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USA/269: Hoffnungsträger Barack Obama? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009

Hoffnungsträger Barack Obama?
Anmerkungen aus europäischer Sicht

Von Roland Benedikter


Über das neue Gesicht an der Spitze der Vereinigten Staaten darf sich auch "Old Europe" freuen: jünger, moderner und vor allem weltoffener. Doch wird Obama alles anders und vieles besser machen? Gerade in Zentraleuropa sollten wir uns hüten, ihn zu mystifizieren.


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Barack Obama hat Amerika und der Welt einen historischen Tag beschert. Ich habe ihn kurz vor seiner Wahl an der Westchester University in Pennsylvania getroffen. Er ist mit Abstand der begabteste, intellektuell gewandteste und fähigste Politiker, den ich je erlebt habe - ein charismatischer Redner von Natur aus, der mit der Magie der Worte Realitäten, gemeinsame Räume schaffen kann. Dies durchaus in der Tradition der griechischen Redner des Altertums, die ja an den angloamerikanischen Elite-Universitäten nach wie vor von größter Wichtigkeit sind. Wenn man seine Reden in "neutraler" Schriftform anschaut, sind sie oft plakativ und oberflächlich. Aber von ihm gesprochen, scheinen sie an Tiefe zu gewinnen. Was ist von Obama wirklich zu erwarten? Sehen wir dazu zunächst auf sein Profil.


Zwischen intellektuellem und politischem Profi

Obama weist ein Profil im Schnittpunkt zwischen Intellektuellem und politischem Profi auf, wollte lange Zeit als Professor für Rechtswissenschaften Karriere machen. Er hatte nicht nur ein Rechtsanwaltsbüro, sondern war in seinem Heimatstaat Illinois an der Universität Chicago, einer der führenden Elite-Universitäten des Landes, viele Jahre lang "Lecturer" für Verfassungsrecht (1992-2004). Er wäre aufgrund seines herausragenden Rufs problemlos in wenigen Jahren Professor geworden. Doch interessanterweise hat er nie auch nur einen relevanten Aufsatz veröffentlicht. Obama ist bis heute kein schreibender Intellektueller, sondern ein "mit dem Wort Begabter". Er verstand sehr schnell, dass er mit dem gesprochenen Wort viel mehr - auch für seine eigene Karriere - erreichen kann als mit der (akademischen) Schrift und entschied sich für eine Karriere in der Politik, als er seine Begabung zur Inspiration anderer während seiner Lehrtätigkeit entdeckte. Dazu kam etwa zeitgleich seine religiöse Konversion, die ihn zu einem zutiefst überzeugten, ja zum Teil fundamentalistischen Christen machte.

Dieser Werdegang hat nun einen jungen schwarzen Intellektuellen zum Präsidenten der USA gemacht. In der Tat: Nach den Bush-Jahren tut ein solcher Präsident richtig gut. Obama ist einer der ganz wenigen wirklichen Intellektuellen in den USA, die selbst Entscheidungsverantwortung übernehmen. Daraus kann sich einerseits durchaus eine neue Rolle für die US-Intellektuellen insgesamt ergeben.

Obama hat während seines Wahlkampfs systematisch alle wichtigen Universitäten der USA besucht und dort viel Zeit in die Diskussion mit Studenten, Professoren, Zivilgesellschaftern und Intellektuellen investiert. Im Unterschied zu seinem Vorgänger Bush und zu seinen internen Konkurrenten, vor allem zu Hillary Clinton, weiß er genau, dass das die Nachhaltigkeitsperspektive ist: dass die Meinungsmacher und Entscheidungsträger der kommenden Jahre an den Unis zu finden und zu gewinnen sind - und dass sie, weil sie die Elite sind, in der Tiefe überzeugt werden müssen. Denn Überzeugungen ändern sich nicht leicht, vor allem nicht solche, die im eigenen bewussten - und das heißt: dialogischen - Bildungsprozess geformt wurden. Diese Strategie hat Obama über 80% Zuspruch seitens der Studenten und der gebildeten Schichten eingebracht. Und sie wird ihm einen vergleichsweise stabileren Zuspruch während seiner Präsidentschaft sichern, als ihn der anti-intellektuelle George W. Bush je hatte.

Trotzdem ist Obama auch ein eiskalter politischer Profi, der seine Karriere bewusst geplant und zum Teil auch brutal durchgezogen hat. Sonst wäre er nie so schnell so weit gekommen. So servierte er z.B. seine wichtigste Förderin im Bundesstaat Illinois eiskalt ab, als er mächtig genug war, an ihre Stelle zu treten. Die Annahme, "dass er brutal genug ist, um ganz nach oben zu kommen" war in Illinois geradezu ein Sprichwort.

In Amerika und weltweit ist nun nach der Wahl dieses "politischen Intellektuellen" die Begeisterung zu Recht groß. In den akademischen Kreisen und in der amerikanischen Mittelschicht scheint mir die Stimmung aber unangemessen euphorisch zu sein. Obamas Sieg bedeutet zwar in der Tat einen intellektuellen Neuanfang für Amerika. Doch beginnt mit dem Tag seiner Wahl unweigerlich auch die Enttäuschung. Denn er wird der Mystifizierung, die ihn nach diesem Sieg nun begleitet, niemals gerecht werden können. Die Konstellation erinnert ein bisschen an John F. Kennedy. Er wurde als großer Hoffnungsträger und "Retter" gesehen, dessen Ausstrahlung eine ganze Gesellschaft verändert hat. Aber Kennedy hat die Welt verändert, weil er Symbol-Politik machte. Das heißt: Er selbst war die zentrale Botschaft: jung, begabt, modern, offen. Aber hinter den Kulissen war er mit mafiösen Kreisen liiert, die seine Macht ermöglichten und stützten, war er ein unbeholfener Diplomat, ein schlechter Familienvater und ein außerordentlich brutaler Machtmensch alter Schule.

Alle wichtigen Analytiker stimmen heute darin überein, dass nur sein früher Tod die Amerikaner vor der großen Enttäuschung bewahrt hat, in seiner zweiten Amtszeit sein wahres Gesicht kennen zu lernen. Kennedy steht für die zwei Seiten der Macht, und ich warne angesichts der Lehren aus seinem Fall davor, irgendeinen Politiker zu mystifizieren, weil das in keinem Fall der Realität entspricht. Politik ist die Kunst des Möglichen, und es gibt keinen "Retter". Es gibt nur Menschen, die das Beste versuchen. Das würde ich zum heutigen Tag auch Obama zugutehalten. Jede andere Sicht auf ihn halte ich für schwärmerisch und daher für wenig sinnvoll.


Vereint Widersprüchliches

Gerade in Zentraleuropa sollten wir uns deshalb hüten, Obama zu mystifizieren. Dass er Hoffnung stiftet, ist gut. Aber er vereint in seiner Politik auch widersprüchliche Positionen zwischen Glauben und Rationalität, zwischen regressiver und progressiver Spiritualität, zwischen Emanzipation und US-Traditionalismus. Die hunderttausend Menschen in Europa, die Obama in Berlin wie einem neuen Messias begegnet sind, waren aus meiner Sicht teilweise naiv, zum Teil auch peinlich für den alten Kontinent. In den USA hat das übrigens auch fast jeder so empfunden, weil die meisten Amerikaner wissen, dass Obama in seinem ideologischen und persönlichen Zentrum ein kirchengebundener Amerikaner alter Schule ist - "a true-blue, down-to-earth American". Ganz sicher aber kein Liberaler im säkularen europäischen Verständnis.

Obama ist vielmehr in vieler Hinsicht ein traditionalistischer Machtmensch, der das System, aus dem er kommt, zwar bis zu einem gewissen Grad weiterentwickeln will, doch keineswegs die Absicht hat, es fundamental zu erneuern. Er will Amerikas Vorherrschaft in der Welt zementieren. Sein Buch Hoffnung wagen. Gedanken zur Rückbesinnung auf den American Dream (Riemann Verlag 2008) spricht diesbezüglich Bände. Dort schreibt er von der "berechtigten kulturellen Bedeutung" von Waffen in seiner Heimat, der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der globalen Vorherrschaft Amerikas, der prinzipiellen geistigen Überlegenheit des christlichen Westens über alle anderen Zivilisationen (nicht: Kulturen).

Wohlgemerkt: Es geht um eine "Rückbesinnung", nicht um etwas wirklich Neues. Aber weltweit sind sich die Beobachter einig, dass die Zeit der US-Weltherrschaft, der einzigen Supermacht und ihrer nach dem Fall der Berliner Mauer einseitig verkündeten "Neuen Weltordnung" zu Ende geht. Eine multipolarere Welt ist im Entstehen. Obamas Siegesrede, in der er darauf verweist, Amerikas Rolle in der Welt wiederherzustellen, ist historisch überholt.

Obama will, wie Amerika insgesamt, Gleichheit institutionalisieren. Das ist der amerikanische Traum: Alle dürfen gleich sein. Dies hat Amerika zwar nie erreicht, darin liegt aber das Ringen dieser Zivilisation. Europa hat einen anderen Traum, wie paradoxerweise vor allem der Amerikaner Jeremy Rifkin herausgearbeitet hat: Alle dürfen verschieden sein. Europa will Diversität institutionalisieren. Daraus ergeben sich, wenn auch im Rahmen derselben Bemühung im Gefolge der amerikanischen und französischen Revolution, unterschiedliche kulturelle Schwerpunkte. Meiner Meinung nach ist der europäische Traum qualitativ weiter fortgeschritten als der amerikanische. Deshalb ist für mich Obama nicht der große Neuerer. Er verfolgt die "Rückbesinnung" auf einen Traum, über den Europa bereits hinaus ist.

Oft wurde in Europa auch die Hoffnung geäußert, nun werde endlich eine Art Sozialdemokrat Präsident der USA. Doch Obama ist - nach europäischen Maßstäben - ganz sicher kein Linker. McCains Warnung vor dem "Sozialismus" Obamas war nur Teil von dessen durch und durch verpatztem Wahlkampf. Obama ist eher ein religiöser Mittelschichtvertreter mit starkem Rassen- und Emanzipationsbewusstsein, der allerdings selbst viele Millionen Dollar pro Jahr verdient und daher politisch-ökonomisch der konservativen Oberschicht angehört, wie übrigens fast jeder US-Präsidentschafts-Kandidat. Das ist eine Mischung, die man sich in Kontinentaleuropa nur schwer vorstellen kann. Obama ist in vielerlei Hinsicht ein (produktiver) Widerspruch in sich selbst: zwischen Religion und Modernität, zwischen Tradition und Erneuerung, zwischen Einkommens-Überschicht und strukturell benachteiligten Schwarzen, zwischen Rassen-Bewusstsein und nach wie vor protestantisch-weißem, englischsprachigem (statt mehrsprachigem) Einheits-Anspruch der USA. Auf diese Widersprüche sollten wir als "kantianische", das heißt jedem Vernunftanspruch gegenüber (selbst-)kritisch gesinnte Europäer achten.

Diese Wahl bedeutet auch nicht das Ende des schrankenlosen Neoliberalismus, wie viele Progressive in Europa erhoffen. Obama ist ein überzeugter Vertreter des US-Kapitalismus, der das System nicht verändern, sondern nur berechenbarer und für die Allgemeinheit zugänglicher machen möchte. Aber möglicherweise wird, unabhängig von dieser Wahl, mit der globalen Finanzkrise das viel und oft vorhergesagte Ende des Neoliberalismus erste Schritte machen. Dass wir in einer globalen Systemverschiebung im vierdimensionalen Spannungsfeld zwischen Wirtschaft (Krise des Neoliberalismus), Politik (Krise der Neuen Weltordnung), Kultur (Krise der Postmoderne) und Religion (globale Renaissance der Religionen) leben, steht für mich außer Frage. Diese vierdimensionale Systemverschiebung ist sogar die wichtigste und spannendste Entwicklung der Gegenwart, von der auch Europa nicht unberührt bleiben wird. Inwieweit Obama darauf Einfluss nehmen wird und kann, ist derzeit schwer zu sagen. Die Wahl an sich ist dafür meiner Meinung nach nicht von Belang.


Wichtige Symbolwirkung

Skeptiker haben bis zuletzt bezweifelt, dass Amerika reif für einen Schwarzen im Weißen Haus sei und befürchtet, dass viele weiße Wähler in den Wahlkabinen ihren rassistischen Ressentiments freien Lauf lassen würden. Samuel P. Huntington, einer der wichtigsten Meinungsmacher in den USA, ruft in seinem Buch "Who are we? Die Krise der amerikanischen Identität" (2004) nach den klassischen WASP-Eigenschaften (weiß, englischsprachig, protestantisch), um den Weiterbestand des amerikanischen Weltreiches zu sichern. Es muss sich angesichts dieser in führenden US-Kreisen weiterhin weit verbreiteten Überzeugung eines konstitutiven Zusammenhangs zwischen WASP-Eigenschaften und Stellung der USA erst erweisen, ob Obama, über die allgemeine Symbolwirkung hinaus, nur ein Durchbruch an der Spitze war, oder ob nun ein Durchbruch auch an der Basis folgen wird. Obamas Sieg ist aber ein wichtiges Symbol; und dieses kann durchaus dazu beitragen, das US-Gesellschaftssystem tatsächlich zu verändern. Denn Symbol-Politik hat im 21. Jahrhundert als verwirklichte Kulturpolitik in vielen gesellschaftspolitischen Fragen eine viel größere Wirkung als Real- oder Machtpolitik. Obama selbst ist vielleicht die wichtigste Botschaft. Die Tatsache der bis dahin für unmöglich gehaltenen Präsidentschaft eines jungen schwarzen Intellektuellen wird das System der USA weiterentwickeln - vermutlich mehr als Obamas einzelne Handlungen. Und das wird, so steht zu hoffen, für die ganze Welt ein Vorteil sein.


Roland Benedikter (* 1965) ist derzeit Visiting Research Scholar am European Institute der Columbia University New York, USA, und Visiting Professor an der School of Global Studies, Social Science and Planning der Royal Melbourne Institute of Technology University Melbourne, Australien.
rolandbenedikter@yahoo.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009, S. 17-21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2009