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OSTEUROPA/359: Polen - Europa als technisches Problem (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012

Polen: Europa als technisches Problem

Von Knut Dethlefsen/Julia Walter



Polen gehört zu den prosperierenden Ländern in der Europäischen Union. Die Bürgerinnen und Bürger sind mehrheitlich überzeugte EU-Befürworter und schätzen ihre Zukunft in der Union positiv ein. Die polnische Sozialdemokratie aber fremdelt ein wenig, der europapolitische Diskurs beschränkt sich weitgehend auf ökonomische Aspekte.


Die europapolitische Debatte in Polen findet heutzutage ohne nennenswerte Beteiligung der dortigen Sozialdemokratie statt. Ein wenig erstaunlich ist das schon. Vor kaum zehn Jahren noch galt der Bund der Demokratischen Linken (SLD) als die außen- und europapolitisch kompetenteste Partei im Land. Immerhin war es eine SLD-Regierung, die im Jahr 1997 die Beitrittsverhandlungen mit der NATO aufnahm. Und auch der polnische EU-Beitritt vom 1. Mai 2004 erfolgte unter sozialdemokratischer Führung.

Vor allem aber bewegten sich SLD-Politiker im ersten Jahrzehnt nach der politischen Wende meist sehr viel selbstsicherer auf dem internationalen Parkett als die Vertreter der politischen Konkurrenz. Das wiederum hing mit der Geschichte des Linksbundes zusammen: Entstanden war der SLD 1990 als Wahlbündnis verschiedener Parteien, Verbände und Gewerkschaften, die allesamt in postkommunistischer Tradition standen. Die Mehrheit der Parlamentarier sowie alle Führungspersönlichkeiten des SLD hatten vor 1989 der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei (PZPR) angehört. Als Repräsentanten der volksrepublikanischen Elite hatten sie dabei Reiseprivilegien genossen, von denen Vertreter der politischen Opposition nur träumen konnten. Und so zehrten die Angehörigen der ehemaligen Nomenklatur bis in das neue Jahrtausend hinein von der Weltgewandtheit und den Sprachkenntnissen, die sie sich in ihrer kommunistischen Vergangenheit angeeignet hatten.

Geradezu sinnbildlich für diesen unterschiedlichen internationalen Erfahrungsschatz standen die beiden ersten Präsidenten der neuen Republik, Lech Walesa und Aleksander Kwasniewski. Während die Solidarnosc-Legende Walesa einen Großteil der 80er Jahre unter Hausarrest gestanden hatte, hatte der kommunistische Studentenfunktionär Kwasniewski seine Semesterferien mal in Schweden, mal in den USA verbracht. Kaum 30-jährig wurde er Vorsitzender des Polnischen Olympischen Komitees. Bei seinen Auslandsreisen zu Sportveranstaltungen rund um den Globus beschränkte er sich nicht allein auf Stadionbesuche, sondern nutzte mit jugendlichem Elan und Ehrgeiz alle Möglichkeiten zur Teilnahme an kulturellen Terminen, Abendveranstaltungen und politischen Salons. Auf diese Weise knüpfte er schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs zahlreiche Kontakte ins kapitalistische Ausland.

So war es nicht zuletzt die Sorge um das internationale Ansehen, die eine knappe Mehrheit der Wähler dazu bewog, bei den Präsidentschaftswahlen 1995 den polyglotten Kwasniewski zu unterstützen. Zu häufig hatte zuvor der habituell eher provinzielle und rein polnischsprachige Walesa für diplomatische Irritationen gesorgt.

Demzufolge sicherte in den Gründungsjahren der Dritten Republik ausgerechnet die kommunistische Vergangenheit dem SLD einen außenpolitischen Vertrauensvorsprung. Zugleich aber bedingte eben diese Vergangenheit die spätere europapolitische Ideenlosigkeit der Partei. Denn natürlich barg die PZPR-Sozialisation nicht nur Vorteile für die Generation Kwasniewski. Der innenpolitische Druck auf die Repräsentanten des SLD war zu Beginn der 90er Jahre enorm. Obwohl der Linksbund aus den ersten gesamtfreien Wahlen 1991 als zweitstärkste Kraft hervorgegangen war, wurde die sozialdemokratische Parlamentsfraktion bei der Besetzung parlamentarischer Gremien konsequent übergangen. Diese Isolation dauerte auch im Jahr 1993 noch an. Nach den vorgezogenen Neuwahlen, die der SLD eindeutig gewonnen hatte, fand sich einzig die ehemalige Blockpartei PSL zu einer Koalitionsbildung bereit. Ein nicht unerheblicher Teil der politischen Rechten forderte zudem lautstark eine Durchleuchtung der volksrepublikanischen Lebensläufe der SLD-Funktionäre.


Sozialdemokratische Erzählung - Fehlanzeige

Der schnellste Weg aus der realsozialistischen Schmuddelecke in die Mitte der neuen Republik lag deshalb in der eindeutigen Bejahung der neuen politischen und ökonomischen Ordnung. Bereits in den ersten Programmdokumenten der Sozialdemokratie der Republik Polen (SdRP), die zugleich die organisations- und finanzkräftigste Gruppierung des SLD darstellte, bekannte sich die Partei eindeutig zu Demokratie und zu freier Marktwirtschaft. Ein langwieriger innerparteilicher Reflexionsprozess war dieser politischen Positionsbestimmung freilich nicht vorausgegangen. Um sich nicht den Gefahren und Irrationalitäten innerparteilicher Demokratie auszusetzen, hatte das Warschauer Parteihauptquartier den neuen politischen Kurs vielmehr diktiert.

Ganz ähnlich erfolgten kurze Zeit später die inhaltlichen Weichenstellungen in der Außenpolitik. In einer programmatischen Grundsatzerklärung, die der Parteivorstand den Delegierten des zweiten SdRP-Parteitages zur Verabschiedung vorlegte, hieß es: "Den Prozess der europäischen Einigung halten wir für unvermeidbar. Polen muss an ihm teilhaben." In den folgenden Zeilen wurde die europäische Integration als einzige Chance auf eine schnelle wirtschaftliche Modernisierung des Landes gepriesen. Dem folgte, quasi als Beruhigung der stärker patriotisch gesinnten Wähler, ein Aufruf zum gleichzeitigen Schutz der kulturellen Identität und des nationalen Erbes, der sich ebenso gut in den Erklärungen der politischen Gegner von Rechts hätte finden können. Auf eine eigene, sozialdemokratische Erzählung des europäischen Einigungsprozesses verzichtete die Partei nicht nur in diesem, sondern auch in allen folgenden Dokumenten. Die europapolitischen Passagen blieben zwar stets zustimmend und priesen die ökonomischen Vorzüge der Union. Eine tiefergehende historische oder kulturelle Begründung für das Beitrittsverlangen nahmen sie aber nicht vor. Auch Aussprachen zu den programmatischen Erklärungen fanden nie statt.

Erst nachdem der Europäische Rat im Jahr 1997 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Polen beschloss, wurden die europapolitischen Passagen in den Wahl- und Parteiprogrammen von SdRP und SLD ausführlicher. Allerdings schilderte der Linksbund den europäischen Erweiterungsprozess nun nahezu ausschließlich als technische Herausforderung. Geradezu symptomatisch dafür stand das Wahlprogramm des SLD im Jahr 2001. "Die Verhandlungen zum Abschluss bringen" lautete dort der Titel des europapolitischen Kapitels. Anschließend folgte ein Katalog von Maßnahmen, die es umzusetzen gelte, um Polen noch mit der ersten Erweiterungswelle in die EU zu spülen. Zu den ideellen Absichten dieses Vorhabens fiel dem SLD nur so viel ein: "Die Integration ist kein Selbstzweck. Wir wollen zur EU gehören, um unsere grundlegenden Aufgaben besser erfüllen zu können: schnelleres Wirtschaftswachstum, Modernisierung der Landwirtschaft, Verbesserung der Infrastruktur, Chancengleichheit".

Dabei war es unter strategischen Gesichtspunkten durchaus ratsam, die legislativen Hürden, die die Erreichung des Acquis communautaire mit sich bringen würde, herauszustellen. Schließlich kehrten die polnischen Wähler im Laufe der 90er Jahre insbesondere wegen der administrativen Kompetenzen der alten volksrepublikanischen Eliten zum SLD zurück. Problematisch war allein die vollständige Reduzierung der Europapolitik auf gesetzgeberische Detailfragen. Sobald nämlich der EU-Beitritt vollzogen war, führte der langjährige Verzicht auf Präzisierung der eigenen europapolitischen Vision zu einem absoluten Ideenvakuum.

Das trat bereits im Europawahlkampf 2004 eklatant zu Tage. Anstatt zu diesem Anlass eine eigene europapolitische Agenda zu formulieren, ließ der SLD schlicht das Wahlprogramm der SPE ins Polnische übersetzen. Bewährt hat sich diese Taktik freilich nicht. Der SLD erhielt weniger als 10% der Wählerstimmen und wurde nur fünfstärkste Kraft.

An dieser inhaltlichen Orientierungslosigkeit hat sich bis heute nichts geändert. Schlimmer noch: Anders als in der Vergangenheit haben die Sozialdemokraten längst auch ihren internationalen Erfahrungsvorsprung eingebüßt. Mit der Ausnahme von Wojciech Olejniczak, den die Partei erst aus dem Amt des Vorsitzenden verdrängte und dann ins Europaparlament abschob, kann der SLD keinen unter 50-jährigen Politiker mit internationaler Erfahrung, geschweige denn erkennbarem europapolitischen Enthusiasmus aufbieten. Die jungen SLD-Mitglieder beherrschen in der Regel nicht einmal eine Fremdsprache, was unter polnischen Hochschulabsolventen eine absolute Ausnahme darstellt.

Das einzige was der SLD momentan sogar im Überfluss zu bieten hat, sind ambitionierte Elder Statesmen von internationalem Renommee. Würde sich die SPE entschließen, einen von ihnen als gemeinsamen Spitzenkandidaten in den nächsten Europawahlkampf zu schicken, bliebe den polnischen Sozialdemokraten wohl kein anderer Ausweg, als erstmals in ihrer Geschichte eine ernsthafte europapolitische Debatte zu führen.


Autoren
Knut Dethlefsen (*1969) leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau. (kdethlefsen@feswar.org.pl)
Julia Walter (*1980) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der FES in Warschau. (jwalter@feswar.org.pl)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012, S. 35-39
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2012