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OSTEUROPA/353: Ungarn verabschiedet sich von der Demokratie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011

Chauvinismus - aufgewärmt
Ungarn verabschiedet sich von der Demokratie

Von Peter Stiegnitz


Das neue "Mediengesetz" der Regierung von Viktor Orbán in Ungarn hat viele aufgeschreckt. Es stellt aber nur einen Teil der spürbaren Rechtswendung dar, die sich gerade in dem Mitgliedsland der EU vollzieht.


In Ungarn wurde immer schon etwas aufgewärmt. Am liebsten, weil es angeblich so am besten schmeckt: Gulyás (eigentlich eine Suppe) und Sekler-Kraut (mit Fleischfüllung). Und das ist gut so. Schon bedeutend weniger gut ist das jetzige "Aufwärmen" des alten ungarischen Chauvinismus. Seit die rechts-nationalistische Fidesz-Partei des Viktor Orbán im Frühjahr 2010 die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament errang, wird die Demokratie im Land immer kleiner geschrieben.

Orbán kannte von Anbeginn an keine politische Rücksicht. Der stets rückwärtsgewandte Premier krempelte nach seinem fulminanten Wahlsieg die gesamte Verfassung des Landes im Rekordtempo um. Sein erster Schritt war die Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofes. Westlichen Medien gelang es vorab aus einem Arbeitspapier der Verfassungsänderung zu zitieren: demzufolge wären eine Rückbesinnung auf Ungarns Historie, eine starke Stellung des Präsidenten und eine schwache Stellung des Verfassungsgerichts für die neue Verfassung charakteristisch". Diese neue Verfassung kann zudem jederzeit mit der parlamentarischen Mehrheit der Fidesz nach Orbáns Gutdünken geändert werden.

An Stelle eines realistischen Wirtschaftsplanes, statt der Schaffung neuer Arbeitsplätze beschäftigt sich die Regierung mit dem "Schandvertrag von Trianon" aus dem Jahre 1920. So spricht der Staatssekretär im Außenministerium, Gergely Pröhle, vom "Trianon als gemeinsames Trauma der Ungarn". Damals hat das Land tatsächlich drei Viertel seines Territoriums verloren, seither leben in den benachbarten Ländern 1,5 Millionen Ungarn in Rumänien, 530.000 in der Slowakei, 300.000 in Serbien, 160.000 in der Ukraine, 16.000 in Slowenien, 15.000 in Kroatien und einige Tausend im österreichischen Burgenland. So sieht man heutzutage in Ungarn immer mehr Landkarten mit den "historischen Grenzen Großungarns". Und das nicht nur im Land selbst. Während der EU-Ratspräsidentschaft Ungarns hat die Regierung im Brüsseler Ratsgebäude einen Teppich mit dem Abbild "Großungarns" auflegen lassen. Der 202 Quadratmeter große Teppich zeigt auch die Karte des Landes aus dem Jahr 1848. Völlig zu Recht wies der rumänische EU-Abgeordnete Ioan Mircea Pascu auf der Internetplattform euobserver darauf hin, dass die EU-Mitglieder Grenzen abbauen und nicht bedauern sollten.

Bedeutend größer als der "Teppich-Skandal" während des EU-Ratsvorsitzes war das neue Mediengesetz, die Knebelung der ungarischen Medien durch die Orbán-Regierung. Am Anfang des Endes der Pressefreiheit stand ein brandneues Amt, die "Medienaufsichtsbehörde" (NMHH). Zunächst wurden die drei öffentlich-rechtlichen Anstalten - Ungarisches Fernsehen (MTV), DunaTV und Ungarisches Radio (MR) - nicht nur der NMHH, sondern auch einem Programm- und Vermögensverwaltungsfonds (MTVA), der künftig sämtliche Programme produziert und über die gesamte finanzielle Gebarung verfügt, unterstellt.

Die beiden Kontrollorgane haben eine einzige Präsidentin, die auf neun Jahre bestellte Orbán-Vertraute, Annamária Szalai. Gleichzeitig wurde in einer Nacht- und Nebelaktion nahezu die gesamte Spitze der öffentlich-rechtlichen Medien mit bewährten Fidesz-Gefolgsleuten ersetzt. Sämtlichen elektronischen und Printmedien, die gegen das neue Gesetz handeln, drohen Strafen bis zu 730.000 Euro. Die internationalen Medien warfen dem neuen Gesetz eine "Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit" vor. Auch die zuständige EU-Kommissarin Neelle Kroes schickte einen geharnischten Brief nach Budapest, in dem die ungarische Regierung auf die Unvereinbarkeit ihres neuen Gesetzes mit der EU-Richtlinie aufmerksam gemacht wurde. Und die Reaktion aus Budapest? Orbáns Stellvertreter, Tibor Navracsics, sprach von einer "unbegründeten Hysterie der Kritiker". Annamária Szalai ist davon überzeugt, dass sich "hinter der westeuropäischen Kritik ausschließlich wirtschaftliche und politische Interessen verbergen".

Die EU-Kommission kündigte an, das neue Mediengesetz zu prüfen. Bei Verstößen gegen das EU-Recht muss Ungarn die Gesetze abändern. Nach einem ausführlichen Gespräch mit EU-Kommissionspräsidenten Barroso versicherte Orbán seine Bereitschaft, die umstrittene Medienaufsicht abzuändern, sollten Teile davon nicht im Einklang mit den EU-Grundrechten stehen. Wie mächtig die Orbán-Vertraute ist, bewies der etwas unbeholfene Fidesz-Abgeordnete im Parlament, Antal Rogán, der vorschlug, Frau Szalais Weisungen "auf Verfassungsrang zu heben".

Die Reaktion auf den Versuch, die Pressefreiheit zu knebeln, blieb auch im Land selber nicht aus. So behauptet der bekannte ungarische Philosoph János Kiss, dass "Orbán mit diesem Gesetz den Rubikon überschritt und es keinen Zurück mehr geben wird." Auch der Budapester Jurist und Experte für die Meinungsfreiheit, Péter Molnár, zitierte in einem Artikel der Zeitung Népszabadság die Errungenschaften der ungarischen Revolutionen von 1848 und 1956, deren wichtigstes Ziel die Freiheit der Medien war. Im Gegensatz zu der jetzigen Rechtslage wurde 1996 ein Mediengesetz vom Parlament verabschiedet, welches die notwendigen Kontrollen der elektronischen und Printmedien auf ein Mindestmaß beschränkt hatte. Heute geht man in Ungarn den umgekehrten Weg.


Richtung "Neo-Faschismus"?

Am rechten Rand (auch) des ungarischen Chauvinismus blüht der Neo-Faschismus. Dieser ernährt sich zwar aus den altbekannten Quellen des Faschismus der Zwischenkriegszeit, doch zeigt er zahlreiche neue Facetten. Vor allem fehlt dem jetzigen Rechtsextremismus die regierungspolitische Machtergreifung und der verordnete, offene Rassismus. Schon aus diesem Grund wäre es falsch, die Orbán-Regierung als eine faschistische zu bezeichnen. Hingegen erleben wir im heutigen Ungarn neofaschistische Tendenzen relativ breiter Bevölkerungsschichten. Genau diese mit der tristen wirtschaftlichen Situation unzufriedenen Menschen sorgten als Wähler für den großen Erfolg der neofaschistischen Jobbik-Partei mit ihrer berüchtigten "Ungarischen Garde", die heute hinter Fidesz und den Sozialisten die drittstärkste Fraktion im Parlament ist.

Die fühlbare Rechtswendung in Ungarn wird von vielen Magyaren getragen, die Sehnsucht nach einem "politischen Führer mit starker Hand" verspüren. Genau diesem Wunsch will Orbán entsprechen, da er weiß, dass die frustrierten Menschen mit "Demokratie und Rechtstaatlichkeit" nicht viel anfangen wollen.

Die soziologische Struktur der rückwärtsgewandten, in ihrer Mentalität tiefreaktionären Fidesz-Anhänger ist dreigegliedert:

• Den Kreis der Aktivisten kennen wir aus Medienberichten. Als Mitglieder der "Ungarischen Garde" wüten sie gegen Roma, Sinti und Lovara; auch vor antisemitischen Aktionen schrecken sie nicht zurück. Obwohl ihre Trägervereine bereits mehrmals gerichtlich verboten wurden, marschieren sie ungehemmt weiter; sie verbreiten einschlägige Bücher und Zeitschriften und provozieren mit Nazi-Sprüchen.

• Dieser Kreis der Aktivisten wird vor allem von den Mitläufern unterstützt. Im Gegenteil zu den "Aktivisten" greifen diese nie zu Waffen und Schlagstöcken, dafür nehmen sie an der Erstellung neofaschistischer Publikationen regen Anteil.

• "Aktivisten" und "Mitläufer" erhalten von ihren Sympathisanten eine starke politische Legitimation. Die "Sympathisanten" verniedlichen, soweit es möglich ist, das Werk der "Aktivisten" und "Mitläufer", indem sie unentwegt eine gewisse politische Berechtigung des Rechtsextremismus verbreiten. Im Gegensatz zu den mehr oder weniger objektiven Beobachtern und Analytikern der neofaschistischen Szene suchen die "Sympathisanten" pausenlos nach Entschuldigungsgründen. Die immer größer werdende Schar der "Sympathisanten" finden wir nicht nur bei den alkohol-geschwängerten Wirtshausdiskussionen, sondern auch in klein- und gutbürgerlichen Salons und Kaffeehäusern.

Die meisten "Sympathisanten" gehören zu den Wirtschaftsverlierern des Mittelstandes. Der neofaschistische Fremdenhass gleicht einem Buffet: Wird gegen bestimmte Minderheiten losgezogen, kann jeder aus dem Angebot das aussuchen, was ihm am meisten zusagt. Diese "Sympathisanten" des Neofaschismus ähneln in ihrer Ideologie frappant ihren Vorgängern in der Zwischenkriegszeit: Sie sind antiliberal, huldigen einem Führerprinzip und einem gewissen Totalitätsanspruch, sind häufig armeefixiert, frönen einem unbestimmten rationalisierten Mystizismus und zeigen einen ausgesprochenen Expansionsdrang.


Peter Stiegnitz (* 1936) Professor (em.) an der Universität Budapest, war Auslandskorrespondent (u.a. für die Tribüne - Zeitschrift zum Verständnis des Judentums) und wissenschaftlicher Schriftsteller.
(peter.stiegnitz@chello.at)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011, S. 39-41
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2011