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NAHOST/991: Libyen - Amazigh, mit der eigenen Revolution zu politischer und kultureller Anerkennung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Juni 2013

Libyen: Mit der eigenen Revolution zu politischer und kultureller Anerkennung - Amazigh hoffen auf den Wandel

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Amazigh demonstrieren in Zwara im Nordwesten Libyens für Rechte und Anerkennung
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Girke Lege, Syrien, 27. Juni (IPS) - Gut 40 Jahre lang hatte die Volksgruppe der Amazigh in Libyen unter der radikalen Arabisierung von Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi gelitten. Doch seit dem Sturz des Diktators sind sie dabei, "die verlorenen Jahre aufzuholen".

Die Amazigh oder Berber sind eine Volksgruppe, die im Norden Afrikas - von der marokkanischen Atlantikküste bis zum westlichen Ufer des Nils in Ägypten - zu Hause ist. Doch die Ankunft der Araber im siebten Jahrhundert führte zu einem voranschreitenden Prozess der Arabisierung, der in Libyen durch Gaddafi erheblich beschleunigt wurde.

"Politische Gefangene wurden hingerichtet oder wegen Volksverhetzung, Separatismus oder 'Spionage für Israel' lebenslang ins Gefängnis gesteckt. Und das nur, weil sie sich in unserer Sprache ausgedrückt hatten", sagt Mazigh Buzakhar, Mitbegründer von 'Tira', einer Organisation, die sich für die Entwicklung der Sprache und Kultur der Amazigh einsetzt. "Unser archäologisches und religiöses Erbe - wir Amazigh sind Ibaditen - wurde ausgemerzt." Der Ibadismus ist eine moderate und tolerante Strömung des Islam.

Buzakhar selbst saß hinter Gittern, und die Bücher seiner privaten Bibliothek wurden vom damaligen Geheimdienst beschlagnahmt. "Gaddafis arabisch-islamistische Politik konzentrierte sich darauf, jedes Bevölkerungswachstum unserer Volksgruppe zu verhindern."

Fathi Ben Khalifa ist ein weiterer bekannter Amazigh-Dissident aus Libyen. Er lebte 16 Jahre in Marokko. Als Gaddafi seine Auslieferung forderte, floh er in die Niederlande. 2011 wurde er zum Präsidenten des Welt-Amazigh-Kongresses gewählt, einer internationalen Organisation mit Sitz in Paris, die seit 1995 für den Schutz der Amazigh-Identität eintritt.


Von Rebellen enttäuscht

Ben Khalifa war zudem vorübergehend Mitglied des Übergangsrats (NTC) - der von Rebellenführern geleiteten libyschen Parallelregierung. Er verließ die Organisation jedoch noch vor dem Ende des Bürgerkriegs aufgrund "unüberbrückbarer Differenzen". "Im August 2011 beschlossen wir, unsere Beziehungen zum NTC abzubrechen, weil wir erkannten, dass sie nicht die Absicht haben, uns und unsere Sprache anzuerkennen", erläutert Ben Khalifa im Gespräch mit IPS.

Doch die Anerkennung durch die Verfassung, wie sie sich die Amazigh wünschen, wird wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. "Die Krux ist, dass keiner genau weiß, was für eine Verfassung das libysche Volk haben will", meint Ben Khalifa. "Das erklärt auch, warum die Mitglieder des Ausschusses, die die neue Verfassung schreiben sollen, noch nicht einmal bestätigt worden sind."

Am Ende der Amazigh-Revolution müsse eine moderne und weltliche Verfassung stehen. Doch Ben Khalifa zufolge verhindern Differenzen zwischen den unterschiedlichen ethnischen Lagern in vielen Teilen Libyens jede Normalisierung der politischen Lage.

Trotz aller ungelösten Probleme, die den libyschen Übergang auszeichnen, sind die Amazigh zuversichtlich und voller Tatendrang. "Wir kommen immer weiter voran", bestätigt Ben Khalifa. "Unsere Sprache, das Tamazight, wird bereits an unseren Schulen unterrichtet. Wir werden keinesfalls Zeit verschwenden, nur weil ein Teil der libyschen Gesellschaft noch nicht soweit ist. Wir sind nicht bereit, noch länger zu warten."


Parallelen zu den Kurden in Syrien

Nicht nur die libyschen Amazigh, auch die syrischen Kurden haben eine Renaissance ihrer Kultur erlebt, indem sie das Joch des herrschenden Regimes abschütteln konnten. Davon zeugt die Entstehung kurdischer Parteien, Schulen und Zeitungen. Während die Amazigh in Libyen zu der Verwendung der angepassten Form ihres alten Alphabets zurückgekehrt sind, haben die syrischen Kurden das lateinische Alphabet erlernt, damit sie in Kurmanji schreiben können, der Sprache, die auch die türkischen Kurden sprechen.

Die Kurden sind mit 40 Millionen Menschen das größte staatenlose Volk der Welt. In Syrien stellen sie mit drei Millionen die größte Minderheit und können es zahlenmäßig sogar mit den Alawiten aufnehmen, der ethnisch-religiösen Gruppe, der der syrische Präsident angehört. Die Kurden leben vorwiegend in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak.

Als 1963 in Syrien die Baath-Partei an die Macht kam, sahen sich auch dort die Kurden einer systematischen Arabisierung unterworfen. Sie wurden mit dem Verbot belegt, ihre Sprache zu praktizieren. Vielen wurde die syrische Staatsbürgerschaft verwehrt. Andere wurden deportiert und arabische Siedlungen in den Kurdengebieten gebaut.

In Syrien hat der fortgesetzte blutige Religionskonflikt die Kurden dazu veranlasst, den 'dritten Weg' zu gehen, das heißt, sich die arabischen Rebellen und die Assad-Streitkräfte gleichermaßen auf Distanz zu halten. "Sie mögen es glauben oder nicht - unsere Region ist die einzige im Land, die trotz der zunehmenden Intervention ausländischer Kräfte den Willen des syrischen Volkes respektiert", meint Salih Muslim, der Führer der Demokratischen Unionspartei (PYD), im IPS-Gespräch.

Die PYD ist die stärkste politische Kraft der Kurden in Syrien und steht ideologisch der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) nahe, der bewaffneten Bewegung, die für Rechte und Anerkennung der Kurden in der Türkei eintritt.

Auch Muslim fordert die "verfassungsmäßige Anerkennung der Kurden in Syrien", das Ziel, das die Amazigh in Libyen ebenfalls verfolgen. "Denn", so Ben Khalifa, "wie kann ich Teil eines Landes sein, das meine Existenz nicht anerkennt?" (Ende/IPS/kb/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/06/creating-their-own-spring/

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IPS-Tagesdienst vom 27. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2013