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INTERNATIONAL/030: Bildung in Afghanistan ist besser als ihr Ruf (idw)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Juli 2013

Afghanistan:
Bildung besser als ihr Ruf - Mehr Mädchen, mehr Schulen, mehr Qualität

Von Shelly Kittleson


Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Schüler am Afghanischen Nationalinstitut für Musik
Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Kabul, 4. Juli (IPS) - In Afghanistan reißen Berichte über Gasanschläge auf Mädchenschulen, fehlende Klassenräume und unzureichende Unterrichtsmaterialien nicht ab. Doch das Bildungssystem ist Experten zufolge viel besser als sein Ruf.

Viele Afghanen kritisieren, dass die positiven Entwicklungen im Bildungsbereich nicht angemessen gewürdigt werden, und erinnern daran, dass während der Herrschaft der Taliban gerade einmal 5.000 Mädchen an Schulen angemeldet waren. 2011 waren es bereits 2,4 Millionen.

"Die weniger offensichtlichen Veränderungen werden überhaupt nicht zur Kenntnis genommen", bemängelt der ehemalige Menschenrechtskommissar Nader Nadery. Immerhin sei es unter großen Anstrengungen gelungen, Krieg und Gewalt verherrlichende Darstellungen aus den Schulbüchern zu verbannen.

Nadery, der derzeit der Stiftung für freie und faire Wahlen vorsitzt, erinnert sich noch gut an den Schulstoff der Jahre 1996 bis 2001. Selbst der Mathematikunterricht sei nicht verschont worden, sagt er und bringt ein Rechenbeispiel aus Taliban-Zeiten: "Wenn du aus einem Gewehr schießt und die Kugel in einer Geschwindigkeit x auf einen Soldaten in 500 Meter Entfernung zufliegt - wie lange dauert es, bis er tot ist?"

Nadery zufolge ist es der unermüdlichen Arbeit der Menschenrechtsgremien zu verdanken, dass die Schulbücher von 2006 bis 2007 überholt worden sind. Das hat dazu geführt, dass Sätze wie 'Jungen spielen Fußball und Mädchen holen Wasser und spülen das Geschirr', die ein stereotypes Rollenverständnis vermitteln, gestrichen wurden.

Dem Sprecher des Bildungsministeriums, Amanullah Eman, zufolge werden die Schüler im Lande nun an Themen herangeführt, die unter den Taliban tabu waren, wie etwa Toleranz oder die Gefahren des Drogenkonsums. Auch Englisch- und Computerkenntnisse werden an den staatlich finanzierten Religionsschulen vermittelt, an denen zwei Prozent der afghanischen Schulkinder einschließlich 15.000 Mädchen unterrichtet werden. "Und die arabischsprachigen Religionsbücher haben wir alle in die beiden Nationalsprachen Dari und Paschtu übertragen", fügt Eman hinzu.


Zunahme privater Bildungseinrichtungen

Auch verbucht Afghanistan seit einigen Jahren einen kräftigen Zuwachs privater Schulen und Universitäten. Die bekannteste ist das Kardan-Institut für höhere Bildung, das 2003 von vier Afghanen gegründet wurde. "Damals verfügte die erste und einzige private Institution im Lande lediglich über einen einzigen Raum, wie der Rechtsberater der Hochschule, Hamid Saboory, berichtet.

An dieser alternativen Bildungsanstalt können Studenten Schnellkurse in Fächern wie Finanzwissenschaften und Betriebswirtschaft belegen. Das Kardan-Institut gehört zu den angesehensten der mehr als 70 privaten Bildungseinrichtungen, die beim Ministerium registriert sind.

In den ländlichen Gebieten jedoch sind Bildungseinrichtungen oftmals unzugänglich. In einigen entlegenen Regionen fehlt es an qualifizierten Lehrern. Hier sind die Kinder auf Unterrichtseinheiten angewiesen, die vom Fernsehen ausgestrahlt werden.

An der Al-Biruni-Universität in der nordöstlichen Provinz Kapisa kommt es häufig zu Stromausfällen. Auch gibt es in den Schlafsälen oft tagelang kein fließendes Wasser, wie Studentinnen der juristischen Fakultät berichten. Doch die Präsenz so vieler junger Frauen aus entfernten Provinzen wie Farah im Westen und Jowjzan im Norden ist ein vielversprechendes Zeichen dafür, dass sich die Zeiten ändern.

Payvand Seyedali, ehemalige Geschäftsführerin der Organisation 'Aid Afghanistan for Education' (AAE), ist der gleichen Meinung. Gleichwohl unterstreicht sie die Notwendigkeit, ein Gesetz abzuschaffen, dass verheirateten Afghanen das Recht abspricht, das öffentliche Schulsystem zu nutzen. "Das Verbot hat gerade für Mädchen, die im Alter von 13, 14 oder 15 Jahren verheiratet werden, ernstzunehmende negative Konsequenzen", sagt sie. "Denn damit werden sie zum Schulabgang gezwungen."


Männer für Mädchenbildung

Die AAE-Schulen versuchen gerade diese Mädchen zu erreichen. Wie Seyedali berichtet, sind es oftmals die Männer, Brüder und Väter, die ihre weiblichen Angehörigen ermutigen, mit ihrer Ausbildung weiterzumachen. "Manchmal machen sie das sogar zur Bedingung für eine Eheschließung."

Ein Bildungsexperte, der anonym bleiben will, hält die Vorstellung von einem inklusiven Bildungssystem für unrealistisch. 42 Prozent der 35,2 Millionen Afghanen seien Paschtunen, 27 Prozent Tadschiken und jeweils neun Prozent Usbeken und Hazara. Wie er berichtet, hat eine Überprüfung von Schulbüchern für die achte Klasse ergeben, dass es sich bei den genannten Personen, Gruppen und Dynastien ausschließlich um Paschtunen handelt.

Dass die Darstellung der letzten 40 Jahre in den Geschichtsbüchern fehlt, begründet die Regierung mit der Notwendigkeit, die nationale Einheit zu fördern. So besteht nach Ansicht des Vizeministers für technische Berufe und Ausbildung (TVET), Mohammad Asif Nang, die Gefahr, dass die Kinder der Parteien, die an dem blutigsten Teil des afghanischen Bürgerkrieges mitgewirkt hätten, am Ende aufeinander losgingen.

Wie der Vizeminister hervorhebt, werden in Afghanistan jeden Tag durchschnittlich fünf Schulen gebaut und die Lehrer ständig fortgebildet. Er warf den Medien vor, nur die Fehler des Bildungssystems zu sehen und die Folgen maßlos zu übertreiben. Zu viel negative Presse sorge dafür, dass sich der Aufbau des Staates weiter verzögern werde. (Ende/IPS/kb/2013)


Link:

http://www.ipsnews.net/2013/06/education-in-afghanistan-the-good-the-bad-and-the-ugly/

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IPS-Tagesdienst vom 4. Juli 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2013