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NAHOST/915: Was nach dem Arabischen Frühling kommt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 135/März 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Was nach dem Arabischen Frühling kommt

Islamistische Parteien in Marokko, Ägypten und Tunesien - ein Vergleich

von Sophie Grünwald



Aus den ersten Wahlen nach dem Sturz der alten autokratischen Regime in Tunesien und Ägypten sind islamistische Parteien als klare Sieger hervorgegangen. Auch in Marokko stellt künftig erstmals eine islamistische Partei den Regierungschef. Dabei hatte es zu Beginn des Arabischen Frühlings ausgesehen, als hätten islamistische Gruppen und Parteien verpasst, auf den Zug der Proteste aufzuspringen: In Marokko und Ägypten riefen die Führungen der größten islamistischen Parteien ihre Anhänger und Mitglieder zunächst auf, sich von den Demonstrationen fernzuhalten. Diese Direktive wurde zwar von vielen jungen Aktivisten ignoriert, aber die Proteste selbst waren größtenteils nicht von islamischen oder islamistischen Parolen und Gruppen dominiert.

Die Wahlsiege moderater - also gewaltfreier und inhaltlich gemäßigter - islamistischer Parteien kommen dennoch nicht überraschend, haben sich diese doch über die letzten Jahre in den begrenzt liberalisierten elektoralen Autokratien Marokko, Ägypten, Jordanien und Jemen häufig als professionelle und kritische Opposition zu den jeweiligen Regimen positioniert, die über gute Organisationsstrukturen und eine breite Basis verfügen.

Durch einen Vergleich der Situation in Marokko, Ägypten und Tunesien soll nun der Frage nachgegangen werden, was die Wahlsiege moderat-islamistischer Parteien für den Fortgang der Transitionen und mögliche Demokratisierungsprozesse bedeuten.

Hier erscheinen besonders zwei Aspekte zentral: Zum einen stellt sich die Frage nach der Agenda der islamistischen Akteure an sich. Alle moderat-islamistischen Parteien in der Region haben ihre klassische Zielsetzung, die Stärkung der Rolle des Islam in Gesellschaft und Politik, zunehmend um Forderungen nach Parteienpluralismus, fairen Wahlen und Korruptionsbekämpfung ergänzt. In gesellschaftspolitischen, kulturellen und moralischen Fragen vertreten sie jedoch - in unterschiedlichem Maße - konservative Positionen, die zum Teil nur schwer mit liberalen Freiheitsrechten vereinbar sind. Erst in der Zukunft wird sich zeigen, wie die moderaten Islamisten ihre Versionen einer "islamischen Demokratie" nach Jahrzehnten in der Opposition umsetzen. Ein kursorischer Blick auf die Charakteristika der einzelnen Parteien und die bislang von ihnen vertretenen Positionen kann jedoch erste Hinweise auf die demokratische Glaubwürdigkeit der verschiedenen neuen Regierungen geben.

Zweitens muss gefragt werden, welchen Spielraum die neuen islamistisch geführten Regierungen in den sich im Transitionsprozess befindlichen Staaten überhaupt haben. Dafür sollen die unterschiedlichen Akteure, vor allem die möglichen Gegenspieler und Partner der Islamisten, sowie die institutionellen Rahmenbedingungen in den drei Ländern beleuchtet werden.


Marokko: Königstreue Islamisten?

Marokko ist ein Musterbeispiel für einen speziellen Typ autoritärer Herrschaft, den Andreas Schedler als "elektorale" und Lucan Way und Steven Levitsky als "kompetitive" Autokratie bezeichnet haben. Wie andere Regime in der Region entschied sich auch das marokkanische Königshaus für eine begrenzte Öffnung des politischen Systems, ohne jedoch eine Demokratisierung einzuleiten. Das Ziel dieser Überlebensstrategie war vielmehr, Opponenten kooptieren und kontrollieren zu können. Das Regime wollte so externem Demokratisierungsdruck standhalten und einem Legitimationsschwund im Innern begegnen. Mitte der 1990er Jahre wurde auch eine islamistische Partei zum politischen Wettbewerb zugelassen. Über die Jahre konnte diese Parti pour la justice et le développement (PJD) ihren Stimmenanteil sukzessive ausbauen. Sie profilierte sich vor allem als Kritikerin des gesellschaftlichen Modernisierungskurses von König Mohammed VI. und konzentrierte sich auf soziale Themen. Ihr Mobilisierungspotenzial wurde beispielsweise im Streit um die Liberalisierung des Familienrechts im Jahr 2004 deutlich. Insgesamt ist die Inklusionsstrategie des Königshauses jedoch bislang aufgegangen.

Denn zum einen kann der Monarch dank seiner verfassungsrechtlich verankerten Stellung ohnehin bis heute weitgehend unabhängig vom Parlament den politischen Prozess dominieren. Daran hat auch die neue Verfassung nichts geändert, die der König selbst nach den Anfang 2011 auftretenden Protesten initiierte. Die Stellung von Parlament und Regierung ist zwar zum Teil aufgewertet. So ist der König verpflichtet, den Premier aus der stärksten Parlamentsfraktion zu benennen. Noch immer kann er jedoch eigenmächtig das Parlament auflösen.

Zum zweiten profitiert der König in legitimatorischer Hinsicht vom traditionell stark polarisierten und fragmentierten Parteiensystem und Parlament, das ihn als unverzichtbaren Bewahrer der nationalen Einheit und Schiedsrichter zwischen den Parteien erscheinen lässt. Dies gilt besonders in Hinblick auf die Konfliktlinie zwischen den in Marokko starken links-säkularen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen auf der einen und den Islamisten auf der anderen Seite. Diese Dynamik wird sich durch eine islamistische Regierung - wohl zugunsten des Königs - noch verstärken. Der Spielraum der neuen PJD-Regierung ist also weiterhin stark von den königlichen Prärogativen, aber auch durch das Gegengewicht der säkularen und königstreuen Kräfte im Parlament begrenzt.

Schließlich hat sich die PJD trotz aller Kontroversen über konkrete politische Fragen stets als "loyale Opposition" verstanden, die die grundsätzliche Legitimation des Königs anerkennt. Dies wurde auch im Laufe des Jahres 2011 deutlich: Wie alle anderen im Parlament vertretenen Parteien erklärte sie sich nicht solidarisch mit den - im regionalen Vergleich moderaten - Forderungen der prodemokratischen "Bewegung des 20. Februar". Vielmehr betonte der Generalsekretär der PJD und jetzige Premierminister Abdelilah Benkirane vom Frühsommer an wiederholt die zentrale Stellung des Königs für das politische System Marokkos. Mit ihrer Unterstützung der von Mohammed VI. eingeleiteten Reformen, die von der Opposition als "facelifting" geschmäht wurden, und dem Eintreten für die neue Verfassung hat sich die PJD in den Augen der Aktivisten vorläufig als ernstzunehmende pro-demokratische Opposition diskreditiert.


Ägypten: Triumph der ehemaligen Outlaws

Anders als die marokkanische PJD war die 1928 in Ägypten gegründete Organisation der Muslimbrüder seit ihrem Verbot unter Nasser bis zum Sturz des Regimes von Hosni Mubarak illegal. Zwar durften ihre Kandidaten als Unabhängige zu Wahlen antreten, sie wurden jedoch häufig Opfer von Restriktionen und massiver Repression, so zuletzt bei den Parlamentswahlen 2010. Im Frühling 2011 gründeten die Muslimbrüder die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), die die Parlamentswahlen 2011/12 mit rund 43 Prozent der Stimmen deutlich gewann.

Das gute Abschneiden der Muslimbrüder-Partei ist eine direkte Folge der Politik Mubaraks: Zum einen hatte das Regime weitgehend zugelassen, dass die Gruppe seit Ende der 1980er Jahre ihre gesellschaftlichen Aktivitäten verstärkte und ihre Präsenz in den einflussreichen Berufsverbänden und Studentenvereinigungen ausbaute. Mubarak hatte so versucht, den Einfluss der radikalen Islamisten einzudämmen und die Aktivitäten der Muslimbrüder in nichtpolitische Bereiche zu lenken. Tatsächlich konnte die Gruppe jedoch auf diese Weise ihre Anhängerschaft und Infrastruktur ausbauen. In den letzten Jahren entwickelte die Organisation immer stärker professionelle, parteiähnliche Strukturen und unterstützte ihre Abgeordneten beispielsweise mit einem eigenen Think Tank. Parallel zu Mubaraks kontinuierlicher Schwächung des links-säkularen oppositionellen Lagers durch Verbote, restriktive Zulassungsbeschränkungen und Kooptation wurden die Muslimbrüder so zu. "Egypt's only operating party", wie Stacher und Shehata 2006 urteilten.

Zum anderen ist in Ägypten seit längerem eine "Islamisierung von oben" zu beobachten. Bereits unter Präsident Sadat wurde die Scharia in der Verfassung als Hauptgesetzesquelle verankert. Diese Tendenz setzte sich unter Mubarak fort und manifestierte sich im wachsenden Einfluss konservativer Geistlicher in Medien und Rechtsprechung, der Zensur "unislamischer" Publikationen sowie in Gerichtsurteilen und Medienkampagnen gegen säkulare Intellektuelle wie Nasr Hamid Abu Zaid. Auch der Erfolg der fundamentalistisch-salafistischen al-Nour ("Licht-Partei") ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Sie wurde bei den Parlamentswahlen zweitstärkste Kraft.

Die Muslimbruderschaft spricht sich seit Mitte der 1990er Jahre klar für ein demokratisches System mit "islamischem Bezugsrahmen" aus. Im Wahlprogramm der FJP von 2011 wird der islamische Staat als "ziviler", "moderner, demokratischer Verfassungsstaat" definiert. Er ist ausdrücklich "keine Theokratie, in welcher der Klerus herrscht oder im Namen von göttlichem Recht regiert wird". Die FJP legt auch Wert darauf, keine religiöse, sondern vielmehr "die Partei für alle Ägypter" zu sein, und hat mit Rafiq Habib sogar einen koptischen Vize-Vorsitzenden. Was Frauen- und Minderheitenrechte angeht, bleibt die FJP jedoch häufig unkonkret, wie ein Ausschnitt aus dem Wahlprogramm exemplarisch zeigt. Darin verpflichtet sich die Partei, Frauen Zugang zu "allen ihren Rechten" zu garantieren, "solange diese nicht im Widerspruch zu den Werten der islamischen Scharia stehen und eine Balance zwischen [den weiblichen] Pflichten und Rechten erhalten bleibt".

Strukturen innerhalb der FJP und ihrer Mutterorganisation lassen außerdem Zweifel am Bekenntnis zu Transparenz und demokratischer Repräsentanz aufkommen. So wurde die Führung der FJP hinter verschlossenen Türen ernannt und besteht ausschließlich aus etablierten Mitgliedern der Muslimbruderschaft. Weder Frauen noch jüngere Muslimbrüder sind in den höheren Parteigremien vertreten. Auch Reformer wie Moneim Aboul Futuh und viele Aktivisten, die sich an der Revolte gegen Mubarak beteiligt hatten, haben die Partei entweder freiwillig verlassen oder wurden aus formalen Gründen ausgeschlossen.

Kritik und Argwohn unter den pro-revolutionären Kräften hat auch die weitgehend unkritische Haltung der FJP gegenüber dem Hohen Militärrat (Supreme Council of the Armed Forces, SCAF) ausgelöst. Befürchtet wird, dass es zu einer Macht- und Arbeitsteilung zwischen Muslimbrüdern und Hohem Militärrat kommen könnte. Dabei könnten sich die Islamisten, beispielsweise in einer Koalition mit der liberal-konservativen Neuen Wafd-Partei, auf ihre innenpolitischen Kernthemen konzentrieren und unpopuläre außen- und sicherheitspolitische Fragen dem Militär überlassen. Eine Koalition zwischen der FJP und den radikalen Islamisten der al-Nour erscheint dagegen momentan eher unwahrscheinlich - nicht zuletzt wegen der direkten Konkurrenz zwischen den beiden Parteien und ihren gesellschaftlichen Ablegern.


Tunesien: Gemäßigte Kräfte, in einer Koalition gebunden

Tunesien werden von den hier betrachteten Staaten im Allgemeinen die besten strukturellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Demokratisierung zugeschrieben: Es gibt eine breite Mittelschicht, ein hohes Bildungsniveau und eine aktive Zivilgesellschaft. Auch die Akteurskonstellation scheint günstig: Anders als in Marokko und Ägypten gibt es keine Macht wie König oder Militärrat, der eher an der Sicherung des Status quo als an einer Fortführung der Transition interessiert ist. Stärker ist die Konfliktlinie zwischen Islamisten und säkularen und feministischen Kräften. Die unter Ben Ali verbotene islamistische al-Nahda-Partei und ihr populärer Vorsitzender Rashid al-Ghannouchi hatten deshalb bereits im Vorfeld der Wahlen versucht, Ängste vor einer islamistischen Machtübernahme zu zerstreuen und beispielsweise angekündigt, auch im Fall einer regierungsfähigen eigenen Mehrheit ein Bündnis mit einer anderen Partei eingehen zu wollen.

Nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, aus denen die al-Nahda mit über 40 Prozent der Stimmen als Siegerin hervorging, schloss sie sich in einer breiten Koalition mit zwei links-säkularen Parteien (Congrès pour la Republique und Ettakattul) zusammen. Auch in inhaltlichen Fragen gibt sich al-Nahda gemäßigt bis liberal. So distanzierte sich al-Ghannouchi in einem Interview deutlich von jeder Art von salafistischer Ideologie und machte vielmehr deutlich, dass seine Partei weder ein Alkoholverbot noch Einschränkungen des Tourismus oder einen Schleierzwang befürworte und das liberale zivile Familienrecht von 1954 nicht anrühren wolle. Kritiker weisen jedoch auf eine Kluft zwischen der relativ liberalen Parteiführung und einer deutlich konservativeren Basis hin. Von Beginn der Revolte an machten deshalb Menschen- und vor allem Frauenrechtsgruppen mobil gegen eine mögliche Einschränkung der individuellen Rechte im Falle eines islamistischen Wahlsiegs.

Wie der Vergleich zeigt, ergeben sich je nach Land unterschiedliche Implikationen aus den islamistischen Wahlsiegen. In Marokko ist der Spielraum der PJD klar durch die Einflussmöglichkeiten des Königs beschränkt. Dies macht einerseits eine Islamisierung der politischen Sphäre und eine Abkehr vom eingeschlagenen Pfad der gesellschaftlichen Modernisierung unter Mohammed VI. unwahrscheinlich. Gleichzeitig scheint erst einmal die Chance auf tiefergreifende demokratische Reformen vertan zu sein. In Tunesien muss sich dagegen zeigen, ob sich die Konfliktlinie zwischen Islamisten und links-säkularen Kräften im Verlauf der Verfassungsreform wieder verschärft. Eine Rückkehr zu einem autokratischen System - auch zu einem islamistischen - ist hier aber wohl ausgeschlossen.

In Ägypten ist der Fortgang der Transition dagegen ungewiss und wird wesentlich vom Handeln der einzelnen Akteure abhängen. Zunächst steht in Frage, ob der Hohe Militärrat tatsächlich wie angekündigt im Frühsommer die Macht an einen zivilen Präsidenten abgeben wird. Die FJP könnte hier entweder die öffentliche Stimmung gegen den Militärrat aufgreifen und eindeutig gegen das Militär Stellung beziehen oder eine Interessenkoalition mit den Offizieren eingehen. Weiterhin muss sich erst noch zeigen, wie sich die FJP zur fundamentalistischen Konkurrenz der al-Nour auf der einen und zu den nichtislamistischen Parteien auf der anderen Seite positionieren wird. Auch im marokkanischen Fall bleibt abzuwarten, ob die PJD mit ihrer neuen Stärke und dem wiedererwachten islamistischen Selbstbewusstsein in der Region nicht dem König gegenüber kritischer wird, vor allem wenn es zu einem Wiederaufflammen der Proteste kommen sollte.


Sophie Grünwald, Politikwissenschaftlerin und Arabistin, ist seit Herbst 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen. Sie arbeitet unter anderem über Autokratien und Islamismus im Nahen Osten und in Nordafrika.
gruenwald@wzb.eu


Literatur

Grünwald, Sophie: Zwischen Inklusion, Tolerierung und Repression: Moderate islamistische Parteien in Marokko, Jordanien und Ägypten (unveröffentlichte Magisterarbeit). Heidelberg 2010.

Lust-Okar, Ellen/Amaney, Jamal Ahmad: "Rulers and Rules: Reassessing the Influence of Regime Type on Electoral Law Formation". In: Comparative Political Studies, Vol. 35, No. 3, 2002, S. 337-366.

Levitsky, Steven/Way, Lucan A. 2002: "Elections Without Democracy. The Rise of Competitive Authoritarianism". In: Journal of Democracy, Vol. 13, No. 2, 2002, S. 51-66.

Schedler, Andreas (Ed.): Electoral Authoritarianism. The Dynamics of Unfree Competition. Boulder/London: Lynne Rienner 2006.

Shehata, Samer/Stacher, Joshua A.: "The Brotherhood Goes to Parliament". In: Middle East Report Nr. 240, 2006, S. 32-39.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 135, März 2012, Seite 42-45
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2012