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RUSSLAND/141: "Heuschrecken" greifen nach russischem Ackerland (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 3 vom 20. Januar 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

"Heuschrecken" greifen nach russischem Ackerland
Zweite Runde der Konterrevolution in der Landwirtschaft

von Willi Gerns


Die in den Neunzigerjahren vom damaligen russischen Präsidenten Jelzin und seiner Mannschaft auf Geheiß ihrer "Berater" von IWF und Weltbank durchgeführten "Reformen" haben katastrophale Folgen für die Landwirtschaft Russlands gehabt.


Folgen der Jelzin-"Reformen"

Von den sozialistischen Großbetrieben auf dem Lande, den Kolchosen und Sowchosen, haben sich nur weniger als die Hälfte den mit der Konterrevolution entstandenen kapitalistischen Verhältnissen anpassen können. Waren 1990 noch 8,3 Millionen Menschen in den landwirtschaftlichen Großbetrieben beschäftigt, so waren es 2006 nur noch 2,2 Millionen. Es folgte eine Landflucht in die Städte, unzählige Dörfer sind verfallen, ganze Landstriche entvölkert oder nur noch von alten Leuten bewohnt. Hohe Arbeitslosigkeit und Alkoholismus sind allgegenwärtig.

Unter Putin und Medwedjew halten die Probleme in der Landwirtschaft an. In Russland gibt es 402 Mio. Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. 115 Mio. davon sind Ackerland. Allein in den letzten 10 Jahren wurde ein Drittel (42 Mio. Hektar) des fruchtbaren Landes brach gelegt oder für andere Zwecke verwandt. ("Rossiskaja Gazeta", 5. 10.) Während zu Zeiten der Sowjetunion fast 20 Prozent des Staatsbudgets für die Landwirtschaft ausgegeben wurden, war es in der Russischen Föderation 2010 nur etwa 1 Prozent. Erzeugte der Agro-Industrie-Komplex in der Sowjetunion 20 Prozent der Bruttoproduktion der UdSSR, so sind es im heutigen Russland dagegen nur noch 8,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wurden in der Zeit des letzten 5-Jahrplans 1986-1990 105 Mio. Tonnen Getreide produziert, so waren es 2006-2010 gerade mal 80 Mio. Tonnen. Auch der Viehbestand ist beträchtlich zusammengeschmolzen. So beträgt er bei Rindern und Schafen heute nur noch ein Drittel des Bestandes von 1990. Im Gefolge müssen 53 Prozent der Nahrungsmittel für 35 Mrd. Dollar jährlich importiert werden. (Nach Angaben der KPRF)

Als Ergebnis der Konterrevolution haben sich die Strukturen der russischen Landwirtschaft von Grund auf verändert. In einem "Russische Landwirtschaft im Umbruch" überschriebenen Internet-Beitrag werden drei sich stark unterscheidende Sektoren genannt: 28 000 Großbetriebe, die 80% der Fläche bewirtschaften; 260 000 Privatbauernbetriebe, die 8% der Fläche bearbeiten; und rund 20 Millionen Nebenerwerbsbetriebe, die etwa 5% der Fläche auf kleinen Parzellen bewirtschaften, aber rund 50 Prozent des Endrohertrages der Landwirtschaft produzieren. Ihre Produkte dienen vorwiegend dem Eigenbedarf, Überschüsse gehen auf den Markt. (cmirenin.com/de/main/article/12)


Großinvestoren erobern die Landwirtschaft

In dem Aufsatz "Die russische Landwirtschaft im Privatisierungsprozess: vom Kolchos zum Investorenarchipel?" von Peter Lindner und Alexander Vorbrugg, der in den Russland-Analysen Nr. 229 v. 18. 11. 2011 veröffentlicht wurde, wird der Sektor "Großbetriebe" detaillierter aufgeführt. Zu ihm gehören danach die ehemaligen Kollektivbetriebe; börsennotierte Betriebe, die ursprünglich nicht aus der Landwirtschaft kommen und denen es vor allem um eine möglichst hohe Rendite ihrer Investitionen geht; verarbeitende Betriebe; und Investoren, die nur temporär Geld parken und auf Baulandausweisungen spekulieren o. ä. (S. 4) Zumindest die "Geld-Parker", aber auch andere landwirtschaftsfremde Großinvestoren kann man sicher der Spezies "Heuschrecken" zuordnen.

Als allgemeine Ursachen dafür, dass sich Großinvestoren der Landwirtschaft zuwenden, nennen die Autoren vor allem den rasanten Anstieg der Weltmarktpreise für Lebensmittel und die wachsende Inanspruchnahme von Agrarflächen für Biotreibstoffe. Hinzuzufügen sind die gewaltigen finanziellen Mittel der Finanzinvestoren und anderen Konzerne die auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten sind und in ihrer unstillbaren Gier nach Höchstprofit sich immer neue Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft untertan machen. Als spezifische Gründe für das besondere Interesse an der russischen Landwirtschaft wird auf die z.T. riesigen ungenutzten landwirtschaftlichen Flächen und die im Vergleich zu anderen Ländern extrem niedrigen Hektarpreise hingewiesen. Nicht unerwähnt bleiben sollte aber auch das zur Verfügung stehende umfangreiche Potential gut ausgebildeter landwirtschaftlicher Fachkräfte, die teils noch zu Zeiten der Sowjetunion gerade in der Bewirtschaftung großer Flächen und Tierbestände wertvolle Erfahrungen sammeln konnten sowie das im Vergleich zu vielen anderen Ländern noch niedrige Lohnniveau.


Ausländische Investitionen legen zu

Gemäß den Quellen, auf die sich Lindner und Vorbrugg stützen, verfügen Agrarholdings in Russland derzeit über 17 Mio. Hektar oder knapp 20% aller von Groß- und Mittelbetrieben genutzten Flächen sowie von deren Beschäftigten. Werden davon die als "staatlich" qualifizierten Betriebe abgezogen, verbleiben immerhin noch 10% der Fläche und der Beschäftigten. Im Schwarzerdegebiet werden jedoch - je nach Quelle - bereits 25% bzw. sogar 40-45% der Flächen von Agrarholdings bewirtschaftet. (S.4) Es wird darauf hingewiesen, dass Investitionen aus dem Ausland in den letzten Jahren rasant gestiegen sind, obwohl Ausländer bisher Agrarland nicht als Eigentum erwerben dürfen sondern gezwungen sind, Tochterunternehmen zu gründen, Anteile an russischen Unternehmen zu erwerben oder Land zu pachten. Die Schwierigkeiten beim Landkauf dürften aber ein wesentlicher Grund dafür sein, dass ausländische Direktinvestitionen bisher weniger in die Landwirtschaft im engeren Sinne als vielmehr in die Lebensmittelverarbeitung gehen. So flossen 2008, dem bisherigen Boomjahr, annähernd 900 Mio. USD ausländische Direktinvestitionen in die Landwirtschaft im engeren Sinne, aber fast 4 Mrd. USD in die Lebensmittelverarbeitung. Nach dem krisenbedingten Absturz 2009 waren es 2010 wieder 446 Mio. USD bzw. 2,8 Mrd. USD. (Nach Tabelle 7 auf S. 9)

Die Autoren machen in ihrem Beitrag auch auf die ökonomischen und politischen Folgen aufmerksam, die die dargelegten Entwicklungen nach sich ziehen können: "Im ländlichen Raum Russlands, wo die wirtschaftliche Situation ganzer Landkreise primär von der Landwirtschaft abhängt, könnte demzufolge in Analogie zum 'Kolchos-Archipel' nun ein 'Investoren-Archipel' entstehen - eine Insellandschaft territorialer Einheiten, in denen ökonomische wie politische Entscheidungen faktisch von einzelnen Investoren getroffen werden, die damit in einem sehr umfassenden Sinn über die Lebensverhältnisse im ländlichen Raum bestimmen würden." (S. 5)


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, 3 vom 20. Januar 2012, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2012