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OSTEUROPA/355: Polen vor der Parlamentswahl 2011 (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive

Die Dritte Republik stabilisiert sich
Polen vor der Parlamentswahl 2011

Von Knut Dethlefsen und Julia Walter
Oktober 2011


- Erstmals seit Zusammenbruch des Kommunismus könnte bei der polnischen Parlamentswahl am 9. Oktober die bereits bestehende Regierung im Amt bestätigt werden. Zwar ist der Enthusiasmus über die Errungenschaften des Kabinetts von Premierminister Donald Tusk nicht besonders hoch. Eine greifbare Wechselstimmung liegt aber erstmals seit 1989 nicht in der Luft.

- Absehbar scheint, dass sich der Abstand zwischen den beiden größten Parteien - der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO) und der nationalkatholischen Rechtsstaatspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) - verringern wird. Das hängt vor allem mit dem höheren Mobilisierungsgrad der traditionellen PiS-Wählerschaft zusammen. Neben den vier bereits im Parlament vertretenen Parteien werden einzig der Bewegung Palikots Chancen auf ein Überspringen der Fünfprozenthürde eingeräumt. Die antiklerikal-populistisch ausgerichtete Partei um den Medienstar Janusz Palikot zieht durch ihr unkonventionelles Auftreten derzeit vor allem die Faszination der jüngsten Wählergruppe auf sich.

- Die Sozialdemokraten haben im letzten halben Jahr Einbrüche in den Umfragen erlitten. Ursächlich ist vor allem das unvorteilhafte mediale Erscheinungsbild der Partei und ihres Vorsitzenden Grzegorz Napieralski. Sollte der Bund der Demokratischen Linken (SLD) unter dem Wahlergebnis von 2007 zurückbleiben, stehen Napieralski schwere innerparteiliche Auseinandersetzungen ins Haus.


Tabelle 1: Wahlergebnisse zum Sejm 2007
Partei
Sitze
% der Stimmen
Platforma Obywatelska (PO)
Prawo i Sprawiedliwosc (PiS)
Lewica i Demokraci (LiD)[1]
Polskie Stronnictwo Ludowe (PSL)
209
166
53
31
41,51
31,11
13,15
8,91

Quelle: Panstwowa Komisja Wyborcza[2]
[1] LiD = Wahlbündnis »Linke und Demokraten«, bestehend aus den Parteien Socjaldemokracja Polska (SdPL), Partia Demokratyczna (PD), Sojusz Lewicy Demokratycznej (SLD) und Unia Pracy (UP).
[2] http://wybory2007.pkw.gov.pl/SJM/PL/WYN/M/index.htm


Tabelle 2: Wirtschaftsdaten Polen
BIP-Wachstum 2011 (bis 2. Quartal)
BIP-Wachstum 2010
Haushaltsdefizit (% des BIP) 2010
Haushaltsdefizit (% des BIP) 2009
Kerninflation 2011 (August)
Arbeitslosenquote 2011 (August)
Erwerbstätigenquote 2010
 +4,5%[3]
 +3,9%
  7,9%[4]
  7,3%
  4,3%[5]
 11,6%[6]
 59,3%[7]

[3] http://www.stat.gov.pl/gus/5840_4403_PLK_HTML.htm
[4] http://www.stat.gov.pl/cps/rde/xbcr/gus/PUBL_rn_kom_dot_def_dlug_inst_rz_i_sam_w_26_14_2011.pdf
[5] http://www.nbp.pl/home.aspx?f=/statystyka/bazowa/bazowa.htm
[6] http://www.stat.gov.pl/gus/5840_1487_PLK_HTML.htm
[7] http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/graph.do?tab=graph&plugin=1&pcode=tsiem010&language=de&toolbox=data


Tabelle 3: Landesweit kandidierende Parteien bei der
Parlamentswahl 2011
Name
Parteivorsitzender
inhaltliche Ausrichtung
Bürgerplattform (PO)
Recht und Gerechtigkeit (PiS)
Bund der Demokratischen Linken (SLD)
Polnische Volkspartei (PSL)
Bewegung Palikots
Polen ist am Wichtigsten (PJN)

Polnische Partei der Arbeit (PPP)
Donald Tusk
Jaroslaw Kaczynski
Grzegorz Napieralski
Waldemar Pawlak
Janusz Palikot
Pawel Kowal

Boguslaw Zietek
wirtschaftsliberal, wertkonservativ
national-konservativ
sozialdemokratisch
Interessenvertretung der Landbevölkerung
antiklerikal, populistisch
wertkonservativ, sozialkatholisch,
Abspaltung der PiS
sozialistisch

Bemerkenswert unaufgeregt hat in Polen die heiße Phase des Parlamentswahlkampfes begonnen. Während die Urnengänge der Jahre 2005 und 2007 von erbitterten Auseinandersetzungen und persönlichen Anfeindungen zwischen den beiden größten Parteien - der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO) und der nationalkatholischen Rechtsstaatspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) - geprägt waren, schlagen deren Protagonisten neuerdings moderatere Töne an.

Ein Grund für die Lustlosigkeit der Wahlkämpfer mag darin liegen, dass selten der Ausgang einer nationalen Wahl in Polen so vorhersehbar schien wie in diesem Herbst: Die regierende Bürgerplattform, so prognostiziert es jede Umfrage, wird trotz spürbarer Verluste wieder stärkste Partei werden. Die oppositionelle PiS ist die unangefochtene zweite Kraft. Im Falle einer niedrigen Wahlbeteiligung könnte sie der PO zwar gefährlich nahe kommen, allerdings ohne sie zu übertrumpfen. Neben diesen beiden Parteien werden gemeinhin nur dem derzeitigen kleinen Koalitionspartner - der bäuerlichen Polnischen Volkspartei (PSL) - und dem Bund der demokratischen Linken (SLD) Chancen auf eine parlamentarische Repräsentanz eingeräumt. Für Aufsehen könnte höchstens die Bewegung Palikots sorgen. Angeführt von dem ehemaligen Enfant terrible der PO, Janusz Palikot, mischt diese Partei mit wirtschaftsliberal-antiklerikalen Parolen die politische Szene auf und weckt mit dem nonkonformistischen Auftreten ihres Anführers sowie mit kulturell freizügigen Forderungen die Sympathien der jungen Wähler. Da eben diese Klientel aber erfahrungsgemäß besonders selten den Weg zur Wahlurne findet, bleibt abzuwarten, ob es dem Sammelsurium an Politikern unterschiedlichster Couleur tatsächlich gelingen wird, die Fünfprozenthürde zu überspringen.

Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten wäre ein solcher Wahlausgang keineswegs uninteressant: Schließlich hätte Donald Tusk gute Chancen, als erster Ministerpräsident seit 1989 länger als eine Legislaturperiode im Amt zu überdauern. Und sollten tatsächlich genau dieselben Kräfte den Einzug ins Parlament schaffen, wie bereits 2007, wäre auch dies ein absolutes Novum in der Geschichte der Dritten Republik.

Doch leidet angesichts der so übersichtlichen Gemengelage zugleich das öffentliche Interesse an dem Urnengang. Hatte die politische Mobilisierung vor vier Jahren mit einer Wahlbeteiligung von 53,8 Prozent noch eine Höchstmarke erreicht, so warnen Wahlforscher erstmalig gar vor der Möglichkeit, dass am 9. Oktober dieses Jahres nicht einmal mehr 40 Prozent der Stimmberechtigten den Weg ins Wahllokal auf sich nehmen werden. Dabei bringt der bevorstehende Wahlakt zumindest eine beachtenswerte Neuerung mit sich: Erstmals kommt bei der Wahl zum Unterhaus eine gesetzlich verordnete Quote zur Anwendung, die Frauen einen Mindestanteil von 35 Prozent der Listenplätze zuschreibt.

Ob diese Regelung tatsächlich eine spürbare Erhöhung des Frauenanteils im zukünftigen Parlament bewirken kann, bleibt jedoch abzuwarten. Denn das Gesetz trifft keine Aussage darüber, an welcher Stelle der Liste die Frauen untergebracht werden sollten. Insbesondere die kleineren Parteien, die gemeinhin nur ein, maximal zwei Abgeordnetenmandate pro Wahlkreis gewinnen, wiesen ihren weiblichen Mitgliedern daraufhin die weniger aussichtsreichen Startpositionen zu. Während in der PO in 14 und in der PiS in zehn von insgesamt 41 Wahlkreisen Frauen an erster Stelle stehen, führen bei SLD und PSL gerade einmal sechs Frauen eine Liste an.

Allerdings kann sich aufgrund einer Besonderheit des polnischen Wahlrechts selbst der oberste Kandidat einer insgesamt erfolgreichen Wahlliste seines Parlamentsmandats nicht unbedingt sicher sein. Denn die Wahlberechtigten stimmen hier nicht nur für eine bestimmte Partei, sondern markieren auf deren Liste zudem jenen Kandidaten, den sie persönlich am liebsten im Parlament sehen würden. Durchschnittlich etwa 70 Prozent der polnischen Wähler, so die Schätzung, geben ihre Stimme nicht blind dem Spitzenkandidaten der von ihnen bevorzugten Partei, sondern fällen bei der Stimmabgabe auch eine bewusste Persönlichkeitswahl. Nicht selten kann es dabei passieren, dass populäre aber innerparteilich wenig verankerte Kandidaten von den hinteren Listenplätzen an den Funktionären des oberen Listendrittels vorbeiziehen.

Doch natürlich kann selbst die Aussicht auf einige Überraschungssiege die müde Kampagne nicht wirklich beleben. Stattdessen haben derzeit alle der vier entscheidenden Parteien Mühe damit, dem Wahlkampf ihren Stempel aufzudrücken und den Wählern eine kohärente politische Erzählung für die kommenden vier Jahre anzubieten.


Neue Ausgangslage für die PO

Der geringste Spielraum für aufsehenerregende politische Manöver bietet sich dabei der PO. Nicht nur hat sie in den vergangenen vier Jahren die Regierungskoalition angeführt. Nach dem tragischen Tod Lech Kaczynskis gelangte mit Bronislaw Komorowski zudem einer ihrer prominentesten Politiker in die Position des Staatsoberhauptes. Und seit den Kommunalwahlen im letzten Herbst ist die PO nun auch an allen der insgesamt 16 Wojewodschaftsregierungen beteiligt.

Diese zuvor ungekannte Machtfülle stellt die Bürgerplattform vor gleich mehrere Herausforderungen: Anders als in der Vergangenheit kann Regierungschef Tusk nicht länger einen unkooperativen oder gar blockierenden Präsidenten für etwaige Misserfolge verantwortlich machen. Vielmehr wird mittlerweile jede politische und wirtschaftliche Fehlentwicklung im Land der Bürgerplattform angekreidet.

Zugleich hat die PO ihre politische Existenzberechtigung in den vergangenen Jahren insbesondere aus der Konkurrenz zur PiS gezogen. Wichtigster Inhalt des bürgerlichen Parlamentswahlkampfes 2007 war die Beendigung der Kaczynski-Administration, die von einem Großteil der Wahlberechtigten als permanente innenpolitische Hexenjagd und zunehmende außenpolitische Isolierung empfunden worden war. In Anbetracht der Schwäche der übrigen Parteien konnte sich die PO seinerzeit als alleiniger Garant für einen Politikwechsel inszenieren. Ähnlich stellte sich die Situation im letztjährigen Präsidentschaftswahlkampf dar. Während Jaroslaw Kaczynski mit dem Versprechen in den Wahlkampf zog, das Erbe seines verstorbenen Bruders anzutreten, galt Bronislaw Komorowski als einziger Kandidat, der in der Lage war, Kaczynski zu besiegen und die zuvor so lähmende Konfliktsituation zwischen Staatsoberhaupt und Regierungschef zu entschärfen.

In diesem Jahr kann die PO nun erstmals nicht auf die mittlerweile erprobte Wechsel-Rhetorik der vergangenen Kampagnen zurückgreifen, sondern muss sich vielmehr als Garant eines bewahrenswerten Status Quo empfehlen. Unter dem Slogan »Polen im Bau« weist die Bürgerplattform in ihren Wahlwerbespots auf die neuen Sportplätze, Autobahnen und Schulen hin, die in den vergangenen vier Jahren gebaut worden sind, um im gleichen Atemzug zuzugeben, dass die Modernisierung der polnischen Infrastruktur längst nicht so weit fortgeschritten ist wie ursprünglich erhofft. Um die Entwicklung in die richtige Richtung jedoch nicht zu stören, werden die Wähler um einen erneuten Vertrauensbeweis am 9. Oktober gebeten.

Die Warnungen vor einer Rückkehr der PiS an die Macht fruchten dabei im Gegensatz zu früheren Jahren kaum mehr. Schließlich hat die PO in den vergangenen vier Jahren wenig unternommen, um die Verfehlungen und Auswüchse der Kaczynski-Administration kritisch aufzuarbeiten. Dadurch hat sie zwar eine weitere Polarisierung der ohnehin schon tief gespaltenen polnischen Gesellschaft vermieden, zugleich aber ist die Erinnerung an die oftmals bedrückende politische Stimmung der Jahre 2005 bis 2007 verblasst. Das trifft insbesondere auf die Gruppe der diesjährigen Jung- und Erstwähler zu.


Das verlorene Vertrauen der Jugend

Ausgerechnet die überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung dieser Alterskohorte hat die PO im Jahr 2007 überhaupt erst an die Macht gebracht. Allerdings wird sich ein vergleichbarer Mobilisierungsgrad bei den unter 30-Jährigen in diesem Herbst kaum herstellen lassen. Daran ist indes nicht allein das mangelnde historische Gedächtnis der jungen Generation Schuld. Im Gegensatz zu den 1960er und 1970er Jahrgängen, die sich trotz der vielen Härten der ersten beiden Transformationsjahrzehnte mittlerweile stabiler beruflicher und familiärer Strukturen erfreuen können, ist die Lebenssituation der nach 1980 Geborenen oftmals prekär. Sie gehören der Babyboom-Generation der Kriegszustandsjahre an und drängen seit einigen Jahren ungebremst auf den Arbeitsmarkt, ohne dort dauerhaft Fuß fassen zu können. Obwohl besser ausgebildet als jede andere polnische Generation zuvor, sind viele von ihnen nur mit sogenannten »Müllverträgen« ausgestattet, arbeiten also für einen Bruchteil des Durchschnittseinkommens und ohne nennenswerten Kündigungsschutz. Wegen mangelnder Kreditwürdigkeit haben sie keine Chancen auf den Erwerb einer Eigentumswohnung, die angesichts des knappen Wohnraums in Polen nahezu als Grundvoraussetzung für die Familiengründung gilt. Für eben diese Generation klang das Versprechen eines »irischen Wirtschaftswunders«, mit dem Tusk in den Wahlkampf 2007 gezogen war, besonders verheißungsvoll. Doch obwohl Polen besser als die anderen EU-Staaten durch die Wirtschaftskrise gekommen ist und in der ersten Jahreshälfte einen erneuten Anstieg des BIP um 4,5 Prozent verzeichnen konnte, hat sich an der sozialen Unsicherheit, in der sich die jüngsten Wählergruppen wähnen, nichts geändert. Zwar sind Jaroslaw Kaczynski und seine Anhängerschaft diesen jungen Menschen habituell zu fremd, als dass sie massenweise zur PiS abwandern werden. Jedoch könnte bereits eine Stimmabgabe für Janusz Palikot oder die bloße Passivität ihrer ehemals treuesten Wähler der Bürgerplattform schmerzliche Verluste bescheren.

Erstaunlicherweise schlägt sich die Verunsicherung unter den Berufseinsteigern bislang nicht negativ auf die gesamtgesellschaftliche Stimmung aus. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die frustrierten polnischen Jugendlichen im Gegensatz zu ihren Altersgenossen in Madrid oder London derzeit noch in die innere Emigration flüchten, anstatt ihre Frustration in organisierten Massenprotesten oder gewaltsamen Straßenschlachten in die Öffentlichkeit zu tragen. Insgesamt aber zeichnen sich die Polen im mitteleuropäischen Vergleich neuerdings durch eine erstaunlich optimistische Bewertung ihrer eigenen ökonomischen Situation aus. Ebenso hat sich das Gefühl der Sicherheit in der eigenen Nachbarschaft und vor allem im eigenen Land im letzten Jahrzehnt mehr als vervierfacht. So zufrieden wie nie zuvor zeigen sich die Polen dementsprechend mit ihrer persönlichen Lebenslage. Die überwiegende Mehrheit schreibt ihre Zufriedenheit dabei einzig und allein den Ergebnissen von individuellen Anstrengungen zu, ohne einen wesentlichen Anteil staatlicher Institutionen am positiven Verlauf der eigenen Biografie zu erkennen. Der Staat wird in diesem Kontext nur als restringierender, nicht aber als unterstützender Faktor wahrgenommen.

Genau diese Tatsache aber könnte nach Ansicht des Warschauer Politologen Wojciech Lukowski der Bürgerplattform den Machterhalt sichern. Aufgrund der relativen Zufriedenheit mit dem bisher Erreichten tendierten die Polen erstmals seit 1989 mehrheitlich zur Beibehaltung des politischen Status Quo, anstatt das schwerer kalkulierbare Risiko eines Regierungswechsels in Kauf zu nehmen. Auf diese Weise sind die Zustimmungswerte für die Regierung in den letzten Monaten merklich gesunken, ohne dass aber eine tatsächliche Wechselstimmung das Land erfasst hätte.


Allzeit bereit: Die zuverlässigen Wähler der PiS

Das mag auch damit zusammenhängen, dass die PiS als einzig ernstzunehmender Konkurrent der Bürgerplattform das größte Negativelektorat im Land besitzt. 48 Prozent der Wahlberechtigten, die in Umfragen ihre Bereitschaft zur Wahlteilnahme erklären, schließen eine Stimmabgabe für die Rechtsstaatspartei kategorisch aus. Einen solchen Wert erreicht keine der anderen Parteien. Das Negativelektorat der PO liegt bei 24 Prozent, das der SLD bei 15 Prozent und nur acht Prozent der Befragten verspüren eine absolute Antipathie gegen die PSL.

Andererseits erreicht die PiS in der gleichen Erhebung auch noch weitere Rekordwerte: 60 Prozent ihrer Anhänger waren bereits im Mai felsenfest überzeugt, dass sie im Herbst ihre Stimme einzig für die Rechtsstaatspartei abgeben würden. So selbstsicher waren die Befürworter der PO keineswegs. Nur 45 Prozent standen mit voller Überzeugung hinter den Bürgerlichen. Demgegenüber äußerte jeder Zehnte erhebliche Bedenken an der Richtigkeit seiner derzeitigen Präferenzen.

Dementsprechend ist auch die Bereitschaft zur Wahlteilnahme nirgendwo so hoch wie unter den Anhängern der PiS. Und selbst die Motive für die Wahlentscheidung unterscheiden sich zwischen dem nationalkatholischen und dem wirtschaftsliberalen Lager fundamental. Während das potentielle PiS-Elektorat das Programm und die Weltanschauung der Kaczynski-Partei als wichtigsten Grund für ihre zukünftige Wahlentscheidung identifiziert, ordnet sich die größte Gruppe der PO-Befürworter schlicht »aus Mangel an Alternativen« im Lager der Bürgerplattform ein. Im Wahlkampfhauptquartier der PO haben die Anzeichen einer Wahlmüdigkeit ihrer eigenen Klientel offensichtlich die Warnglocken läuten lassen. Drei Wochen vor dem Wahltermin begab sich Donald Tusk mit dem »Tuskobus« auf eine Reise durch das Land, wo er nun bis zum Wahltermin täglich an mehreren Stationen halt macht und den direkten Kontakt mit den Wählern sucht.

Bemerkenswerterweise scheint auch die PiS ihre diesjährige Strategie vornehmlich an dem Befinden der PO-Sympathisanten auszurichten. Anders als im Vorfeld befürchtet, beschränken sich die nationalkatholischen Parteioberen nur auf ein normales Maß an Wahlkampfpopulismus. Für den Fall eines Regierungswechsels versprechen sie zwar die »Aufklärung der wahren Hintergründe der Katastrophe von Smolensk«, von allzu konkreten Schuldzuweisungen für den Flugzeugabsturz sehen sie aber ab. Die ideologischen Hardliner, die mit persönlichen Angriffen und erbarmungsloser Rhetorik die Wahlkämpfe der Jahre 2005 und 2007 geprägt hatten, treten kaum noch in Erscheinung. Wenn Jaroslaw Kaczynski in seinen Wahlkampfreden auf die vielen ungelösten Probleme des Landes hinweist, macht er dafür nicht länger korrupte postkommunistische Seilschaften oder abgehobene Lügen-Eliten verantwortlich, sondern lediglich die handwerkliche Ungeschicklichkeit von »Donald-ich-kann-nichts-Tusk«, wie er den Premier dieser Tage gern betitelt.

Vermutlich ganz bewusst hat sich die PiS für diese Zurückhaltung entschieden. Denn obwohl derzeit nur noch ein Bruchteil der Wähler die Rückkehr der PiS an die Macht als reale Gefahr in Betracht zieht, geben auf die Frage, vor dem Sieg welcher Partei sie am meisten Angst hätten, immer noch 75 Prozent der PO- und 67 Prozent der SLD-Sympathisanten die PiS an. In den Wählerreservoirs der politischen Konkurrenten zu weiden, zahlt sich für die PiS also nicht aus. Stattdessen versucht sie durch das stetige Aufzeigen der nicht eingelösten Versprechungen der Tusk-Administration, die ohnehin nur halbherzigen PO-Anhänger weiter zu demotivieren, ohne ihnen durch allzu aggressives Verhalten Angst vor den Konsequenzen einer Wahlenthaltung einzujagen. Angesichts der diagnostizierten Entschlossenheit ihrer Kernwählerschaft muss sich die PiS dabei nicht einmal um die mangelnde Mobilisierung in den eigenen Reihen sorgen.


Fehlendes Personal, schwache Programmatik

Jedoch mag der seichten Vorgehensweise der PiS noch ein weiterer Grund innewohnen: Personalpolitisch ist die Partei nahezu vollständig ausgebrannt. Eine ganze Reihe ihrer Spitzenpolitiker ist im April 2010 in Smolensk ums Leben gekommen. Zugleich hat Jaroslaw Kaczynski im Laufe der letzten Jahre seine ärgsten Konkurrenten und Kritiker entweder aus der Partei geworfen oder aber ins Europaparlament abgeschoben. Eine weitere Gruppe größtenteils profilierter Abgeordneter verließ die Partei im vergangenen Herbst im Streit um die inhaltliche Ausrichtung. Auf den diesjährigen Wahllisten finden sich deshalb außergewöhnlich viele unerfahrene Kandidaten wieder, viele sind Angehörige der Opfer des Flugzeugabsturzes. Eine eigene Hausmacht in der Partei haben sie nicht, die aussichtsreichen Listenplätze verdanken sie einzig und allein der Intervention des Parteivorsitzenden. Auf diese Weise sichert sich Kaczynski zwar möglicherweise bereits im Vorhinein die Loyalität der zukünftigen Parlamentsfraktion, zugleich aber muss er den inhaltlichen Teil des Wahlkampfes nahezu allein bestreiten. Insbesondere der Mangel an ökonomischem Fachwissen tritt in den Zeiten der Wirtschaftskrise eklatant zu Tage. Noch ist es Jaroslaw Kaczynski nicht gelungen, einen geeigneten Kandidaten für den Posten des Finanzministers zu präsentieren. Selbst an einer ganzen Reihe von Fernsehdebatten zu den wichtigsten Politikfeldern nahmen keine PiS-Vertreter teil. Mit Bedacht auf die Umfragewerte steht freilich nicht zu befürchten, dass Jaroslaw Kaczynski im Oktober in die Verlegenheit kommen wird, aus diesem wenig verheißungsvollen Personaltableau eine Regierungsmannschaft zu formen. Nichtdestotrotz bleibt die Situation bedenklich. Denn selbst eine aufmerksame, inhaltlich fundierte Oppositionsarbeit wird man von der zukünftigen Sejmfraktion der PiS wohl nicht erwarten können.

Das ist vor allem deshalb problematisch, da derzeit alles darauf hindeutet, dass die PiS in der Oppositionsrolle noch wichtiger wird als sie es bislang schon ist. Sollten tatsächlich nur die vier etablierten parlamentarischen Kräfte in den Sejm einziehen, wird die PO zumindest eine dieser beiden Parteien zur Regierungsbildung brauchen. Sofern rechnerisch machbar, werden die Bürgerlichen die Koalition mit der Bauernpartei fortsetzen. Schließlich ist die PSL ein bequemer Bündnispartner: Außer dem Schutz der ländlichen Interessen verfolgt die PSL kein ambitioniertes eigenes Programm und gräbt der eher städtisch und auf den dritten Sektor ausgerichteten Bürgerplattform keine Wähler ab. Allerdings oszilliert die PSL in den Vorwahlumfragen derzeit dauerhaft bei fünf Prozent. Dass sie den Wiedereinzug in den Sejm verpasst, scheint unwahrscheinlich, da sie in der Vergangenheit meist ein besseres Ergebnis erzielt hat als im Vorfeld prognostiziert. Trotzdem könnte die Bürgerplattform bei einem allzu knappen Vorsprung vor der PiS dazu gezwungen sein, mit den Sozialdemokraten vom SLD zu koalieren, die vermutlich einige Mandate mehr erzielen werden als die Bauernpartei. In dem Fall stünde der PiS in der Opposition nur eine sehr ausgedünnte und thematisch ebenfalls eher eindimensional ausgerichtete Fraktion zur Seite.


Trügerisches Zwischenhoch für den SLD

Indes wäre selbst von den Sozialdemokraten in der Opposition nicht zu viel zu erwarten. Womöglich wird der SLD gar als der größte Verlierer aus dem Wahlakt hervorgehen. Während die PO und die PSL die bevorstehenden Prozenteinbußen als natürliche Kollateralschäden einer Regierungsbeteiligung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten verbuchen können, und Jaroslaw Kaczynski den Abstand zum größten Konkurrenten verringern wird, gerät der sozialdemokratische Parteichef Grzegorz Napieralski in Erklärungsnot, falls seine Formation ein schlechteres Ergebnis erzielt als die 13 Prozent des Jahres 2007. Damals war der SLD unter Führung des noch jungen Vorsitzenden Wojciech Olejniczak ein Wahlbündnis mit anderen linken und liberalen Parteien eingegangen. Tatsächlich schnitten die Linken und Demokraten (LiD) besser ab als der SLD bei den Parlamentswahlen von 2005, doch die Anzahl der SLD-Parlamentarier im neuen Sejm erhöhte sich kaum, da über die gemeinsame Liste zahlreiche Repräsentanten anderer Parteien ein Mandat errungen hatten. Entsprechend groß war im SLD der Unmut über diese Konstellation. Zum Anführer der LiD-Kritiker schwang sich schon bald der damalige Generalsekretär Napieralski auf, der Olejniczak bei dem Parteitag 2008 in einer Kampfabstimmung um den Parteivorsitz bezwang.

Noch bis vor wenigen Monaten sah es so aus, als könnte der neue Parteivorsitzende mit seiner Linie Recht behalten. Anfang 2011 wurde der SLD in Umfragen mit bis zu 18 Prozent gehandelt. Napieralski selbst führte auf Augenhöhe mit Donald Tusk die Beliebtheitsrankings polnischer Politiker an. Beides war wohl direkte Folge der Präsidentschaftswahl vom Juni 2010. Damals hatte Napieralski mit einem Achtungserfolg von 13 Prozent im ersten Wahlgang von sich reden gemacht. Rückblickend aber verschärften sich ausgerechnet mit diesem Ereignis viele der ohnehin schon bestehenden strukturellen und personellen Probleme des SLD zusätzlich.

Zunächst einmal hatte es sich bei den Präsidentschaftsstimmen für Napieralski in erster Linie um ein Votum gegen seine Konkurrenten gehandelt. Gegenüber dem rhetorisch zwar gezähmten, in kulturellen Fragen aber dennoch erzkonservativen Jaroslaw Kaczynski und dem überkorrekten, oft steifen Bronislaw Komorowski wirkte Napieralski - bis dato eher als visionsloser Funktionär verschrien - geradezu lebendig und jugendlich. Auf diese Weise erschloss der erst 36-Jährige Napieralski im Sommer 2010 neue, überwiegend junge Wählerreservoirs, die in keinerlei Verbindung zum traditionellen, emotional eng mit der Volksrepublik verbundenen SLD-Elektorat standen. Vor allem in der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren, aber auch bei den 23- bis 39- Jährigen erzielte Napieralski seine besten Ergebnisse. In eben dieser Alterskohorte hatte die PO in den Umfragen zum Jahreswechsel 2010/11 die größten Einbrüche zu verschmerzen. Stattdessen erklärten viele der enttäuschten PO-Anhänger nun ihre Sympathien für den SLD.

Diese Entwicklung stärkte dem innerparteilich zuvor hoch umstrittenen Napieralski eindeutig den Rücken. Erstmals seit seinem Amtsantritt waren seine Kritiker verstummt. Doch anstatt seine Konkurrenten mit der großzügigen Souveränität des unumstrittenen Anführers wieder in den Reihen der Partei zu integrieren, marginalisierte Napieralski all jene Politiker, die im Vorfeld Bedenken gegen seine Bewerbung um das Präsidentenamt geäußert hatten. Er verhinderte ihre Wiederwahl in wichtige Parteiämter und besetzte die vakanten Positionen mit seinen Protegés. Für einige der Napieralski-Kritiker schien die Situation so aussichtslos, dass sie die Partei verließen und ihr Glück zukünftig in den Reihen der Bürgerplattform versuchen wollen. Gleich mehrere einflussreiche linke Parlamentarier, die zum Jahresanfang noch den Reihen der SLD-Fraktion angehörten, kandidieren nun auf den Listenplätzen der PO für das nächste Parlament, einer von ihnen gar in direkter Konkurrenz zu Napieralski im Wahlkreis Stettin. Donald Tusk höchstselbst hat sich um diese Überläufer bemüht, um das soziale Gewissen seiner oftmals als zu wirtschaftsaffin verschrienen Partei zu demonstrieren und die eigene Wählerbasis zu erweitern.


Brain Drain bei den Sozialdemokraten

Auf diese Weise verlor der an interessanten Persönlichkeiten und programmatischen Vordenkern ohnehin nicht reiche Linksbund zusätzlich an Sprachfähigkeit. Eben diese benötigt er aktuell aber dringender als je zuvor. Denn wegen der guten Notierungen bei den Präsidentschaftswahlen wird der SLD und insbesondere Napieralski von der politischen Konkurrenz und den Medien nun erstmals als ein ernstzunehmender Akteur wahrgenommen. Anders als noch vor einem halben Jahr reicht es nicht länger aus, sich über eine verstärkte Anwesenheit in Internetforen und eine Kritik am konfliktiven Regierungsstil der Etablierten zu profilieren. Dem SLD und seinem Vorsitzenden werden nun auch inhaltliche Fragen gestellt, auf die den Sozialdemokraten keine überzeugenden Antworten einfallen. Denn politische Beratung nimmt Napieralski weiterhin nur von dem engsten Zirkel seiner Vertrauten entgegen. Aufgrund der Kompromisslosigkeit, mit der Napieralski den Partei- und Fraktionsvorstand von kritischen Köpfen gesäubert hat, ist er dort aber nur noch von Personen umgeben, die ihre eigene Karriere nicht an politischen Inhalten, sondern an der Person des Vorsitzenden ausgerichtet haben.

So fehlt Napieralskis Kampagne bislang jedwede rote Linie. An einem Tag geht er ein Wahlbündnis mit den Arbeitgebern des exklusiven Business Center Clubs ein. Bei nächster Gelegenheit präsentiert er das Wahlprogramm, das kostenlose ärztliche Untersuchungen in den Schulen, höhere Zuzahlungen für Medikamente, eine Anhebung des Mindestlohns, Laptops für jeden Schüler, eine Absenkung der Mehrwertsteuer und einen Ausbau der frühkindlichen Betreuungsplätze verspricht. Eine glaubwürdige, weil rechnerisch stimmige Auskunft zur Gegenfinanzierung seiner Vorschläge kann er hingegen bis heute nicht präsentieren. Dementsprechend fatal ist mittlerweile auch Napieralskis Erscheinungsbild in den Medien. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, das in Polen zwischen den Parteien aufgeteilt ist, hat der SLD mittlerweile jeglichen Einfluss verloren. Die meisten Tageszeitungen von landesweiter Bedeutung sind von jeher wirtschaftsliberal bis konservativ. Doch selbst die Gazeta Wyborcza, vermutlich die wichtigste Tageszeitung für das polnische Mitte-Links-Spektrum, ist dieser Tage offen feindselig gegenüber dem Parteichef eingestellt. Jeder Schachzug und jedes Wahlversprechen Napieralskis wird hämisch kommentiert. Ebenso hat sich in den vergangenen Monaten ein Privatkrieg zwischen dem SLD und der links-intellektuellen Vierteljahresschrift Krytyka Polityczna entsponnen, in der sich beide Kontrahenten den Verrat an linken Idealen vorwerfen. Freilich empfand das links-alternative Milieu seit jeher keine nennenswerten Sympathien für den postkommunistisch geprägten SLD. Ungekannt ist gleichwohl das Ausmaß an unverhohlener Verachtung, das dem Linksbund selbst aus diesen Reihen neuerdings entgegen schlägt.

Grund für die harsche Kritik ist neben der programmatischen Beliebigkeit des Linksbundes vor allem die Zusammenstellung der Wahllisten. Noch unter Eindruck der hervorragenden Umfragewerte des Frühjahrs hatte Parteichef Grzegorz Napieralski einer Reihe von prominenten Repräsentanten linker Interessensgruppen aussichtsreiche Plätze auf den Wahllisten des SLD versprochen. Durch die Erweiterung des Kandidatenpools um Multiplikatoren aus dem Schwulenspektrum sowie der Umwelt- und Frauenbewegungen wollte der SLD seine Offenheit für die Anliegen der Neuen Linken unter Beweis stellen. Umgekehrt sahen die Aktivisten dieser Milieus im Pakt mit dem SLD eine Chance, ihren Forderungen parlamentarisches Gehör zu verschaffen. Dann jedoch verschlechterten sich die Umfrageergebnisse für den Linksbund und die Funktionäre, die zuvor auch zu einem Start von den Listenplätzen zwei oder drei zu bewegen gewesen wären, pochten nun auf ihr langjährig erworbenes Anrecht, die Liste eröffnen zu dürfen. Am Tag nach der Parteiratssitzung, auf der die Listenplatzierungen festgelegt worden waren, erfuhren viele der außerparteilichen Kandidaten erst aus der Presse, dass sie auf einer anderen Startposition oder in einem anderen Wahlkreis gelandet waren als ursprünglich mit dem Parteichef abgesprochen. Unter günstigeren Vorzeichen hätte dies durchaus als ein Sieg innerparteilicher Demokratie verkauft werden können. Nun aber geriet die Situation für den SLD zu einem kommunikativen Desaster, als die Frauenrechtlerin Wanda Nowicka und der Schwulenaktivist Robert Biedron unter großer medialer Anteilnahme den Verzicht auf eine Kandidatur bekannt gaben, den der stellvertretende Vorsitzende der SLD-Parlamentsfraktion zu allem Überfluss mit einer schwulenfeindlichen Bemerkung zur Person Biedrons quittierte. Auch über die mangelnde Konsequenz bei der gleichberechtigten Besetzung der Wahllisten mit Frauen mokierte sich die Presse. Schließlich hatte Grzegorz Napieralski im Vorjahr noch die gesetzliche Regelung, nur 35 Prozent der Listenplätze für Frauen vorzusehen, als wenig fortschrittlich kritisiert. Unbestritten bietet der SLD von allen etablierten Parteien mit 44 Prozent den größten weiblichen Kandidatenanteil auf. Die maskuline Dominanz auf den wirklich aussichtsreichen Listenplätzen ist im Vergleich mit der PO und der PiS hingegen geradezu frappant.


Regierungsbeteiligung als Überlebensstrategie?

Und so quält sich der SLD, der zu Jahresanfang vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, mittlerweile durch die letzten Wahlkampfwochen. Grzegorz Napieralski ist sichtlich angeschlagen. Sollte die zukünftige Sejmfraktion des Linksbundes weniger Parlamentariern Platz bieten als zuvor, stehen ihm schwere Zeiten ins Haus. Möglicherweise wird er die Macht in Partei und Fraktion noch eine Weile halten können, da er all seine engsten Vertrauten mit sicheren Listenplätzen ausgestattet hat. Zudem ist kein vielversprechender Herausforderer in Sicht. Einzig Ryszard Kalisz, Anführer der Warschauer Liste und Vorsitzender des Sejmausschusses für Menschenrechte, werden realistische Ambitionen nachgesagt. Immerhin hat er im vergangenen Jahr einige Demütigungen von Napieralski ertragen müssen und ist neben dem Parteichef der wohl medial präsenteste Politiker des Linksbundes. Doch ist die Gunst der Medien auch schon sein größter Trumpf. In der Partei ist er nur unzureichend verankert. Wohl auch deshalb reist Kalisz seit einigen Wochen, fast einem Spitzenkandidaten gleich, zu Wahlkampfauftritten in ganz Polen, anstatt sich auf seinen hauptstädtischen Wahlkreis zu konzentrieren.

Solchen Überlegungen wohnt zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch viel Spekulation inne. Für Napieralski ist die aktuelle Lage vor allem deshalb so dramatisch, da sich seine Partei seit Jahren organisatorisch am Rande des Zusammenbruchs bewegt. Nach den vielen Wahlniederlagen in Folge versiegen die staatlichen Finanzzuschüsse. Zugleich kann der SLD seinen Mitgliedern kaum mehr exekutive Gestaltungsperspektiven bieten. In der Konsequenz finden immer weniger Neumitglieder den Weg in die Partei, während alte Funktionäre ihre Aktivitäten einstellen. Ohne finanzielle und personelle Ressourcen lastet die gesamte Arbeit auf den Schultern eines ausgedünnten, organisatorisch vollkommen überforderten Hauptamtlichenapparates. Um die politische Arbeit auch nur ansatzweise erhalten und den eigenen Funktionären eine politische Perspektive bieten zu können, wäre der SLD somit dringend auf die personellen Ressourcen der Ministerialbürokratie angewiesen.

Dass sich diese Perspektive am 9. Oktober bietet, ist seit Neustem wieder unwahrscheinlicher, doch keineswegs ausgeschlossen. Alles hängt davon ab, ob PO und PSL ihre eigenständige Zusammenarbeit werden fortsetzen können. Vielleicht aber läge in einem schlechten Wahlergebnis, so dramatisch seine unmittelbaren Auswirkungen für den SLD sein mögen, sogar eine Chance für die polnische Sozialdemokratie. Denn die ersehnte Regierungsperspektive bietet sich dem Linksbund derzeit lediglich in der Rolle des Juniorpartners. Der eigentliche politische Wettstreit findet zwischen zwei konservativen Gruppierungen statt. Würde der SLD womöglich noch mit einem unterdurchschnittlichen Wahlergebnis im Gepäck eine Koalition eingehen, bliebe er wohl dauerhaft auf die bloße Rolle des Mehrheitsbeschaffers festgelegt. Ob sich dieses Schicksal in der Opposition abwenden lässt, ist zweifelhaft. Zumindest aber die längst überfällige personelle und programmatische Erneuerung des Linksbundes dürfte jenseits exekutiver Verpflichtungen leichter fallen.


Über die Autoren:
Knut Dethlefsen ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau.
Julia Walter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau.

Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

ISBN: 978-3-86872-911-5

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2011