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OSTEUROPA/354: Weissrussland - Ware Mensch, Politische Häftlinge für IWF-Kredite freigelassen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. September 2011

Weissrussland: Ware Mensch - Politische Häftlinge für IWF-Kredite freigelassen

Von Robert Stefanicki


Warschau, 27. September (IPS) - Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko hat in den vergangenen Wochen die meisten politischen Gefangenen freigelassen, um an Darlehen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu kommen. Nur noch etwa ein Dutzend von Lukaschenkos Gegnern befinden sich zurzeit in Haft, darunter seine Herausforderer bei den Wahlen im Dezember 2010.

Politische Beobachter warnen vor der Annahme, in dem osteuropäischen Land sei Tauwetter angebrochen. Die Regierung habe lediglich ihre Strategie geändert, warnen sie. Nach Angaben eines der freigelassenen Dissidenten, Alexander Atroschenko, bezeichnen die Wärter die Häftlinge als "Geiseln" und "Waren", die gegen Kredite eingetauscht würden.

"Lukaschenko hofft im Gegenzug für die Freilassung der Häftlinge auf eine IWF-Kreditlinie", sagte der Wirtschaftsexperte Jaroslaw Romanschuk. "Er braucht dringend sechs Milliarden US-Dollar, um die Lage im Land zu stabilisieren. Andernfalls muss er Teile des staatlichen Vermögens an Russland verkaufen."

Weißrussland mit seinen etwa zehn Millionen Einwohnern erlangte 1991 die Unabhängigkeit von der früheren Sowjetunion. Seit 1994 herrscht Lukaschenko in Minsk mit eiserner Faust. Das Land macht derzeit eine schwere Schuldenkrise durch. Das Handelsdefizit übersteigt mittlerweile sieben Milliarden Dollar, und die Inflationsrate wird bis Ende des Jahres voraussichtlich hundert Prozent erreichen.


Panikkäufe wegen Geldabwertung

Nach der Abwertung des weißrussischen Rubels ist das monatliche Durchschnittseinkommen von 450 auf 200 Dollar gesunken. Die Einkaufszentren in Minsk erleben einen regelrechten Käuferansturm. Die Menschen geben in Panik ihr Geld aus, bevor es noch weiter an Wert verliert.

"Die Geschäfte sind voll, doch die ständig steigenden Preise sind ein ernstes Problem", sagte eine Studentin aus der Hauptstadt. "Importwaren wie Kosmetika sind kaum noch erhältlich. Und die Leute bauen jetzt Gemüse in Kleingärten an und machen es für den Winter ein."

Viele Weißrussen werden unfreiwillig zu Vegetariern. In einigen Landesteilen gibt es bereits keine Fleischvorräte mehr. Die Behörden geben die Schuld daran den Russen, die wegen des günstigen Umtauschkurses angeblich alle Geschäfte leerkaufen. Die Nachbarn sollen in Weißrussland außerdem massenweise günstige Antibiotika und Viagra eingekauft haben, bis das Gesundheitsministerium anordnete, die Medikamente nur noch auf Rezept auszugeben.

"Die Wahrheit ist, dass die staatlichen Fleischfabriken wegen des Währungsverfalls lieber an Russland liefern", erklärte der Journalist Andrzej Potschobut, der nahe der Grenze zu Polen lebt. Oft würden die Waren auch an Mittelsmänner verkauft, die sie dann zum doppelten oder dreifachen Preis auf dem freien Markt anböten.

Um Massenproteste zu verhindern, versucht Lukaschenko die Auswirkungen der Krise abzumildern. Unter anderem versprach er Rentnern höhere Altersbezüge und Studenten eine freie Beförderung im Nahverkehr. Unabhängige Experten sind jedoch davon überzeugt, dass die Wirtschaft des Landes nur noch durch ausländische Darlehen vor dem Zusammenbruch gerettet werden kann.

"Vergangenes Jahr hat der IWF Minsk 2,3 Milliarden Dollar bereitgestellt", sagte Romanschuk. "Europäische Politiker erwarteten im Gegenzug faire Wahlen. Lukaschenko hat jedoch die Wahlen manipuliert und seine Rivalen hinter Gitter gebracht." Nachdem die EU Sanktionen gegen Weißrussland verhängt habe, versuche Lukaschenko nun Kredite von Russland, China, Katar und sogar Kuba zu bekommen.


China treibt Joint-Ventures voran

Anfang September pumpte China durch Joint-Ventures eine Milliarde Dollar in das Land. Peking beteiligt sich am Bau eines Satelliten, einer Papierfabrik und eines Hotels in Minsk. "Wir sind dankbar für eure Unterstützung in der Taiwan- und Tibetfrage, ebenso wie bei den so genannten Menschenrechten", erklärte Wu Bango, der Vorsitzende des ständigen Ausschusses des Chinesischen Volkskongresses.

Im Juni versprach die von Moskau kontrollierte Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft Weißrussland drei Milliarden Dollar in den kommenden drei Jahren. Für Lukaschenko würde diese Geldspritze allerdings zu spät kommen. Die Regierung in Moskau könnte Minsk schneller helfen, jedoch sind die Beziehungen zwischen den beiden Staaten gespannt.

Die Russen haben großes Interesse daran, sich strategisch wichtige Unternehmen in dem Nachbarstaat anzueignen. Lukaschenko ist in dem Punkt zurückhaltend, weil er durch einen solchen Ausverkauf seine eigene Position schwächen würde. Der Präsident fürchtet offenbar, von Russland aus dem Amt gehebelt zu werden, wenn die Schlüsselindustrien den Besitzer wechseln würden.


Russland will wirtschaftlichen Einfluss ausbauen

Am wahrscheinlichsten ist, dass Russland Weißrussland nach und nach aufkaufen wird. Der stellvertretende Regierungschef in Minsk, Sergej Rumas, kündigte kürzlich an, dass sich die Regierung eine Milliarde Dollar von der russischen Sberbank leihen wolle. Als Garantie wird Moskau die Anteilsmehrheit an der großen Erdölraffinerie Naftan geboten.

Nach Einschätzung der Experten könnte nur der Westen eine russische Übernahme der weißrussischen Wirtschaft verhindern oder zumindest verzögern. "Ich denke, dass Lukaschenko vor dem Besuch der IWF-Delegation im Oktober alle politischen Gefangenen bis auf zwei oder drei freilassen wird", meinte Romanschuk. "Er weiß gut, dass er ansonsten keine Chance auf Darlehen hat. Wenn der IWF ihm Kredite zusagt, wird er auch die letzten Gegner begnadigen."

Der Leiter der IWF-Mission in Weißrussland, Chris Jarvis, betonte allerdings, dass Darlehen nur nach "ernsthaften und beständigen" Reformen der vom Staat kontrollierten Wirtschaft bewilligt würden. Dies bedeutet, dass Minsk die Preis- und Wechselkursbindung aufheben sowie das Finanzwesen liberalisieren müsste. (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2011