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NAHOST/814: Die ägyptische Revolution - Neue Wege für die Muslimbrüder (inamo)


inamo spezial - Sonderheft - Frühjahr 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Die ägyptische Revolution: Neue Wege für die Muslimbrüder

Von Lutz Rogler


Die ägyptische Revolution war keine islamische Revolution, geschweige denn eine Revolution der Muslimbrüder. Gleichwohl waren letztere in dieser Revolution omnipräsent, und die Folgen der Revolution erscheinen für die Bruderschaft aus historischer Sicht bereits jetzt als revolutionär: Nach Jahrzehnten staatlicher Repression kann sie nunmehr Perspektiven ins Auge fassen, die ihr seit nahezu 60 Jahren verwehrt blieben.


Die Geschichte dessen, was sich zwischen der ersten großen Demonstration auf dem Tahrir-Platz am 25. Januar 2011 und dem Rücktritt von Präsident Husni Mubarak am 11. Februar in Ägypten ereignet hat, ist noch nicht geschrieben - trotz aller medialen Begleitung. Das betrifft auch Beteiligung und Rolle der ägyptischen Muslimbrüder an der "Revolution des 25. Januar". Omnipräsent als "Schreckgespenst" in den ägyptischen Staatsmedien und in weiten Teilen "westlicher" Medien gibt es über die reale Präsenz der Muslimbruderschaft und ihre konkrete Rolle an den Orten der Revolution bisher nur Eindrücke, Erzählungen, Interpretationen und Mutmaßungen. Der Kampf um das kollektive Gedächtnis an die Geschehnisse hat bereits wenige Tage nach dem Abgang Mubaraks begonnen und ist Teil der postrevolutionären Auseinandersetzungen um die künftigen politisch-ideologischen Kräfteverhältnisse geworden.

Als sicher gelten kann, dass die Muslimbrüder nicht die unmittelbaren Initiatoren der Ereignisse am 25. Januar waren. Ebenso sicher kann gelten, dass die Bruderschaft trotz direkter und unverhohlener Androhung von staatlicher Repression von Beginn an mit vielen jüngeren Mitgliedern an den Demonstrationen und deren Organisation teilgenommen hat. Schon am 26.1. rief die Führung zur Fortsetzung der friedlichen Proteste auf; am 27.1. schließlich zur Teilnahme am "Freitag des Zorns" (28.1.) Nahezu von Beginn gehörten die Muslimbrüder auch zu den Opfern der staatlichen Repression; allein am 28. Januar wurden sieben Mitglieder ihres Führungsbüros verhaftet. Seitdem war die Bewegung umfassend und im ganzen Land an den Protesten beteiligt, und mehr als für jede andere politische Kraft ging es für sie damit geradezu um "alles oder nichts": Hätte das Regime den Aufstand niederschlagen können, hätten die Muslimbrüder mit einer ihre Existenz als Organisation gefährdenden Repression rechnen müssen.

Der Druck, der auf der Führung der Muslimbruderschaft lastete, war enorm: Einerseits brauchte es für den Erfolg der Massenproteste das volle Engagement der Bewegung; andererseits hätte eine allzu sichtbare Präsenz der Organisation der Propaganda des Regimes in die Hände gespielt, Teile der säkularen Opposition verschreckt und die hysterischen Endzeiterwartungen im westlichen Ausland über eine "islamischen Revolution" in Ägypten verstärkt. Die Entscheidungen, die von der Führung in dieser Lage getroffen wurden, erwiesen sich für den weiteren Verlauf der Revolution - und für den Erhalt der Organisation im Nachhinein als die richtigen; zugleich erschweren sie im Rückblick eine klare Einschätzung zum realen Gewicht der Muslimbrüder bei den Ereignissen und geben zudem politischen Gegnern Raum für allerlei Unterstellungen. Während die Muslimbrüder aktiv teilnahmen, organisierten, mobilisierten, verzichteten sie bewusst auf jegliche eigene Losungen, Symbole, Aktionen. Sie traten als Ägypter unter anderen auf, stellten ihre ideologische und religiöse Identität nahezu völlig zurück und beteiligten sich an den partei-, ideologie- und konfessionsüberschreitenden Koalitionen der Revolutionäre vor Ort. Wenn überhaupt von einer bestimmenden Rolle der Muslimbrüder im Verlauf der Protestbewegung gesprochen werden kann, dann trifft dies allenfalls für die Organisation der Aktionen in den zahlreichen Provinzstädten zu und - was unter Umständen entscheidend war - für die Abwehr des gewalttätigen Gegenschlags, den das Regime am 2.2. durch Parteimilizen, Staatssicherheitseinheiten und angeheuerte Schlägertrupps auf dem Tahrir-Platz in Kairo versuchte.

Noch vor dem Abgang von Mubarak konnte die Bruderschaft als Teil der Oppositionsbewegung einen symbolischen Erfolg verzeichnen, der drei Jahrzehnte offizieller Ablehnung beendete: Am "Dialog", zu dem sich der ephemere Vizepräsident Umar Sulaiman am 6.2. mit Vertretern der Regimegegner gezwungen sah, nahmen auch zwei Mitglieder des Führungsbüros der Muslimbrüder teil. Sowohl auf dem Tahrir-Platz als auch in der ägyptischen Provinz gehörten die Muslimbrüder schließlich zu jenen, die an der Forderung nach dem "Sturz des Regimes" festhielten und mit ihren Demonstrationen schließlich den Rücktritt von Mubarak erzwangen. Täglich gab ihre Führung entsprechende Erklärungen ab, und prominente Führungsfiguren gehörten den diversen Gremien der Opposition an, die die Forderungen und Vorschläge der Bewegung formulierten.

Auch nach dem Rücktritt Mubaraks blieb die Muslimbruderschaft mit ihren Forderungen im Konsens mit anderen Akteuren der Opposition, die insbesondere auf einer vollständigen Auswechslung des politischen Personals in der Regierung, der Aufhebung des Ausnahmezustandes, der Freilassung der politischen Gefangenen und der Auflösung der Staatssicherheit beharrten. Obwohl sie damit weiterhin am Prinzip der Partizipation festhielt und keine dominante Rolle unter den Regimegegnern geltend machte, kam es bereits kurze Zeit nach dem (ersten) Erfolg der Revolution zu den ersten medialen Debatten über Gewicht und Politik der Muslimbrüder in der aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Umgestaltung. Die ihnen nun nicht mehr abzusprechende Legitimität als wesentlicher politischer Akteur zeigte sich nicht zuletzt auch in den staatlichen Medien, die sich rasch der neuen Lage im Land anzupassen versuchten: Am 19. Februar war mit Muhammad Sa'd al-Katatni, ehemaliger Chef der Parlamentsfraktion, erstmals seit der Existenz des Staatsfernsehens überhaupt ein Führungsmitglied der Bruderschaft Gast einer offiziellen Sendung.

Nicht nur al-Katatni, sondern auch die anderen Sprecher betonten seither unablässig, was bereits in den Erklärungen der Führung der Bruderschaft während und nach den revolutionären Ereignissen zu lesen war und die deutlich zurückhaltende Position der Muslimbrüder in den Vordergrund stellt: Sie beabsichtigten nicht, bei den kommenden Präsidentschaftswahlen einen eigenen Kandidaten aufzustellen, und sie würden sich bei den nächsten Parlamentswahlen auch so verhalten, dass sie nicht über eine Mehrheit der Sitze verfügen würden. Die Unterstellung oder Befürchtung, sie würden an die Macht gelangen wollen, sei also unbegründet. Mit dieser Haltung wolle man nicht zuletzt politischen Gegnern im Inland oder ausländischen Mächten die Möglichkeit nehmen, die Erfolge der Revolution dadurch zu schmälern, dass sie weiterhin die Bruderschaft als "Schreckgespenst" benutzten.

Gleichwohl verschärften sich die politischen und medialen Angriffe auf die Bruderschaft schon eine Woche nach der Machtübernahme durch den Obersten Militärrat merklich. Den ersten Anlass hierzu gab der "Freitag des Sieges" am 18.2. auf dem Tahrir-Platz, wo sich nicht nur deutlich mehr Menschen als in den Wochen zuvor versammelten (mindestens zwei Millionen), sondern wo auch Shaikh Yusuf al-Qaradawi die Freitagspredigt hielt. Al-Qaradawi hatte im Verlaufe der Protestbewegung eine wesentliche Rolle gespielt, als er vor allem über den Satellitensender al-Jazeera mehrfach zur Fortsetzung der Demonstrationen aufrief und zugleich deren religiöse Delegitimierung durch salafistische Religionsgelehrte in Ägypten und Saudi-Arabien mit religiösen Argumenten zurückwies. Obwohl er von den Organisatoren der Demonstration eingeladen worden war und sich in seiner Predigt ausdrücklich an alle Ägypter, Muslime und Kopten, wandte, wurde al-Qaradawi's frühere Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft sowie die unverkennbar zahlreiche Präsenz von Muslimbrüdern (allerdings auch dieses Mal ohne eigene religiöse Losungen) auf dem Platz im weiteren zum Hintergrund für eine Medienkampagne, deren Leitmotiv die Unterstellung war, die Muslimbrüder würden nunmehr versuchen sich der Revolution zu bemächtigen oder gar deren Ergebnisse zu "stehlen".

Der zweite Anlass ergab sich kurz darauf, als sich mit der Zulassung der "Neuen al-Wasat-Partei" (al-wasat: die Mitte) am 19. Februar abzeichnete, dass es in der neu entstehenden politischen Landschaft "islamische" Parteien geben würde. Die al-Wasat-Partei, ursprünglich von ausgetretenen jüngeren Muslimbrüdern gegründet, hatte seit 1996 vier Mal vergeblich ihre Zulassung beantragt. Nachdem nun ein Verwaltungsgericht die letzte Entscheidung der zuständigen Parteienkommission aufhob und damit per Gerichtsbeschluss die erste neue Partei nach der Revolution legalisiert wurde, verkündeten auch andere Akteure des islamistischen Spektrums ihre Absicht, politische Parteien zu gründen, insbesondere al-Jama'a al-islamiyya. Die Führung der Muslimbruderschaft hatte ihrerseits am 14.2. erklärt, ihre schon vor Jahren getroffene Grundsatzentscheidung über die Gründung einer Partei werde erst dann in die Tat umgesetzt, wenn sich durch die Änderungen der Verfassung und die neu zu schaffende Gesetzeslage dafür die Möglichkeit biete. Während die Muslimbrüder also auch in dieser Hinsicht zunächst sehr zurückhaltend agierten, beschleunigte die überraschende Zulassung von al-Wasat offenbar die diesbezüglichen Überlegungen der Führung, zumal jüngeren, auf interne Reformen drängenden Muslimbrüdern eine Affinität und konkrete Kontakte zu al-Wasat nachgesagt werden. Am Nachmittag des 21.2. verkündete dann der Oberste Führer der Muslimbrüder, Muhammad Badi', das Führungsbüro habe die Gründung einer politischen Partei mit dem Namen "Freiheit und Gerechtigkeit" (Hizb al-hurriyya wa-l-'adala) beschlossen und Muhammad Sa'd al-Katatni mit der Wahrnehmung der notwendigen Schritte zu deren Bildung beauftragt.

Auch wenn in der derzeitigen Situation kaum jemand den Muslimbrüdern das grundsätzliche Recht abspricht, eine Partei zu gründen, so war deren Ankündigung indes der Hintergrund für eine anwachsende Zahl von Stimmen, die für eine Verlängerung der bislang für sechs Monate vorgesehenen Übergangszeit plädierten: Während diese Zeitspanne für die neuen politischen Kräfte zu kurz sei, um sich zu sammeln und Anhänger zu mobilisieren, wäre sie für die gut organisierten Muslimbrüder ein entscheidender Wahlvorteil. Solange die entsprechenden Gesetze nicht geändert und ein konkreter Termin für Parlamentswahlen zur Diskussion gestellt wird, bleibt allerdings auch die Partei der Muslimbrüder zunächst nur ein Projekt, für das derzeit ein bereits 2007 vorgestellter Programmentwurf überarbeitet wird. Diese Neufassung soll die Grundlage dafür schaffen, dass die zu gründende Partei "allen Ägyptern" offen steht und auch in den zu bildenden Führungsgremien Persönlichkeiten vertreten sind, die nicht Mitglieder der Bruderschaft sind. Sogar die Aufnahme von (koptischen) Christen wird offenbar angestrebt. Die Bildung einer Partei wirft zugleich das zukünftige Problem der konkreten Beziehung zwischen Partei und Bruderschaft auf; die Bruderschaft selbst muss sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrer rechtlichen Existenzform den neuen Umständen anpassen. Im Prinzip gehen die ägyptischen Muslimbrüder nach der Revolution einen Weg, den bereits die jordanischen Muslimbrüder mit der "Partei der Islamischen Aktionsfront" oder die marokkanische "Bewegung der Einheit und Erneuerung" mit der "Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung" seit Ende der neunziger Jahre praktizieren: Die Bewegung bleibt umfassende "missionarische" Gemeinschaft (jama'a), die einem "ganzheitlichen" Verständnis des Islams als religiösem Glaube, moralischem Verhaltenskodex und sozialer Ordnungsvorstellung Geltung verschaffen soll, während die formal autonom agierende politische Partei prinzipiell allen Bürgern offen steht, sich an Wahlen beteiligt und an politischen Gremien und Institutionen partizipiert.


Lutz Rogler, Islamwissenschaftler, inamo-Redaktion.


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Inhaltsverzeichnis - inamo spezial, Sonderheft Frühjahr 2011

GAME OVER
- "Ändert das System, es funktioniert nicht mehr ..." von Helga Baumgarten

Tunesien:
1999 Bourgibas Erbe - der unmögliche Machtwechsel, von Kamel Jendoubi
Auch Europa hält sich seine Despoten: Das tunesische Modell, von Sihem Bensedrin und Omar Mestiri
Die tunesische Revolution, von Werner Ruf
Umbruch in Tunesien - Die Menschen hier sind Helden, von Alfred Hackensberger
Laizismus und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, von Martina Sabra
Rachid al-Ghannouchi, von Lutz Rogler
Die Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens)

Ägypten
Ägyptische Wirtschaftsreform, Vers. 4.3. - Freuen Sie sich schon jetzt auf Updates! Von Ulrich G. Wurzel
Marionetten oder Marionettenspieler? Großunternehmer und Manager, von Stephan Roll
Ägypten, von unten gesehen, von Issam Fawzi
Al-Jama'a al-islamiyya - zwischen Isolation und Integration, von Lutz Rogler
Justiz und Politik - Die Illusion elitärer Demokratie, von Sherif Younis
Arbeiterprotest, Neoliberalismus und Kampf für Demokratie, von Joel Beinin
Mediale Strategie-Spiele - Ein ägyptisches Tagebuch, von Viola Shafik
Die Rolle der sozialen Bewegungen, von Ivesa Lübben
Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution, von Ingrid El Masry
Die Muslimbrüder, von Ivesa Lübben
Die ägyptische Revolution: Neue Wege für die Muslimbrüder, von Lutz Rogler
Ägyptens Militärbourgeoisie, von Matthias Kunde
Web 2.0 und der autoritäre Staat - Soziale Netzwerk Revolutionen, von Christian Wolff
Eine Villa im Dschungel, von Uri Avnery

Marokko
- Stabile Monarchie?, von Isabelle Werenfels
- Marokko 20. Februar 2011, von Jörg Tiedjen

Algerien
Einzigartig: Die algerische Krise, von Lahouari Addi
Abulqasim ash-Shabbi: An den Tyrannen (1927)
Netzwerke an der Macht: Staatsbankrott und Raubwirtschaft, von Omar Benderra
2006: Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung, von Algeria-Watch
Kein Volksaufstand in Algerien, von Abida Semouri

Jordanien
Proteste in Jordanien: Brotunruhen, arabische Solidarität, tribaler Islamismus, von André Bank
Jordanien's Regime hat dazugelernt, die Opposition nicht. Von Hisham Bustani

Syrien
- 1:0 fürs Regime. In Syrien fällt der Tag des Zorns vorerst aus, von Muriel Asseburg

Jemen
- Die Dynamiken der Proteste im Jemen und ihre Besonderheiten, von Jens Heibach

Libyen
- Was kommt nach Mu'ammar al-Qaddhafi? Von Alessandro Bruno und Arezki Daoud


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Quelle:
INAMO spezial, Jahrgang 17, Sonderheft Frühjahr 2011, Seite 60 - 61
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2011