestimmte internationale Telefonnummern von @Speak2Tweet. Das weltweite Aktivistennetzwerk 'We Rebuild' will über Morse-Codes empfangene Berichte weitergeben, und im Inland verbreiten einzelne, noch aktive Twitter-Nutzer eingehende Telefongespräche und Nachrichten.


Authentische Dokumentation

"Ich persönlich glaube, dass diese Dokumentation der Ereignisse aus der Sicht des ägyptischen Durchschnittsbürgers weit interessanter ist als die typischen Nachrichtensendungen", erklärte ein auf Anonymität bestehender ägyptischer Twitter-Nutzer. "Unsere Briefkästen haben sich in den vergangenen Tagen mit Meldungen gefüllt, die Angst, Hoffnung oder Stolz spüren lassen", fügte er hinzu.

Die Internet-Journalistin Hussaini betonte: "Auch 'bodenständige' Reporter werden belästigt, eingesperrt und verprügelt. Sie müssen ebenfalls versuchen, trotz der Internetsperre weiter zu arbeiten." Die IPS-Journalisten Cam McGrawth und Emad Mekay etwa, die sich derzeit in Kairo aufhalten, übermitteln ihre Berichte mündlich über eine Telefonleitung an einen Londoner Kollegen, der sie dann veröffentlicht.

"Wir sind wieder auf Basisarbeit angewiesen, auf Videos, Fotos, Zeugenaussagen und Twitter-Nachrichten und können unsere Berichte auf Menschen stützen, die trotz des nächtlichen Ausgangsverbots alles riskieren, um ihre Geschichte los zu werden", betonte Hussaini.

Beim Nachrichtensender 'Al Jazeera', der weit umfassender als die Konkurrenz über die angespannte Lage in Ägypten berichtet hatte, wurden sechs Journalisten des englischsprachigen Dienstes verhaftet. Zudem erhielt der Sender den Befehl, seine Aktivitäten in Ägypten einstellen. Doch einige konkurrierende Kabel-Sender wie 'Al Hewar', 'Al Kamara' und 'Aden' zeigten sich solidarisch und strahlen seit dem 1. Februar das arabische Al-Jazeera-Programm auf ihren eigenen Frequenzen aus.

Die Ägypter haben sich trotz Mubaraks Kommunikations- und Mediensperre nicht einschüchtern lassen. Sie waren rechtzeitig über die Demonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz und in anderen Metropolen vom 1. Februar informiert, und wo Transportmöglichkeiten fehlten, machten sich Hunderttausende zu Fuß auf den Weg zur nächsten Großveranstaltung.


"Neue Medien sind nicht die Speerspitze der Protestbewegung"

"Wir müssen mit dem Mythos Schluss machen, dass die neuen Medien diese ganze Protestbewegung in Gang gesetzt haben", erklärte Hussaini. "Nicht sie haben auf einen Schlag die Stimmung in einem Land verändert, in dem Proteste bislang verboten waren. Hier geht es um schwerwiegende wirtschaftliche und politische Anliegen."

Auch wenn in Ägypten die ersten landesweiten Demonstrationen vom 25. Januar mit Hilfe von sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter organisiert wurden, erinneren sich die Menschen seit der Blockade des Internets an die guten alten Kommunikationswege. Übers Telefon meldete Shereef Abbaf, ein Mitglied der selbsternannten Straßenkontrollstelle 'Neighbourhood Watch' in Kairo, in seinem Viertel habe die mündliche Information gut funktioniert.

Abbaf berichtete: "Wenn wir aus der Nachbarschaft erfuhren, man habe in der Gegend verdächtige, mit Schlägern und Provokateuren besetzte Lastwagen entdeckt, die darauf aus seien, Chaos zu verbreiten und die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, stoppten wir jedes vorbeikommende Fahrzeug. Um zu sehen, mit wem wir es zu tun hatten, überprüften wir die Papiere der Insassen. Wir hatten uns mit Messern, Knüppeln und Molotow-Cocktails bewaffnet und waren auf alles vorbereitet."

Bislang hätten sich die Fahrer sehr kooperativ verhalten, betonte er. "Wenn sie bei uns eintrafen, wussten sie Bescheid, denn sie hatten zuvor schon etliche Straßensperren passiert." (Ende/IPS/mp/2011)


Links:
http://globalvoicesonline.org/
http://www.telecomix.org/
http://english.aljazeera.net/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=54316

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. Februar 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2011