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NAHOST/888: Arabische Aufstände, Islam und Postmoderne (inamo)


inamo Heft 68 - Berichte & Analysen - Winter 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Arabische Aufstände, Islam und Postmoderne

von Arshin Adib-Moghaddam


Die Idee eines Kampfes der Kulturen und das dazugehörige Regime des "Wir gegen sie" zeichnen ein Bild von Musliminnen und Muslimen als rückständig, zum Autoritarismus neigend und gänzlich undemokratisch. Die Aufstände in der arabischen Welt bringen gehörig Farbe in diese Schwarz-Weißmalerei. Zugleich mit der stereotypen Wahrnehmung von Musliminnen und Muslime verändern sie aber auch den Islam selbst, und revolutionieren seine politischen Ausdrucksformen.


Ein paar Meter von meinem Büro an der School of Oriental and African Studies (SOAS) entfernt befindet sich im Herzen des Londoner Stadtteils Bloomsbury das zur Universität London gehörige Senate House, ein bemerkenswerter neoklassizistischer Koloss von einem Gebäude, das einst als Hauptquartier des britischen Informationsministeriums diente und in dem George Orwell während des Zweiten Weltkrieges gelegentlich arbeitete. Der nachhaltige Eindruck, den das Gebäude auf Orwell gemacht hat, tritt in seinem 1949 veröffentlichten dystopischen Roman "1984" klar zu Tage. Der tragische Held des Romans, Winston Smith, ist mit der täglichen Aufgabe der Geschichtsklitterung betraut, um die Geschichtsschreibung der jeweils aktuellen Position des Regimes (Ozeanien) im Verhältnis zu seinen Widersachern (Eurasien und Ostasien) anzupassen. Er arbeitet im Ministerium für Wahrheit, zu dessen Darstellung Orwell seine Erfahrungen während des Krieges im Senate House heranzog. Zu den eindrücklichsten Themen von "1984" gehören die Betonung der staatlichen Indienstnahme von Massenmedien, um Sprache und Denken vollständig zu beherrschen. Orwell stellt dieses Thema anhand des Begriffs des "Neusprech", der Sprache der herrschenden Partei, dar, die dazu dient, um Komplexität durch einfache und übersichtliche Gegensätze zu ersetzen: "Gutdenk" versus "Verbrechdenk".

Orwell schreibt an anderer Stelle in einem berühmten Essay "(politische) Sprache - und dies gilt für alle politischen Parteien, von Konservativen bis zu Anarchisten - dient dazu, dass Lügen wahr klingen und Mord respektabel und um dem reinen Wind einen Anschein von Festigkeit zu geben".(1) In diesem nicht-fiktionalen Kontext scheint Orwell anzuerkennen, dass "Verbrechdenk" nicht auf sowjetische und faschistische Regime beschränkt ist, dass die Verzerrung der Wirklichkeit eine Eigenschaft von Politik im Allgemeinen ist, und dass die Medien sich am Angriff auf das unabhängige Denken mitschuldig machen. Das Wort "Orwellsch" hat sich denn auch zur Beschreibung einer Welt aus Lügen, Propaganda und Indoktrination eingebürgert. Seine Konnotationen scheinen noch unheimlicher, wenn es benutzt wird, um - statt direkter und offener Täuschung -, jene Art der "Gedankenkontrolle" zu bezeichnen, die in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften am Werk ist: also chiffrierter, geheimer, opaker, horizontaler vernetzt, penetranter, globaler und politisch transzendenter als jene vertikale und vulgär-hierarchische Form, die in "1984" angeprangert wird.

Diese gegenwärtige Form der "Gedankenkontrolle" können wir in zahlreichen politischen Zusammenhängen beobachten, aber sie ist besonders deutlich sichtbar in Darstellungen von Arabern und Muslimen, vor allem nach den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten im September 2011. Wie ich in "A Metahistory of the clash of civilizations" versucht habe zu zeigen, war der auf den 11. September folgende Ausbruch chauvinistischer Hetze gegen Individuen und Themen, die auch nur von fern als "islamisch" wahrgenommen wurden, der Oberflächeneffekt einer kulturellen Konstellation, die tief im unterschwelligen Bewusstsein Westeuropas und Nordamerikas verwurzelt ist. Um zu betonen, dass dieses "islamfeindliche" Gefüge dicht und historisch verankert ist, nannte ich es ein Regime der Kollision, oder des Kampfes ("Clash Regime"), also ein System, dass den Islam als einzigartig, deviant, gewalttätig und letztendlich "anders" als "wir" reproduziert.(2) Es ist dieses Wahrheitsregime, das "uns" an einen unvermeidlichen, kosmischen Kampf gegen "sie" glauben macht. Es geschieht auf diese Weise, dass Mord im Namen der Zivilisation als internationaler modus operandi akzeptiert und legitimiert wird.(3)


Die "andere" Seite von "uns"

In analytischer Hinsicht muss die wichtigste Auswirkung der arabischen Intifada diejenige sein, dass die Ereignisse uns mit noch mehr Werkzeugen ausstatten, um das "Regime der Kollision" zum Einsturz zu bringen. In diesem kurzen Essay kann ich nur damit beginnen herauszuarbeiten, wie sehr die Aufstände Ausdruck einer postmodernen Form der globalisierten Politik sind, welche die Universalität von Werten wie sozialer Gerechtigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie einfordert. Dies kann als ein Prozess der De-Territorialisierung eben dieser Werte zusammengefasst werden. In der Tat sind Araber und Muslime gerade dabei, Geschichte selbst zu schreiben und für sich zurückzufordern, nachdem sie ihnen von Historikern und Funktionären der Kolonialzeit "gestohlen" wurde, die sich an der Tilgung der Spuren der "Anderen" aus den Archiven des "Westens" mitschuldig gemacht haben.(4) Bis vor kurzer Zeit, sicher aber während der Zeit des "Kriegs gegen den Terror" wurden Araber und Muslime als antidemokratisch, illiberal und von Jahrhunderten des "orientalischen Despotismus" politisch verblendet wahrgenommen. Die demokratischen Aufstände kamen für viele in Europa und Nordamerika gerade wegen dieser vorherrschenden Kultur der Ignoranz so überraschend.

Und doch, in dieser entscheidenden Epoche für die Zukunft der Weltpolitik, ist die Handlungsfähigkeit des "gemeinen Individuums" für alle sichtbar geworden. Seit den Aufständen, die den "Eisernen Vorhang" zerschmettert, und den Untergang der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre beschleunigt haben, hat es solch einen Ausbruch des öffentlichen Unmutes mit derart weitreichenden politischen Folgen nicht mehr gegeben. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen sind drei der dienstältesten Diktaturen in der Region, jene Zine el-Abidine Ben Alis in Tunesien, Hosni Mubaraks in Ägypten und Muammar al-Qadhdafis in Libyen von der schieren Entschlossenheit der Menschen hinweggefegt worden, im Falle Libyens begleitet von einer Periode des bewaffneten Konflikts zwischen dem Staat und der Opposition, und dem massiven militärischen Eingreifen der NATO. Diese Führer, die nicht demokratisch legitimiert waren, sondern sich auf die Autorität des militärischen Establishments und das Ideal des charismatischen und starken Führers stützten, sind dem Schicksal des Schah im Iran und Saddam Husseins im Irak gefolgt. Trotz der Überbleibsel autoritärer Regime, die weiterhin Teil der politischen Kultur in Westasien und Nordafrika (WANA) sind, können wir feststellen, dass Forderungen nach Demokratie, Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit in den Gesellschaften der Region gang und gäbe geworden sind. Natürlich wäre es vorschnell, anzunehmen, dass das Stereotyp der Araber und Muslime als einzigartig, deviant und grundverschieden damit überwunden ist, doch haben die Revolten gezeigt, sie können nicht einfach auf Ziele im "Krieg gegen den Terror" reduziert werden und orientalistische Darstellungen von ihnen als dem unversöhnlichen "Anderen" sind veraltet und von fragwürdigem ideologischem Wert.

Dergestalt haben die arabischen Aufstände neuen Anstoß für eine Strömung gegeben, die inmitten des Kalten Krieges mit intellektuellen Bewegungen wie der Dependenztheorie in Lateinamerika begann, und sich über die Neue Linke in Europa, postkoloniale Forschung, Feminismus, Kritische Theorie und andere Formen von gegenkulturellen "Bewegungen", die durch die 68er-Generation befeuert worden waren, fortsetzte. Diese Epoche eröffnete neue Möglichkeiten, um Politik auf kritische Weise zu fassen und forderte das euro-ameriko-zentrische Erbe in den westlichen Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften heraus.

Obwohl es stimmt, dass heute unterdrücktes Wissen leichter erkennbar ist, dass das "Andere" einen Platz in den Lehrplänen hat, so ist doch die Feststellung, dass eurozentrisches Wissen in entscheidender Weise zurückgedrängt worden ist, wahrscheinlich zu optimistisch. Wenn überhaupt, dann hat die unvermittelte Anwesenheit des "Anderen" eine feindselige Reaktion hervorgerufen, welche dabei ist, sich zu einer Gegenbewegung zu entwickeln, mit ihrer eigenen Machtbasis innerhalb der Wissenschaft und darüber hinaus. Schlussendlich nimmt die Theorie eines "Kampfes der Kulturen", die von Samuel P. Huntington, der auch einer der wichtigsten Fürsprecher gegen die "Hispanisierung" der Vereinigten Staaten war, neu erfunden worden ist, auch weiterhin eine zentrale, wenn auch umstrittene Stellung in den Lehrplänen vieler Fakultäten für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen in Nordamerika und in geringerem Maße auch in Europa ein. Darüber hinaus hat sich das Narrativ des Kampfes zu weit mehr als nur einem theoretischen oder wissenschaftlichen Konstrukt entwickelt, denn es ist in die Ideologie und Praxis politischer Gruppen eingegangen, darunter rechtsextremer Parteien, die Sitze in den Parlamenten vieler Länder der Europäischen Union erobert haben. Der einflussreiche niederländischen Politiker Geert Wilders zum Beispiel hat die These vom Kampf der Kulturen in die Tat umgesetzt, indem er aus hetzerischen Angriffen auf den Islam die Grundlage seiner Karriere gemacht hat. Selbst an den Schalthebeln der Macht kann die Idee eines unvermeidlichen Konflikts zwischen "dem Westen und dem Rest" als ein politisches Mittel funktionieren, um zur Unterstützung einer militärischen Intervention gegen letztere zu trommeln; der frühere britische Premierminister Tony Blair zum Beispiel hat den Begriff in seiner Aussage vor dem Chilcot-Untersuchungsausschuss zum Irakkrieg gebraucht, um zu militärischem Vorgehen gegen den Iran aufzurufen. "Irgendwann muss der Westen diese elende Politik oder Haltung des Appeasements aufgeben, zu glauben, dass wir daran schuld sind, was die Iraner tun, oder was diese Extremisten tun", sagte er. Blair warf die Gegner des "Westens" auf typisch pauschale Art in einen Topf: "Sie lehnen unsere Art zu leben grundsätzlich ab, und werden dies weiterhin tun, wenn wir ihnen nicht mit Entschlossenheit entgegen treten und, wenn nötig, mit Gewalt."(5)

Die Kraft der Idee eines unvermeidlichen "Kampfes der Kulturen" zwischen "dem Westen und dem Rest" ist evident; es ist zu optimistisch, zu argumentieren, dass die meisten Konsumenten des "Kampf"-Regimes es nicht mehr als das dominierende Narrativ ihrer Gesellschaften akzeptieren. Gedankenkontrolle wird in entwickelten liberal-kapitalistischen Gesellschaften auf sehr viel subtilere und heimlichere Weise praktiziert, als sich George Orwell das vorgestellt hat. Ein Beispiel dafür, was über den "Islam" zeitgleich mit den arabischen Aufständen geschrieben wurde, illustriert diesen Punkt. Thilo Sarrazin, Mitglied des Vorstandes der deutschen Bundesbank und ehemaliger Finanzsenator in Berlin, veröffentlichte ein Buch mit dem Titel "Deutschland schafft sich ab", in welchem er argumentiert, dass wegen der hohen Geburtenraten unter türkischen und arabischen Familien Deutschland bald von "Muslimen" beherrscht wird, und dass "türkische Gene" verantwortlich seien für die Senkung des "Intelligenzniveaus" des Landes.

Sarrazins Phobie entspricht dem, was anderswo in Europa geschieht, etwa dem Wahlerfolg von Geert Wilders in den Niederlanden, dem Minarett-Verbot in der Schweiz, und der Entstehung von ultra-nationalistischen Parteien in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union (z. B. Ungarn und Schweden). Sarrazins Worte enthalten Rückstände eines hartnäckigen rassistischen Mythos, der im Mittelpunkt der Pseudowissenschaft der Nazis (unter anderem) stand: dass Intelligenz ethnisch bedingt sei. Der obskure amerikanischen Pastor namens Terry Jones, der mit seiner Idee einer Koranverbrennung für Furore gesorgt hatte, um gegen die geplante Errichtung eines islamischen Glaubenszentrums in Manhattan (zwei Blocks entfernt von "Ground Zero", dem Ort der Angriffe des 11. September) zu protestieren, spiegelt eine Variante von "Gedankenkontrolle" in Bezug auf Muslime wider: "Islam" funktioniert als Formel, um "Muslime" noch stärker unter dem Label des Terrorismus zusammenzufassen. Die soziale und geografische Entfernung zwischen diesen beiden Männern legt nahe, dass, während es keinen allumfassenden anti-muslimischen Konsens gibt, solche Haltungen in der Lage sind, sich quer durch die politischen Kulturen der heutigen Welt zu erstrecken.

Es war ein weiterer prominenter englischer Schriftsteller, Martin Amis, der im Jahr 2006 dem "Drang" nachgab, kundzutun, Muslime sollten "solange leiden, bis sie ihr Haus in Ordnung gebracht haben", in einer Abfolge von verschiedenen Maßnahmen: "Abschiebung. Danach Einschränkung der Freiheiten. Leibesvisitationen an Menschen, die aussehen als ob sie aus dem Nahen Osten stammen, aus Pakistan, bis es der ganzen Gemeinde weh tut, und sie beginnen, bei ihren Kindern härtere Seiten aufzuziehen". Amis' Freund, der Journalist Christopher Hitchens - der einiges zu George Orwell geschrieben hat - verband im Jahr 2007, was er "die faschistische Subkultur" in Großbritannien nannte, mit "zwielichtigen Exilanten aus dem Mittleren Osten und Asien, die Londons traditionelle Gastfreundschaft ausnutzen" und mit der Vorstellung von einer Einwanderergruppe, die ihre Ursprünge in einem besonders rückständigen und reaktionären Teil von Pakistan habe. All die erwähnten Personen verfügen über (oder im Fall von Terry Jones erhielten) einen privilegierten Zugang zu den Medien und ihre tendenziösen und in einigen Fällen hetzerischen Ansichten werden sogleich über das Internet verbreitet. Inder Kakophonie, die zwangsläufig darauf folgt, neigen die Stimmen der Vernunft und Empathie dazu, überhört zu werden.(6)

Die beschriebenen Narrative skizzieren dabei die Konturen eines neuen strategischen Feindes, der als Projektion im Geiste seiner Schöpfer eher denn als Realität existiert. Ein schleichend spalterischer Diskurs verbreitet die Vorstellung, dass "muslimisch sein" einem allumfassenden und reduktiven Signifikant gleichkommt. Das Kleinkind ist der Muslim. Der Nachbar ist der Muslim. Die Prostituierte ist die Muslimin. Der schwule Aktivist ist der Muslim. Der Gefangene ist der Muslim. Die Arbeiterin ist die Muslimin. Die Feministin ist die Muslimin. Die behinderte Person ist der Muslim. Der Liebende ist der Muslim. Muslim - und nichts weiter. Es ist offensichtlich, wie viele Möglichkeiten für Verständnis und Dialog hier vergeudet werden. Aber selbst nach ihren eigenen Maßstäben verheddern sich Autoren wie Martin Amis und Christopher Hitchens in einen Widerspruch, wenn sie zuerst bemüht sind Formen des "islamischen Radikalismus" von einem fiktiven "guten Islam" zu unterscheiden, und dann von "Muslimen" sprechen und von "Islam", als ob sie einheitliche Ganze seien. Dies gilt um so mehr, als ihr Diskurs eine Einheit und Einzigartigkeit des Islams herstellt, und so kohärent macht, was in Wirklichkeit breit gefächert, differenziert und molekular ist. Damit ist eine Ähnlichkeit mit den Ansichten der Führer von al-Qaida erreicht, die inbrünstig glauben, dass der Islam eine allumfassende Totalität sei, die alles bis ins Letzte bestimmt, bis zu den individuellen Charaktereigenschaften einer Person. In ihrer gemeinsamen Abflachung komplexer Realitäten verbinden diese eingebildeten Gegner sich zu einem gefährlichen Mythos wirklich Orwellschen Ausmaßes.


Postmoderne Hybridität

Dies macht es umso wichtiger, die bipolare Annahme, auf die das Kampf-Regime sich gründet, in Frage zu stellen. Denn in Wirklichkeit gibt es keine solche Abgrenzungen oder "Blutgrenzen", die eine westliche Einheit von einem islamischen Block trennt. In solch Gegensatzpaaren zu denken ist ein Überbleibsel einer Kalten Kriegsmentalität, die immer weniger geeignet scheint, um die Komplexitäten der postmodernen Unordnung des frühen 21. Jahrhunderts zu begreifen. Schließlich untergräbt die heutige Welt die sich angeblich gegenseitig ausschließenden Kategorien der 'Kampf'-These mehr und mehr. Zum Beispiel: Die alltägliche Erfahrung der Metropolen der westlichen Hemisphären ist durchdrungen von Hybridität und kosmopolitischem Geist, in dem viele andere kulturelle Formationen (u.a. eine Art islamisch-europäisch-amerikanischen Amalgams) vorhanden sind. Vor diesem Hintergrund sind Versuche, die Spaltung zwischen verschiedenen Einheiten zu "reparieren" - was eine Charakteristik der Reaktionen der britischen Regierung auf die Anschläge im Juli 2005 war, sowie der darauf folgenden Anti-Extremismus Initiativen wie der "Prevent"-Strategie(7) - fehlgeleitet und anachronistisch, denn sie gehen von der Existenz eines "Westens" aus, der ideologisch einheitlich, provinziell, und ohne kosmopolitischen Geist und interkulturelles Erbe ist. In der heutigen globalisierten Welt, hat diese Annahme keine Gültigkeit mehr, denn der "Westen" und seine Korrelate (Ost, Süd, Nord) existieren innerhalb des jeweils anderen, und sind ineinander verschränkt, Teil einer entstehenden postmoderne Konstellation.

Die Folgen dieser Entwicklung sind tiefgreifend. Erstens schafft die Tatsache, dass der "Westen" keine klare Grenze mehr hat (weder innere noch äußere), gegenseitige Abhängigkeiten in Bezug auf Sicherheit. Die globale Terrorkampagne von al-Qaida hat klar gemacht, dass kein Krieg ohne schwerwiegende "Rückstoßeffekte" geführt werden kann. Zweitens, die globalisierte Weltordnung schürt eine besondere Art von "transnationaler Solidarität" , wie sich in der globalen Opposition gegen die Invasion des Irak im Jahr 2003 zeigt, oder in der weltweiten Unterstützung für einen palästinensischen Staat. Diese wiederum hängt mit der Entwicklung seit den 1990er Jahren von einer Art von Weltöffentlichkeit zusammen, in der lokale Formen des politischen Aktivismus sich zu einer grenzenlosen Struktur des Widerstandes verweben. Das Internet macht es einfacher, verschiedene politische Kämpfe zu verbinden, organisieren und anzufachen, und gibt ihnen einen multipolaren und dezentralen Charakter; dies lässt sich an den Aufständen in Ägypten, Tunesien und Syrien beobachten, genau wie bei Kampagnen in Großbritannien gegen die Erhöhung der Studiengebühren oder bei Protesten in Stuttgart gegen die Zerstörung eines Bahnhofs. Dieses vernetzte und vereinte Feld globaler Politik ist eine Herausforderung für all diejenigen, die sich an eine der Vergangenheit angehörende Sprache und Denkweise klammern. Viele werden es ignorieren, weil (wie für Geert Wilders oder extreme Islamisten), eine Wir-gegen-sie-Logik, welche den "anderen" verteufelt, von grundlegender Bedeutung für ihre Strategie der Ausgrenzung ist. Aber viel zahlreicher sind diejenigen, die davon überzeugt werden könnten, dass der "Westen" nicht als eine separate, monolithische Einheit existiert, und dass sich sowohl Innenpolitik als auch internationale Beziehungen dem entsprechend neu auszurichten haben. Zu diesem Zweck muss sich der Kanon der westlichen Geistes- und Sozialwissenschaften noch weiter für kosmopolitische Ansätze öffnen, die unterschiedliche kulturelle Erfahrungen innerhalb einer gemeinsamen Universalität würdigen.


Das Islamische Imaginäre, neue Wirklichkeiten

Eine zweite tiefgreifende Veränderung kann in den Diskursen des Islam, oder der Politik des Islamismus ausgemacht werden. Die wichtigsten Faktoren hinter den Aufständen in der arabischen Welt in den ersten Monaten des Jahres 2011 sind vertraut - Diktaturen, Unterdrückung, Vetternwirtschaft, soziale Ungleichheit, strukturelle Armut und demographische Veränderungen. Aber diese soziologische Indikatoren offenbaren sich erst im Kontext einer spezifischen ideellen und politischen Realität. Menschen sterben wegen der Macht der Ideen, um ihrer Ehre willen, ihrer Gefühle, nicht wegen des Preises von Wassermelonen. Wenn sowohl ideelle als auch materielle Elemente berücksichtigt werden, kann ein Blick auf den Kern dessen, was sich in Westasien und Nordafrika ereignet, geworfen werden: eine wahrhaft historische Entwicklung, die den Islam mit universellen Prinzipien wie Freiheit, Demokratie und soziale Gleichheit verbindet. Schließlich finden diese großen Ereignisse in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften statt, in denen riesige Demonstrationen nach dem Freitagsgebet gehalten, Gebetsteppiche vor Panzern ausgebreitet, nationalistische Gefühle und Parolen von islamischen Symbolen durchdrungen werden. Aber was jetzt ins Auge fällt, ist dass dieser gesamte islamische Komplex sich in Richtung Demokratie und soziale Gleichheit ausrichtet. Der Islam verwirklicht seine latente soziale und kulturelle Kraft und verwandelt sich selbst in einen "postmodernen Islam", der eine radikale Abkehr von dem deterministischen, totalitären "Islamismus" früherer Generationen darstellt. Der Unterschied wird durch den Vergleich der politischen Philosophie der Gründer der Muslimbrüderschaft in Ägypten mit dem der Anführer der Bewegung heute augenscheinlich. Die erste Generation der Ikhwan, die von Hassan al-Banna im Jahr 1928 gegründet wurde, definierte den Islam als eine allumfassende Ideologie und als Instrument zur Verwirklichung explizit politischer Ziele - ein Ansatz, der von späteren Figuren wie Sayyid Qutb und (unter Berücksichtigung aller doktrinaler Unterschiede) Ayatollah Khomeini und seinen Anhängern im Iran geteilt wurde. Der moderne "Islamismus" war mit genügend politischem Elan, revolutionärem Eifer und theologischem Gehalt ausgestattet, um an zwei Fronten zu kämpfen:. Die erste war diejenige des Kampfes gegen die autoritären Staaten, die nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und im Rahmen des imperialen Systems, das in erster Linie von Großbritannien und Frankreich gestützt wurde, entstanden. In der Zeit des intensiven Umbruchs und der politischen Unsicherheit, die folgte, ward der paternalistische post-koloniale Staat in Westasien und Nordafrika (und anderswo im globalen Süden) geboren.

In diesem Kontext der Unsicherheit erwies sich das Militär als die treibende Kraft in der Herstellung und Erhaltung von staatlicher Macht. Dies hatte nichts (wie einige westliche Orientalisten argumentierten) mit einem spezifisch arabischen oder muslimischen Hang zu einem starken Staat zu tun. Es war eher den historischen Umständen des Endes des Osmanischen Systems und der Entstehung von Nationalstaaten mit schwachen Bürokratien und minimaler institutioneller Unterstützung geschuldet. Die Islamisten, die den neuen Staat ablehnten, begriffen sich als im Angesicht eines Gegners mit zwei Aspekten: den militarisierten Staat selbst, und die neo-imperialen Einmischungen in seine inneren Angelegenheiten, die auch nach dem formellen Rückzug des Imperiums fortdauerten. Das Credo der Islamisten war "Islam din wa dawla" (Islam ist Religion und Staat), eine Version des Glaubens, die sowohl die Vorstellung von einem unabhängigen, autarken Staat und ein umfassendes religiöses System, dass die individuellen geistigen Bedürfnisse befriedigen konnte, umfasste.

Dieser imaginierte Islam - einer modernen Version der Salaf nachempfunden, der frommen Gefährten des Propheten Mohammed - stellte sich gegen einen ebenso imaginierten Westen, der auf ein materialistisches, invasives und weitgehend böses Konstrukt reduziert wurde. Okzidentalismus versus Orientalismus, eine homogene fremde Macht gegen einen schwer fassbaren, ersehnten homo islamicus; ein minimalistischer, dichter und totaler "Islam" gegen einen ähnlich verzerrten, monolithischen "Westen". Dieser Diskurs wurde zum Impuls für die Revolution im Iran im Jahr 1979, ein historisches Ereignis, das (zusammen mit dem Kampf gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan in den 1980er Jahren) zur großen, politisierten Wiedereröffnung von Geschichte, die folgte, beigetragen hat.

Heute ist der Kontext, in dem die verschiedenen Formen des Islam, oder Islame, sich verwirklichen, völlig anders. In den politischen Arenen in Ägypten, Iran, Tunesien und Bahrain funktionieren sie nicht als revolutionäre Programme. Es gibt keinen Khomeini an ihrer Spitze, kein islamistisches Manifest, das die Handlungen der Menschen anleitet, kein von einer grünen Flagge gekröntes Hauptquartier, das die Dinge koordiniert. Postmoderner Islam ist diffus, vernetzt, differenziert, multi-institutionell und (in dem Sinne, dass er weder patriarchalisch noch in erster Linie feministisch ist) "trans sexuell". Post moderner Islam schwebt frei durchs Internet, und verbindet sich mit der universellen Bewegung zu Demokratie, sozialer Gleichheit und Widerstand gegen politische Tyrannei. Er hat ein neues Gesicht, weit weniger wütend und sehr viel einfühlsamer gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft und anderen politischen Akteuren als es der "qutbische Islam" war.

Postmoderner Islam kann sich den Luxus leisten, demokratisch zu sein, weil er sich in einem Kontext ausbildet, der viel weniger flüssig und weniger unsicher ist als jener des frühen 20. Jahrhunderts, als der "Islamismus" geboren wurde. Islamismus war roh, ungemildert und apostolisch in seinen politischen Vorschriften; dagegen reift postmoderner Islam in den im Entstehen begriffenen Zivilgesellschaften in Westasien und Nordafrika, und wird durch einen pluralistischen Raum zahlreicher Institutionen gefiltert. Die Ikhwan selbst sind in keiner Weise eine Avantgardebewegung der Art, wie sie Sayyid Qutb sich vorstellte. Sie sind ein Amalgam von karitativen Organisationen, sozialen Stiftungen und politischen Fraktionen: eine pluralistische Abstraktion eher denn eine substanzielle, getriebene, totalitäre Bewegung. Es gibt keine qutbische Vorhut, die bestimmt und deterministisch ist in Bezug auf die Konturen des "islamischen Staates". Vielmehr gibt es eine "avicennische" politische Philosophie, die pragmatisch und vorsichtig ist, offen in ihren Vorschriften und post-ideologisch in ihrer politischen Syntax.

In diesem sich entwickelnden Diskurs werden Vorschreibungen à la "Islam ist..." und "Islam muss ... sein" durch Formulierungen ersetzt durch "Islam darf hinzufügen ..." und "Islam könnte sein ...". Dies ist ein tiefgreifender Wandel, der in zahlreichen Reden der Führer der Ikhwan in Ägypten und der al-Nahda (Renaissance) Partei in Tunesien sichtbar ist, genauso in Verlautbarungen und Strategiepapieren einiger Reformisten in Iran. Es ist also ein wahrhaft historischer Augenblick, einer, der zumindest verspricht, die letzten Reste des Orientalismus hinwegzufegen - und, als Teil davon, die falsche Vorstellung, dass es eine arabische oder muslimische Persönlichkeit gebe, die anfällig für Autoritarismus ist.

Bis in Tunesien die Revolution ausbrach, war das Narrativ vorherrschend, dass die muslimischen Gesellschaften von Radikalismus geplagt würden, und dass al-Qaida eine tragfähige politische Kraft sei. In den vergangenen zehn Jahren hat die Bekämpfung des "muslimischen Radikalismus" (oder was Bernard Lewis "muslimische Wut" nannte) riesige Ressourcen verschlungen, die für die Kriege im Irak und in Afghanistan eingesetzt wurden, für die Strategie des Regimewechsels in Iran, Syrien, Libanon und Gaza, und für riesige Militärausgaben und viele nationale Sicherheitskonzepte. Nun ist eine tiefgreifende Transformation dabei, die Fehler und Torheiten dieses Ansatzes für alle sichtbar zu machen. Die Transformation des Islams selbst ist dabei eine gewichtige Kraft in diesem Prozess der Erneuerung. Zum ersten Mal seit dem gewaltsamen Bruch des Kolonialismus ist das Spektrum der Diskurse, die den Gehalt des Islams ausmachen, in Richtung universeller Bestrebungen nach Freiheit und Demokratie ausgerichtet. Sicherlich gab es Zeiten, in denen der Islam seine humanistischen Potentiale offenbarte, aber heute sind die arabischen und muslimischen Gesellschaften dabei, sich selbst mit einer politischen Sprache auszurüsten, die diese Normen institutionalisieren könnte, systematisch und auf lange Sicht. Der Islamismus ist im Verschwinden begriffen und mit ihm der Mythos, dass ein hybride Religion auf eine politische Ideologie aus einem Block reduziert werden kann. Dieser Moment signalisiert den Beginn der Postmoderne in der arabischen und islamischen Welt: ein radikaler, erfrischender und emanzipatorischer Augenblick in der Geschichte der Menschheit.


Arshin Adib-Moghaddam ist politischer Analyst und Professor für Vergleichende und Internationale Politikwissenschaft, SOAS, Universität London. Aus dem Englischen von Pepe Egger.


Anmerkungen

(1) George Orwell, Politics and the English Language. Erhältlich bei http://ebooks.adelaide.edu.au/o/orwell/george/o79p/

(2) Arshin Adib-Moghaddam, A metahistory of the clash of civilisations: Us and Them beyond Orientalism. New York/London: Columbia University Press/Hurst, 2011.

(3) Ebenda, Kapitel 3.

(4) Jack Goody, The Theft of History, Cambridge: Cambridge University Press, 2006.

(5) 'Blair Criticises Obamas Iran Policy', Agence France Press (AFP), 21 Jänner 2011.

(6) Siehe A metahistory of the Clash of Civilisations, S. 272 ff.

(7) Prevent ist eine Säule der 'Contest' Strategie der britischen Regierung zur Terrorbekämpfung nach den Anschlägen des 7. Juli 2005; 'Prevent' fällt dabei die Aufgabe zu, Terrorismus dadurch zu bekämpfen, "dass Menschen davon abgehalten werden, zu Terroristen zu werden oder Terrorismus zu unterstützen" Webseite des Britischen Home Office,
www.homeoffice.gov.uk/counter-terrorism/review-of-prevent-strategy/, (20. 11.2011); de facto führt dies zur Bekämpfung von islamischem "Extremismus" und der Förderung von "moderaten" Muslimen. Anm. d. Ü.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 68, Winter 2011

Gastkommentar:
- Modell Türkei: "They all went in Prison". Von Corry Guttstadt

Feind Bild Islam
- Arabische Aufstände, Islam und Postmoderne. Von Arshin Adib Moghaddam
- Die NATO und das Feindbild Islam. Von Werner Ruf
- Historisierung des Feindes, Globalisierung des Islam, der Gewalt einen neuen Namen geben. Von Mohammad R. Salama
- Jihad Jane von Deepa Kumar
- US-Netzwerk der Islamophobie
- Islamophobie - Plädoyer für eine internationale Bezeichnung. Von Sabine Schiffer
- Islamophobie und Rechtspopulismus. Von Dagmar Schatz
- Aufruf zum Bürgerkrieg?
Das Pariser Islamophobenmanifest. Von Eric Hulsens
- Anders B. Breivik: Wir schufen das Monster! Von Luk Vervaet
- Islamophobia Industry: Zionismus und der Nahe Osten. Von Farha Khaled

Afghanistan
- 8 Schritte zur Desavouierung westlicher Demokratie. Von Matin Baraki

Usbekistan
Usbekistan: ein "Staat", der antistaatlich agiert? Von Nick Keith

Palästina/Israel
- Wie der "Friedensprozess" die Selbstbestimmung ausgehöhlt hat. Von Ali Abunimah

Syrien
- Schnittmengensuche.
Zwischen Autoritarismus und Neoliberalismus. Von Omar S. Dahi/Yasser Munif
- Fronten und Konfliktdynamik. Von Hassan Abbas


Sudan
- Neue Regierung, Ancien Regime? Von Roman Deckert und Tobias Simon

Westsahara
- Die Westsahara im Abseits der arabischen Revolution. Von Susanne Schmid

Wirtschaftskommentar
- Die politische Ökonomie des Golf- Kooperationsrates. Von Adam Hanieh

Ägypten
- Giftgas gegen das eigene Volk? Von Dagmar Schatz

Zeitensprung
- Der Untergang der "Egoz". Von Jörg Tiedjen

Ex Mediis
- Revolutionen - und sonst? Von Irit Neidhardt
- Über das Entstehen einfältiger Bilder
- Zalman Amit/Daphna Levit: Israeli Rejectionism. Von Ludwig Watzal
- Äthiopien - von innen und außen, gestern und heute. Von Fritz Feder
- Jean-Baptiste Rivoire: Le Crime de Tibhirine. Von Werner Ruf
- "Fix me", Regie : Raed Andoni, Palästina 2009. Von Pepe Egger

Nachrichten//Ticker


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Quelle:
INAMO Nr. 67, Jahrgang 17, Herbst 2011, Seite 4-8
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2012