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NAHOST/943: Tunesien - Interview mit dem Staatssekretär für Reformen, Said Mechichi (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. September 2012

Tunesien: 'Die schwierigste Arbeit kommt nach der Revolution' - Interview mit dem Staatssekretär für Reformen, Said Mechichi

von Lawrence Del Gigante



New York, 18. September (IPS) - Nach der Revolution, die im Januar 2011 zum Sturz des langjährigen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali führte, will Tunesien jetzt die schweren Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten und die politisch-administrativen Schwächen beheben. "Die schwierigste Arbeit kommt nach der Revolution", meint Said Mechichi, Staatssekretär für Reformen im tunesischen Innenministerium.

Die neue Regierung hat bereits Sonderkommissionen ins Leben gerufen, die die während des Volksaufstandes begangenen Übergriffe untersuchen sollen. Unterstützt wird die Arbeit von einem eigens eingerichteten Ministerium für Übergangsjustiz und Menschenrechte. Das nordafrikanische Land will zudem gegen die Straffreiheit vorgehen und Korruption und die mangelnde Unabhängigkeit der tunesischen Justiz bekämpfen.

Staatssekretär Mechichi ist Mitglied der Tunesischen Vereinigung für den Schutz der Menschenrechte und des Nationalen Rats für bürgerliche Freiheiten. Außerdem ist er Direktor des Zentrums für die Unabhängigkeit der Justiz und der Rechtsberufe und Gründungsmitglied der Tunesischen Vereinigung gegen Folter. Darüber hinaus gehört der Rechtswissenschaftler dem Juristenkomitee der tunesischen Sektion von 'Amnesty International' an.

Im Interview mit IPS sprach er über die wichtigen Schritte, die eine Kultur des Friedens in Tunesien garantieren sollen, sowie über die Probleme, die das Land derzeit meistern muss.

IPS: Welche Rolle spielt Vertrauen bei der Wiederherstellung der Rechtsordnung?

Said Mechichi: Die Frage ist mehr als berechtigt. Warum ist die Revolution ausgebrochen? Sie ist ein Protest gegen die Institutionen des Regimes, die jede Glaubwürdigkeit verloren haben.

Die Revolution zeigt den fehlenden Link zwischen den Institutionen und den Bürgern. Die wichtigste Maßnahme, die es in der post-revolutionären Zeit zu ergreifen gilt, ist die Wiederherstellung des Vertrauens in die Institutionen - in die Justiz, die Medien, die sozialen und wirtschaftlichen Institutionen und in die staatlichen Akteure - vom Beamten in der öffentlichen Verwaltung bis hin zum Staatspräsidenten.

Vertrauen muss aufgebaut werden, damit wir zunächst auf die Grundbedürfnisse der Menschen eingehen können. In der nächsten Phase müssen Justiz und Arbeitsmarkt reformiert werden. Es ist wichtig, Arbeitsplätze zu schaffen, Gesetze zu reformieren und diejenigen Stellen einer Überprüfung zu unterziehen, die die Arbeit der Institutionen steuern. Auf allen Gebieten muss eine neue Kultur propagiert werden, damit die Kultur des vorangegangenen Regimes überwunden werden kann.

IPS: Was geschieht in Tunesien auf der Graswurzelebene von einem humanitären Gesichtspunkt aus betrachtet?

Mechichi: Die Menschen, die die Revolution losgetreten haben, genießen einige Vorteile, weil sie eine Verbesserung ihrer sozio-ökonomischen Lage verlangt hatten. Seit Beginn der Revolution hat es keine Demonstrationen für Arbeitsplätze und eine Verbesserung der Situation mehr gegeben.

Natürlich sind wir bemüht, die Forderungen zu erfüllen. Auch ist uns sehr daran gelegen, die für die Entwicklung des Landes vorgesehenen Haushaltsgelder sinnvoll einzusetzen. Dabei kooperieren wir mit befreundeten Staaten und darauf spezialisierten Behörden.

Leider gibt es sehr viele Forderungen. Viele beziehen sich auf grundlegende Bedürfnisse wie den Zugang zu Wasser, Strom, Straßen und einer Grundausstattung für die Arbeit der Behörden. Wir versuchen die Defizite zu beheben. Wir erwarten eine Besserung der Lage und die Bereitstellung von Ressourcen und Unterstützung durch Geber und Organisationen.

IPS: Welche Hindernisse stehen einer Kultur des Friedens im Wege?

Mechichi: Das größte Problem ist der Abbruch des Dialogs zwischen den wichtigsten Parteien und den Akteuren. Auch mangelt es an Fortschritten im Entwicklungsbereich. Die Menschen werden möglicherweise die Hoffnung verlieren und auf unberechenbare und unerwartete Weise reagieren. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.amnesty.org/en/region/tunisia
http://www.ipsnews.net/2012/09/qa-the-more-difficult-task-came-after-the-revolution/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 18. September 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2012