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NAHOST/960: Syrien - Oppositionelle organisieren vom Ausland aus neue Zivilverwaltung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Dezember 2012

Syrien:
Hilfe aus Istanbul - Oppositionelle organisieren vom Ausland aus neue Zivilverwaltung

von Shelly Kittleson



Sarmin, Syrien, 4. Dezember (IPS) - Mehr als 40.000 Menschen sind bereits im Bürgerkrieg in Syrien getötet worden, weitere 400.000 über die Grenzen ins Ausland geflohen. Da es an Finanzmitteln für zivile Hilfsprojekte in den von der bewaffneten Oppositionsgruppe Freie Syrische Armee (FSA) kontrollierten Gebieten mangelt, wird es schwierig, die dort lebende Bevölkerung zusammenzuhalten und die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

Zahlreiche Gruppen junger syrischer Aktivisten pendeln zwischen Istanbul und den von der FSA kontrollierten Städten, um lokale Verwaltungsräte zu gründen, die den Menschen vor dem Wintereinbruch grundlegende Dienstleistungen anbieten sollen. Strom ist in der Region knapp, und die Zivilbevölkerung leidet unter fortgesetzten Bombenangriffen. Die Gruppen handeln in Absprache mit Medizinern in den Grenzgebieten und FSA-Mitgliedern und halten regelmäßig den Kontakt zu ausländischen Botschaften, privaten Gebern und der Bevölkerung.

Abdullah Labwani, der Neffe des bekannten Dissidenten Kamal Labwani, kooperiert mit der in Istanbul ansässigen Nichtregierungsorganisation 'Civil Administration Council' (CAC). Vor dem Volksaufstand hatte der 27-Jährige als Architekt gearbeitet und an der Universität von Damaskus unterrichtet. Von Istanbul aus bleibt er in Kontakt mit Landsleuten in Syrien und versucht zugleich westliche Diplomaten davon zu überzeugen, Geld für Medikamente, Nahrung und Kommunikationsmittel zusammenzubringen.

Anfang November fuhr Labwani in die Stadt Sarmin in der nordwestsyrischen Provinz Idlib, wo vor der Revolte mehr als 20.000 Menschen lebten. Tausende sind seither vor den Kämpfen geflogen. Bis März dieses Jahres wurden 318 Häuser, 87 Geschäfte sowie Lagerräume, Apotheken und Moscheen von den syrischen Regierungstruppen zerstört.


Zivilisten bei Sammelexekutionen ermordet

Wie die Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' feststellte, wurden im Osten und Süden der Provinz mindestens 95 Menschen getötet, zumeist bei Sammelexekutionen. Hajj Hussein, der in Sarmin wohnt, musste erleben, dass drei seiner Brüder aus ihren Häusern geholt wurden. Nachdem Soldaten ihnen die Hände hinter dem Rücken fesselten, wurden sie vor den Augen ihrer Mutter erschossen und verbrannt. Damit wollte das Regime den Bewohnern der Stadt eine 'Lektion' erteilen.

Seit Ende März steht Sarmin unter der Aufsicht der FSA. Die Umgebung der Stadt wird aber weiterhin von der Regierungsarmee angegriffen. Oft kreisen Hubschrauber über dem Gebiet. Wie bekannt wurde, wirft das Militär viele Rohrbomben und Clustermunition über der Provinz ab.

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BU: Mitglied der Freien Syrischen Armee am Ortseingang von Sarmin
Bild: © Shelly Kittleson/IPS

BUBL: Mitglied der Freien Syrischen Armee am Ortseingang von Sarmin - Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Die Zivilisten müssen sich mit Taschenlampen, Kerzen, Öllampen und Generatoren behelfen, wenn die Elektrizitätsversorgung wie so häufig ausfällt. Sie können bereits froh sein, wenn sie ein oder zwei Stunden am Tag Strom haben. Alle stürzen dann zum Fernsehen, um die neuesten Nachrichten zu sehen, und laden ihre Telefonakkus auf.

Während Generatoren lärmen, treffen sich etwa 20 bis 25 Männer, die ein Gremium bilden wollen, in einem Keller in Sarmin. Labwani hat einigen von ihnen in Aussicht gestellt, Fortbildungskurse in Istanbul besuchen zu können, wenn CAC die notwendigen Gelder zusammenbringt.

Einige Anwesende, die süßen Tee und türkische Coca-Cola trinken, tragen traditionelle rot-weiße Kopftücher ('Kefije'). Ein Imam und ein Arzt kommen in wallenden Gewändern. Die meisten Männer, die in den Zwanzigern sind, haben Jeans an, und die Älteren tragen westliche Hosen und Hemden. Manche stehen in engem Kontakt zur FSA und haben Walkie-Talkies bei sich.

Kontrovers wird darüber diskutiert, ob FSA-Mitglieder an solchen Initiativen beteiligt werden können und welche Rolle sie in einer zivilen Verwaltung spielen könnten. Ausländische Botschaften, die gewillt sind, Fonds einzurichten, verlangen eine klare Trennung zwischen Hilfsinitiativen für Zivilisten und Militärangehörige. FSA-Kommandeure sind wiederum der Ansicht, dass sie höhere Positionen in den lokalen Behörden verdienen.


FSA-Kämpfer verlangen mehr Waffen

In dem nahe gelegenen Dorf Ta'um, einst Heimat von etwa 7.000 Menschen, sind nur 2.000 geblieben. In der Ortschaft nahe der Militärbasis Taftanas halten sich zurzeit vor allem FSA-Kämpfer auf. Auf den Straßen liegen Schutt, explodierte Bomben und Blindgänger, dazwischen streunen Katzen umher. Auch auf Ta'um fallen nach wie vor Bomben, wie auf bis zu 200 weitere Städte in Syrien.

FSA-Mitglieder haben wiederholt mehr Waffen gefordert. Wenn sie diese rasch genug bekämen, könnten sie verhindern, "dass große Mengen Lebensmittel und andere Hilfe von auswärts kommen müssen", sagte einer der Kämpfer namens Abu Jassir.

Da Waffenlieferungen an nichtstaatliche Truppen in den vergangenen Jahrzehnten viele negative Folgen hatten, sehen es politische Beobachter als unwahrscheinlich, dass westliche Länder der FSA direkt größere Mengen an Waffen zukommen lassen, solange die Syrische Nationalkoalition nicht als Exilregierung anerkannt ist und die FSA ihre bisherige Kommandostruktur beibehält.

Die Syrische Nationalkoalition, der am 11. November in Doha im arabischen Emirat Katar gegründet wurde, ersetzt den Syrischen Nationalrat und wird bislang als "einziger legitimer Repräsentant" des syrischen Volkes vom Kooperationsrat der Arabischen Golfstaaten, Frankreich, der Türkei und Großbritanniens anerkannt. (Ende/IPS/ck/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/12/free-syria-faces-tough-times/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2012