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INTERNATIONAL/045: Syrien - Unterricht im Untergrund (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Dezember 2014

Syrien:
Unterricht im Untergrund - Kinder in Aleppo lernen inmitten von Trümmern

von Shelley Kittleson


Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Kinder in Aleppo werden in Kellern unterrichtet
Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Aleppo, 17. Dezember (IPS) - In der umkämpften syrischen Stadt Aleppo sitzen die Kinder bereits seit Oktober im Mantel im Schulunterricht, der aus Sicherheitsgründen in kalten und feuchten Kellergeschossen abgehalten wird. Dort sind die Schüler vor Fassbomben und Luftangriffen zwar halbwegs sicher, nicht aber vor den für die Jahreszeiten typischen Virenattacken.

Medizinische Hilfe zu finden, ist nicht einfach, da die meisten Ärzte und Pflegekräfte entweder tot oder aus der Stadt geflohen sind. Aleppo kann man zurzeit nur über eine gefährliche Straße verlassen, die gen Norden zur türkischen Grenze führt, wo die Gesundheitsversorgung besser ist.


Schulweg durch eine Trümmerlandschaft

Kinder, die sich morgens in Aleppo auf den Schulweg machen, kommen an Schaufenstern vorbei, die bei Luftangriffen geborsten sind. Schilder von Modegeschäften, Brautausstattern und Friseuren wurden von den Extremisten der Gruppe Islamischer Staat (IS) mit schwarzer Farbe besprüht, als sie kurzzeitig das Gebiet kontrollierten. Inzwischen sind die Islamisten von Rebellen verdrängt worden.

Die Dschihadisten setzen aber alles daran, die Region wieder in ihre Gewalt zu bringen. Die nächstgelegene Kampffront befindet sich in Marea, nur etwa 30 Kilometer entfernt von den Teilen Aleppos, in denen die Opposition die Oberhand hat.

Die Kinder sehen auch die Zerstörungen, die von den Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad verursacht wurden. Ein paar Häuserblocks vom Elternhaus entfernt kommen sie an Gebäuden vorbei, die durch Bomben völlig verunstaltet wurden. Unter ungesicherten Überresten von Stockwerken bieten Obst- und Gemüsehändler ihre Ware an. Hoch oben in den Trümmern ist eine rosafarbene Toilette und Teil eines Sofas zu erkennen.


Comics an den Wänden

Nur wenige Jungen und Mädchen, die gemeinsam die Grundschule besuchen, scheinen die Kriegsschäden zu schockieren. Viele lachen, während sie dicht an dicht auf den Holzbänken in dem überfüllten Klassenraum sitzen, der Ähnlichkeit mit einer Gruft hat. Zwei Schüler, die sich um die Schulter fassen, singen aus voller Kehle. Einige Wände seien himmelblau gestrichen oder dekoriert worden, um die Kinder aufzuheitern, sagt ein Lehrer. Auf dem Mauerwerk des Korridors kleben Comiczeichnungen.

Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Singende syrische Kinder in einem behelfsmäßigen Klassenraum
Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Der Unterricht im Untergrund geht jeden Tag von neun Uhr morgens bis ein Uhr mittags. Die ehemalige Ingenieursstudentin Zakra unterrichtet jetzt Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften. Dafür erhält sie im Monat umgerechnet 50 US-Dollar. Alle 15 Lehrkräfte sind Frauen, in schwarze Gewänder gehüllt. Einige bedecken auch ihr Gesicht. Fotografen sind hier unerwünscht, da viele von ihnen Verwandte haben, die noch in den vom Regime beherrschten Gebieten leben.

"Die Schule hat letztes Jahr eröffnet", berichtet Zakra. "Zwischen Oktober 2013 und diesem Juli fand kein Unterricht statt, weil der Schulweg für die Kinder wegen der Bombenanschläge zu gefährlich war." Die junge Lehrerin will irgendwann ihr Studium in der Türkei fortsetzen. Wann sie Aleppo verlassen kann, weiß sie nicht. Denn dafür braucht man Geld. Auch die älteren Schüler sind auf sich gestellt, denn die Schule unterrichtet lediglich die Sechs- bis 13-Jährigen.


80 Prozent der Schulen in Aleppo nicht mehr zu nutzen

Mahmoud Al-Qudsi, Leiter des Bildungsreferats im Stadtrat von Aleppo, berichtet, dass in dem Stadtgebiet noch etwa 115 Schulen Unterricht abhalten. Die meisten Klassenräume wurden provisorisch in Erdgeschosswohnungen oder Kellern eingerichtet. Nur etwa 20 Prozent der eigentlichen Schulgebäude könnten weiterhin genutzt werden, sagt Al-Qudsi. Vor Beginn des Volksaufstandes in Syrien gab es in Aleppo und Umgebung etwa 750 Schulen.

Die syrischen Regierungstruppen haben seit Beginn des Konflikts gezielt Schulen und Krankenhäuser in den Teilen der Stadt angegriffen, in denen die Opposition die Oberhand hat. Die Bewohner bemühen sich daher, die Lage der provisorischen Bildungseinrichtungen geheim zu halten. Abiturienten bereiten sich zu Hause auf ihre Prüfungen vor. Die Termine für die Examina Ende Juni und Anfang Juli werden über den lokalen Fernsehkanal 'Aleppo heute' verbreitet, der aus der türkischen Stadt Gaziantep sendet. Die Zeit- und Ortsangaben sind auch auf Plakaten zu finden, die über Aleppo verteilt aufgehängt werden.

Die Abschlussprüfungen würden derzeit in der Türkei, in Libyen und in Frankreich anerkannt, sagt Al-Qudsi. "Französische Universitäten haben im vergangenen Jahr jedoch nur fünf unserer Schüler angenommen." Der Lehrplan richtet sich weitgehend nach den Vorgaben des Regimes. Die früheren Lobeshymnen auf die Assad-Familie sind jedoch gestrichen worden. Im Religionsunterricht lernen die Kinder jetzt, dass "der Kampf gegen das Regime eine religiöse Pflicht ist."


Kein Geld für neue Schulbücher

Wie Al-Qudsi erläutert, können die Lehrpläne derzeit nicht geändert werden. "Alle Syrer sollen darüber mitentscheiden. Angesichts der Lage im Land ist das momentan nicht möglich. Und natürlich haben wir kein Geld, um neue Bücher drucken zu lassen."

Die niedrigen Gehälter der Lehrer werden zumeist von internationalen und privaten Vereinigungen finanziert. Die Stadtverwaltung verfüge nicht über solche Mittel, erklärt Al-Qudsi. Aus öffentlichen Kassen habe ein Lehrer nur umgerechnet 70 Dollar im gesamten Schuljahr erhalten. "Sie haben sich dennoch darüber gefreut, weil sie die Gelder als Zeichen unserer Anerkennung werten."


Alle sitzen in Aleppo im gleichen Boot

Selbst Eltern, die fundamentalistische Muslime seien, mischten sich nicht in die Unterrichtsgestaltung ein, sagt er. "Wir sitzen alle in einem Boot. Ihre Kinder gehen auch in unsere Schulen."

Die Angriffe mit Fassbomben wurden im Herbst tagelang unterbrochen, nachdem Rebellen eine Rüstungsfabrik des Regimes in Aleppo eingekreist hatten. Seit das Militär wieder an Boden gewonnen hat, gehen die Bombardements weiter. Der Unterricht lenkt die Kinder immerhin zeitweise vom Grauen des Bürgerkriegsalltags ab. Wie Al-Qudsi erklärt, bieten die Schulen die einzige Chance für eine Zukunft in Syrien.

Derweil bemühen sich die UN um eine Feuerpause in der Stadt. Die EU hat ihre Unterstützung zugesagt. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:
http://www.ipsnews.net/2014/11/children-in-aleppo-forced-underground-to-go-to-school/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 18. Dezember 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2014