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NAHOST/843: Gush Shalom klagt vor dem Obersten Gerichtshof gegen das Boykottgesetz (Gush Shalom)


Gush Shalom klagt vor dem Obersten Gerichtshof gegen das Boykottgesetz

Pressemitteilung und Aufruf von Gush Shalom, Juli 2011


Der Schattenblick erläutert:

Trotz umfangreicher Kritik, angefangen von israelischen Menschenrechtsorganisationen bis hin zur israelischen Rechten, verabschiedete die Knesset am Montag das sogenannte Boykottgesetz. Eingebracht worden war es von der regierenden Likud-Partei, Ministerpräsident Netanjahu und einige Mitglieder seiner Regierung blieben der Abstimmung allerdings fern. Diesem Gesetz zufolge müssen sowohl Israelis als auch in Ostjerusalem lebende Araber mit einer Schadenersatzklage unter anderem dann rechnen, wenn sie zum Boykott von Waren aufrufen, die in israelischen Siedlungen im Westjordanland produziert wurden. Wieweit dieses Gesetz die wohl beabsichtigte Abschreckung nach sich ziehen wird, läßt sich noch nicht absehen. Die unmittelbare Reaktion einiger israelischer Menschenrechtsorganisationen war die Inangriffnahme einer Klage vor dem Obersten Israelischen Gerichtshof. "Peace Now", eine Organisation, die bislang Boykottaufrufen gegen Waren aus den Siedlungen skeptisch gegenübergestanden hatte, nahm dieses Gesetz gar zum Anlaß, sich diesen als Zeichen des Protestes nun ganz offen anzuschließen.

Im folgenden dokumentiert der Schattenblick in Übersetzung aus dem Englischen beispielhaft zwei Erklärungen von Gush-Shalom, die sich wie andere Organisationen an den Obersten Gerichtshof gewandt hat. Es handelt sich zum einen um die Klagebegründung und zum anderen um eine erhellende Stellungnahme zu den Inhalten des verabschiedeten Gesetzes.

Redaktion Schattenblick, 14. Juli 2011

Raute

Gush Shalom - Pressemitteilung, 12. Juli 2011

Gush Shalom ruft den Obersten Gerichtshof an

Boykottgesetz ist verfassungswidrig und anti-demokratisch, blockiert Kritik an der Politik in den Besetzten Territorien


Gush Shalom, die in den 1990er Jahren als erste israelische Organisation einen Boykott von Siedlungsprodukten durchführte, stellte am heutigen Tag (Dienstag, 12.7.) einen Antrag vor dem Obersten Gericht gegen das gestern abend von der Knesset verabschiedete "Boykottgesetz". Die Klage wurde für Gush Shalom stellvertretend von den Anwälten Gaby Lasky und Neri Ramati eingereicht.

Die Klage stellt fest, daß das neue Gesetz grundlegende, demokratische Prinzipien verletzt:
"Die parlamentarische Mehrheit versucht sowohl durch das Boykottgesetz als auch über die weitere Gesetzgebung jegliche Kritik an der Regierungspolitik im allgemeinen und der Regierungspolitik in den Besetzten Gebieten im besonderen zum Schweigen zu bringen und den offenen und produktiven, politischen Dialog, der die Grundlage einer funktionierenden Demokratie bildet, zu verhindern" (Art. 7).

Der Antrag stellt zudem fest, daß die Praktik, "daß die Stimme der einen Seite von vornherein von der anderen Seite zum Schweigen gebracht wird, der Meinungsfreiheit erheblichen Schaden zufügt und ein deutliches Indiz für die Schwächung eines demokratischen Systems darstellt" (Art. 32).

Darüber hinaus macht man geltend: "Das Boykottgesetz ist verfassungswidrig und antidemokratisch, da es das Recht auf Meinungsfreiheit und auf Gleichberechtigung verletzt, bei denen es sich um grundlegende Rechte der Staatsbürger Israels handelt" (Art. 7) - ein Rechtsbruch, der weder "verhältnismäßig" ist, noch "für einen guten Zweck" steht - die einzigen Umstände, unter denen ein solcher Verstoß als annehmbar betrachtet werden könnte.

Darüber hinaus wird angeführt, daß das neue Gesetz der Freiheit der Aktivitäten von Unternehmen sowie deren Recht auf freie Berufsausübung schweren Schaden zufügt, da es den Unterschied zwischen auf israelischem Territorium hergestellten und den in Siedlungen der besetzten Gebiete produzierten Waren verwischt: "Israelische Unternehmen, die sich auf ausländischen Märkten etablieren wollen und babsichtigen, den Umlauf ihrer Waren zu erhöhen, könnten (in einigen Staaten) verpflichtet sein, den Nachweis zu führen, daß sie weder in den besetzten Gebieten produzieren, noch Waren erstehen, die dort produziert wurden. Nach Artikel 4 des Boykottgesetzes müssen diese jedoch damit rechnen, erhebliche wirtschaftliche Vergünstigungen von Seiten des Staates (Israel) zu verlieren" (Art. 59).

Die Klage vertritt den Boykott als legitimes Mittel des demokratischen Diskurses, das nicht verletzt werden darf. Es werden verschiedene Beispiele und Präzedenzfälle zitiert, angefangen mit dem ultra-orthodoxen Boykott von Restaurants, die nicht-koscheres Essen servieren, über den jüngsten Boykott gegen überteuerten Hüttenkäse bis zum Boykottaufruf israelischer Gewerkschaften gegen Reisen in die Türkei. Zusammen mit solchen israelischen Beispielen werden historische Boykottfälle aufgeführt, die zu einem Politikwandel sowie einem Bewußtseinswandel führten, wie der von Mahatma Gandhi veranstaltete Boykott gegen britische Produkte in Indien, die Boykottaufrufe der afro-amerikanischen Gemeinde gegen die Rassentrennung in den 1960er Jahren und weitere. Deshalb wird das neue Gesetz als ein Verstoß gegen das Prinzip der Gleichberechtigung angesehen, denn es richtet sich gegen das Recht der Gegner der Besetzung, sich an einem ideologischen Boykott zu beteiligen, während man anderen Arten derzeit in Israel angestrengter Boykotts auf ideologischer Grundlage erlaubt, ungetrübt weiter stattzufinden, wie der Boykott gegen Künstler, die nicht in der israelischen Armee gedient haben, gegen homosexuelle Sänger und gegen Unternehmen, die den Sabbat nicht einhalten.

Uri Avnery, ehemaliges Knesset-Mitglied und Gush-Shalom-Aktivist erklärte: "Das Boykottgesetz ist ein schwarzer Fleck auf den Statuten des Staates Israel. Ich hoffe eindringlich, daß der Gerichtshof es aufhebt und rettet, was von der israelischen Demokratie übriggeblieben ist."


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Dringende Aufrufe und Berichte - 11. Juli 2011

"Stimmen Sie mit Nein gegen das Boykottgesetz - leisten Sie Widerstand gegen den Mord an der israelischen Demokratie!"


Vor der heute (Montag, 11. Juli) erwarteten Abstimmung über das "Boykottgesetz" in der Knesset erklärt das ehemalige Knesset-Mitglied Uri Avnery:

"Das Boykottgesetz wird, sollte es tatsächlich verabschiedet werden, einen schwarzen Schandfleck auf dem israelischen Gesetzbuch hinterlassen. Dieses Gesetz hat zwei Aspekte, und einer ist schlimmer als der andere. Es ist ein Gesetz, das den Siedlungen einen Schutzpanzer verleiht und sie zu einer heiligen, unantastbaren Kuh macht, weil jeder, der wagt, sie zu kritisieren, im wortwörtlichen Sinne teuer bezahlen wird. Noch dazu ist es ein Gesetz, das auf nur einer Seite des politischen Spektrums Stimmen zum Schweigen bringt und die Meinungsfreiheit zerstört.

Avnery setzte hinzu: "Ich möchte hoffen, daß die Knesset, deren Mitglied ich einmal war, noch nicht soweit heruntergekommen ist, daß sich eine Mehrheit zur Verabschiedung dieses Gesetzes findet. Ich rufe die Mitglieder der Knesset auf, sich dem Boykottgesetz zu widersetzen, dessen Verabschiedung auf den Mord an dem, was auch immer von der israelischen Demokratie übriggeblieben ist, hinauslaufen würde."

Seit 1997 veröffentlicht die Gush-Shalom-Bewegung eine Liste mit Waren, die in Siedlungen der Besetzen Gebiete produziert werden und in Israels Geschäften und Supermärkten erhältlich sind. Dies wird als legitimer und wichtiger Verbraucherservice im Interesse Zehn- bis Hunderttausender nach Frieden Strebender verstanden, die nicht bereit sind, ihr Geld dafür einzusetzen, das Siedlungsprojekt zu unterstützen. Gush Shalom stellt diesen Dienst, ausgestattet mit extrem niedrigen Ressourcen, mit Hilfe von Freiwilligenarbeit und kleinen Spenden von Bürgern zur Verfügung - wir erhalten keine finanzielle Unterstützung irgendwelcher ausländischer Regierungen, noch haben wir Millionäre wie den Siedlungsmäzen Irvine Moscowitz oder wie Sheldon Adelson an der Hand, der Netanjahu eine kostenlose Zeitung finanziert.

Wenn das Gesetz in Kraft tritt, verstößt dieser legitime und wichtige Verbraucherservice gegen geltendes Recht. Wir wären den Klagen von Siedlern und von Unternehmen mit Sitz in Siedlungen schutzlos ausgeliefert, was unsere Mittel erschöpfen und unsere Aktivitäten zum Erliegen bringen würde.

Und wir stehen damit nicht allein. Das Gesetz wird auch die Schauspieler mundtot machen, die nicht bereit sind, in der "Halle der Kultur" aufzutreten, die unter Bruch internationalen Rechts und Blockierung aller Wege zum Frieden in einer Siedlung in den Besetzen Gebieten errichtet wurde. Genauso wird es die Dozenten und Forscher zum Schweigen verdammen, die nicht bereit sind, die Siedlungs-"Universität" als legitime akademische Einrichtung zu betrachten.

Einem bedeutenden Teil der israelischen Gesellschaft wird das grundlegende demokratische Recht, Protest einzulegen, verwehrt. Viele rechtschaffene Menschen in Israel werden vor ein Dilemma gestellt, das in einer Demokratie gar nicht vorkommen dürfte: wählen zu müssen zwischen der Verleugnung ihrer eigenen Prinzipien und über die entscheidendsten und wichtigsten Fragen zu schweigen, oder sich selbst einer destruktiven Rechtspraxis auszuliefern, die sie ihren Besitz kosten und sie mittellos zurücklassen könnte.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 12. Juli 2011
und Aufruf vom 11. Juli 2011
Gush Shalom, Israel
Telefon: +972-3-5221732
E-Mail: info@gush-shalom.org
Internet: www.zope.gush-shalom.org
in einer Übersetzung der Redaktion Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2011