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BERICHT/029: Chancengleichheit, Bildung und Verteilungsgerechtigkeit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010

Chancengleichheit, Bildung und Verteilungsgerechtigkeit

Von Christoph Ehmann


"Ein renommierter Gerechtigkeitsgrundsatz lautet, dass die Interessen der am wenigsten Begünstigten vorrangig zu berücksichtigen sind. Aber Gerechtigkeit ist kein göttlicher Plan. Jede Gesellschaft muss sich darüber verständigen, wie sie gemäß ihren normativen Überzeugungen auf eine bestimmte Situation reagiert."
(Friedhelm Hengsbach SJ.)


Folgt man den programmatischen Verlautbarungen der demokratischen Parteien, so herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, was Gerechtigkeit im Bildungswesen heißen soll: Alle wollen in die frühkindliche Förderung investieren; Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Familien sollen besonders gefördert werden. Jeder Jugendliche soll einen Ausbildungsplatz bekommen können. Bis zu 40, gar 50% sollen die Hochschulreife erlangen. BAföG wird erhöht. Die "am wenigsten Begünstigten" werden, so soll es sein, "vorrangig" berücksichtigt. Soweit zu den Beschlüssen und Programmen. Nun zur Alltagspraxis.


Die Alltagspraxis

Beispiel 1: Kita-Beiträge:
Angesichts der Auswirkungen der schwarz-gelben Steuerreform werden die Gemeinden wohl noch für eine Weile darauf angewiesen sein, "einkommensabhängig" Kita-Beiträge zu erheben, die die Beitragszahler nicht mit den gleichen absoluten Beträgen, sondern mit dem gleichen prozentualen Anteil am Haushaltseinkommen belasten sollen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat dazu eine zwar zeitlich schon etwas zurückliegende, aber in ihrer generellen Aussage nach wie vor gültige Auswertung gemacht. Dabei wurden die Haushalte in fünf Einkommensgruppen eingeteilt (1. Quintil = niedrigste Einkommensgruppe).


Belastung der Haushaltseinkommen durch Kita-Gebühren und 
 Inanspruchnahme in Prozent der Anspruchsberechtigten

1. Quintil
2. Quintil
3. Quintil
4. Quintil
5. Quintil

Anteil am HE 4,1%
3,3%
3,3%
3,0%
2,3%

Inanspruchnahme 34,0%
44,1%
47,5%
42,4%
33,6%

Quelle: Wochenbericht des DIW 18/2000 vom 4.5.2000


Die 4,1% Anteil am Haushaltseinkommen der einkommensschwächsten Gruppe vermindert deren Möglichkeiten zur Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse. Hingegen sind die 2,3% von dem 5. Quintil unschwer zu verkraften. Die niedrigere Belastung der höheren Einkommen kommt dadurch zustande, dass die Kita-Beiträge ab einer bestimmten Höhe - in Hamburg waren dies 2009 z.B. 383 Euro pro Monat - nicht mehr gesteigert werden. Doch eine solche schlagzeilenträchtige Belastung entsteht bei niemandem. Kita-Beiträge können seit 2006 bei der Steuer bis zu einer Höhe von 4.000 Euro pro Jahr geltend gemacht werden. Das bedeutet für die höchste Einkommensgruppe eine faktische Senkung der schon unterdurchschnittlichen Belastung um bis zu 1.800 Euro pro Jahr oder 150 Euro pro Monat. Die 383 Euro sind also eine "Phantomzahl".

Für Familien mit niedrigem Einkommen wird es finanziell reizvoll gemacht, ihre Kinder nicht in die Kitas zu schicken und somit "freiwillig" auf eine pädagogisch qualifizierte frühkindliche Förderung zu verzichten. Die Folgen dieser für die Bildungslaufbahn mit entscheidenden Frühselektion sind seit Jahrzehnten bekannt. Da die Beiträge in Ministerien und Parlamenten seit Jahrzehnten so gemacht werden, wie sie gemacht werden, darf man wohl davon ausgehen, dass diese Folgen von einer stabilen Mehrheit politisch gewollt waren und sind.

Beispiel 2: Schulgeldfreiheit:
Die Schulgeldfreiheit an öffentlichen Schulen ist mittlerweile unbestritten. Auch dass private Schulen öffentlich gefördert werden, stößt bei keiner Partei mehr auf Widerspruch. Da es sich um keine Vollförderung handelt, erheben auch nicht-kommerziell betriebene Privatschulen Schulgeld. Doch es sind nicht vornehmlich die konfessionellen oder Waldorfschulen mit 100 bis 250 Euro monatlichem Schulgeld, für die der Staat nun helfend einspringt. Der Beschluss der Großen Koalition aus 2008 ermöglicht es den Steuerzahlern, 30% des Schulgeldes, max. 5.000 Euro, jährlich steuerlich geltend zu machen. Um diesen Steuervorteil voll nutzen zu können, muss schon monatliches Schulgeld in Höhe von rd. 1.400 Euro anfallen.

Nun werden Privatschulen seit einiger Zeit schon nicht mehr nur wegen eines "besonderen pädagogischen Interesses" (Art 7,5 GG) gegründet. Vielmehr dienen sie mehr und mehr dazu, dem eigenen Kind den Kontakt mit "Schmuddelkindern" gleich welcher Herkunft zu ersparen. Damit aber erlaubt der Staat nicht nur die "Sonderung der Schüler an Privatschulen nach den Besitzverhältnissen der Eltern", obwohl gerade dies nach Art. 7,4 GG ausgeschlossen sein muss, sondern er fördert die soziale Spaltung der Bevölkerung, weil er zwar Steuererleichterungen für wohlhabende Eltern gewährt, aber nicht auf eine angemessene Bereitstellung von schulgeldfreien Plätzen für Kinder aus einkommensschwachen Familien besteht. Nimmt man den Anteil der BAföG-Empfänger als Maß, wären 30% schulgeldfreie Plätze "sozial angemessen".

Beispiel 3: Studentenförderung:
Deutschland ist zwar das Land, das seine Studierenden bzw. deren Eltern besonders großzügig fördert: Zwischen 55 (hohes Einkommen) und 57 (niedriges Einkommen) % der studentischen Lebenshaltungskosten, einschl. Krankenversicherung, stammen aus öffentlichen Zuwendungen, einschließlich Steuererleichterungen bei den Eltern. In den Niederlanden sind dies nur 17 bzw. 26%, in England 12 bzw. 21% und in Spanien gar nur 4 bzw. 14% (Astrid Schwarzenberger: Public/Private funding of higher education: a social balance, 2008). Die nahezu gleiche Förderung für Studierende aus den höchsten und den niedrigsten Einkommensgruppen (in 2006: 4.523 bzw. 4.696 Euro) ergibt sich, weil die Höhe der steuerlichen Entlastungen aufgrund des Studentenstatus des Kindes bei wohlhabenden Eltern nahezu identisch ist mit der Höhe der aus sozialen Gründen gezahlten Stipendien.

Wenn auch aus unterschiedlichen Quellen und mit unterschiedlichen Begründungen: In Deutschland werden alle gleich gefördert. Das stabilisiert die soziale Ungleichheit.


Die Ursachen

1. Leitmotiv Ausgrenzung:
Es ist in den letzten Jahrzehnten viel Geld für Bildung ausgegeben worden, nicht nur seitens der Arbeitsverwaltung, z.B. für Alphabetisierungsmaßnahmen und Hauptschulabschlusskurse. Große zusätzliche Beträge mussten auch die Bildungsministerien aufwenden, um das immer geringer werdende Engagement der Wirtschaft in der Berufsausbildung zu kompensieren. Dieses Geld fehlte logischerweise im "normalen" Schulbetrieb mit der Folge, dass die Zahl der jungen Leute, die in Ersatzmaßnahmen wie BVJ, BVK und einigen einjährigen Fachschulen "nachgebessert" werden sollten, anstieg.

Und in einen zweiten Bereich flossen erhebliche Beträge: 13.000 der in den letzten 20 Jahren zusätzlich geschaffenen 20.000 Lehrerstellen sind in den Bereich der "Förderschulen" gegangen. Das war ein Zuwachs von 57.000 auf 70.000 Stellen. Diese Stellen gingen fast ausschließlich an die Förderschulen "für Lernbehinderte" - oder wie sie offiziell heißen: "Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen". Auf solche Förderschulen gehen z.B. in Berlin nahezu genauso viele Schülerinnen und Schüler wie auf Hauptschulen. Der Unterschied ist nur, dass die Kosten pro Kind in der Förderschule doppelt so hoch sind wie in der Hauptschule, ohne dass die Chancen der Förderschüler auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz wenigstens halb so groß wären.

Das ist auch gar nicht beabsichtigt. Denn jeder Mann und jede Frau in Politik und Bildungsverwaltung weiß, dass Förderschüler - ebenso wie der Großteil der in Ersatzmaßnahmen "verwahrten" Jugendlichen - nachhaltig stigmatisiert sind. Und das lässt man sich auch was kosten, unter der Bedingung, dass diese "Förderung" zur nachhaltigen Ausgrenzung dieser Personengruppe, zu ihrem gesicherten Verbleib im "Prekariat", in "Hartz IV-Karrieren" führt.


Ausgrenzung verfestigt

Es ist diese Ausgrenzungsideologie, die das herausragende Kennzeichen des deutschen Bildungswesens ist. Sie manifestiert sich in zweierlei Weise. Eine trägt pädagogische Züge:

2. Eine verquere Pädagogik:
Ein Glaubenssatz der deutschen Schulpraxis ist der, dass es sich in leistungshomogenen Klassen am besten lehren und lernen ließe. Das gesamte Schulsystem ist darauf abgestellt, diese Lern- und Leistungshomogenität im Klassenverband herzustellen: Schuleingangstest, Sitzenbleiben, dreigliedriges Schulsystem, Förderschulen, Abstufungen etc.

Auffallend ist nun, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen über den Erfolg von lern- und leistungshomogenen Klassen aus den letzten 30, 40 Jahren so gut wie nicht zu finden sind. Hingegen füllt die Literatur über die positiven Ergebnisse mit leistungsheterogenen Lerngruppen ganze Bibliotheken. Doch die Bildungspolitik und -verwaltung ist der Wissenschaft bislang nicht gefolgt. Der Grund dafür ist, dass der fortdauernde Versuch der Herstellung lern- und leistungshomogener Klassen den politisch gewünschten, weil höchst sozial-selektiven Charakter des deutschen Bildungswesens zu legitimieren scheint. Dieses Denken der "Sozialen Selektion durch Bildung" hat Tradition.

3. Aufstieg durch Bildung:
Das deutsche Bildungssystem war zunächst ständisch gegliedert. Auch seine Expansion in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte nichts mit der Durchsetzung demokratischer Ideen zu tun, sondern war ökonomisch begründet, und war mit Sprüchen wie "Aufstieg durch Bildung" und "freie Bahn dem Tüchtigen" auch von Seiten der SPD und der Gewerkschaften vorangetrieben worden. Negativ formuliert bedeutete das, den "Untüchtigen" weniger "freie Bahn" zu lassen und die "Bildung" vor allem für Aufsteiger zu reservieren. Erst nach 1965, im Anschluss an Ralf Dahrendorfs Schrift Bildung als Bürgerrecht, wurde Bildung - zumindest einige Jahre lang - als ein Gut verstanden, das allen Menschen zugänglich sein müsse, was die besondere Förderung der am wenigsten Begünstigten einschloss.

Doch die jüngste Kampagne der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, der sich offensichtlich alle Parteien und Verbände problemlos angeschlossen haben, steht wiederum unter dem Motto "Aufstieg durch Bildung".

Wenn aber Bildung vorrangig dem Aufstieg dienen soll, dann werden Bildungsprozesse vor allem zu einem Ausleseverfahren, bei dem Viele zurückbleiben sollen. Wer Bildung unter das Motto "Aufstieg" stellt, macht die Ausgrenzung zur zwangsläufigen Konsequenz.


Gezielte Förderung

Die Bereitschaft zur Ausgrenzung und zur Herstellung von Homogenität, also Einheitlichkeit, ist etwas völlig anderes als die Förderung besonderer Begabungen und Fähigkeiten. Sowohl die Förderung Benachteiligter als auch die Förderung besonderer Begabungen verlangt die Akzeptanz von Heterogenität, die individuelle Förderung.

Es ist vermutlich immer so, dass zu wenig Geld da ist. Deshalb haben Politiker den Auftrag, Entscheidungen, auch schwierige, zu treffen. Wenn Deutschland ein sozialer Bundesstaat bleiben oder werden will, so müssen Politiker soziale Gerechtigkeit anstreben, also, um noch einmal Hengsbach zu zitieren, "die Interessen der am wenigsten Begünstigten vorrangig" berücksichtigen. Konkret heißt dies: Einige mit staatlichen Mitteln zu fördern, weil sie sonst zu wenig hätten, und die vielen anderen, die sich selber helfen können, eben nicht.

Das verlangt von den Regierenden neben fachlicher Kompetenz, die sich vor allem im Verstehen der Wirkungszusammenhänge zeigt, vor allem politischen Mut, Verteilungsgerechtigkeit zu wollen. Es fehlt an beidem.

Christoph Ehmann (* 1943) ist Honorarprofessor für Erwachsenen- und Weiterbildung an der Philipps-Universität Marburg sowie ehrenamtlicher Generalsekretär der European University Foundation - Campus Europae, Luxemburg.
christoph-ehmann@t-online.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010, S. 46-50
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2010